Luis Ruby: der Minimalist

Ein neuer Erzählband zeigt die brasilianische Schriftstellerin Clarice Lispector in ihrer ganzen Größe. Auch die deutsche Übersetzung von Luis Ruby beeindruckt mit Eleganz und Intensität. Von

Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2020: Luis Ruby für „Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau“. Bild: Ebba D. Drolshagen
Am 12. März wer­den die Prei­se der Leip­zi­ger Buch­mes­se ver­ge­ben, unter ande­rem in der Kate­go­rie Über­set­zung. Auf TraLaLit stel­len wir die fünf Nomi­nier­ten vor. Alle Fol­gen der Rei­he sind hier zu finden.

Das Buch

Cla­ri­ce Lis­pec­tor ist ein Mythos. Um sie und ihr lite­ra­ri­sches Werk zu beschrei­ben, gerät selbst die Lite­ra­tur­kri­tik hin und wie­der ins Stam­meln. Die in Bra­si­li­en auf­ge­wach­se­ne Autorin gilt als „geheim­nis­voll“, „gla­mou­rös“, „tra­gisch“, ihre Geschich­ten als „rät­sel­haft“. Lis­pec­tor, eine Meis­te­rin der Selbst­ins­zi­nie­rung, ent­zieht sich jeder vor­schnel­len Kate­go­ri­sie­rung, jeder Ver­such der Annä­he­rung an ihr Schaf­fen scheint zum Schei­tern ver­ur­teilt. Ein­zel­ne Geschich­ten sei­en ihr „selbst ein Rät­sel“, schreibt sie in Ganz hin­ten in der Schub­la­de, und so bei­läu­fig geschrie­ben, „wie man ein Woll­knäu­el aus­rollt“. Schon vor ihrem Tod im Jahr 1977 war Lis­pec­tor eine Berühmt­heit; heut­zu­ta­ge sind ihre Bücher immer noch Kult und ihre treu erge­be­ne Anhän­ger­schaft auch außer­halb Latein­ame­ri­kas ste­tig wachsend.

Im ver­gan­ge­nen Jahr ist der ers­te von zwei Bän­den erschie­nen, die alle Erzäh­lun­gen Lis­pec­tors auf Deutsch sam­meln. Der aus vier Tei­len bestehen­de Band lässt durch sei­nen chro­no­lo­gi­schen Auf­bau die lite­ra­ri­sche Ent­wick­lung der Autorin, die ihren ers­ten Roman blut­jung ver­öf­fent­lich­te, nach­ver­fol­gen. Vor allem ihre spä­te­ren unter dem Titel Fremd­le­gio­nen erschie­nen Kurz­ge­schich­ten geben Ein­bli­cke in den sagen­um­wo­be­nen, rät­sel­haf­ten und phi­lo­so­phisch ange­hauch­ten Schreib­stil der Autorin. Eini­ge ihrer ganz frü­hen, „ers­ten Geschich­ten“ sind über­lang und las­sen die schar­fe Prä­zi­si­on ver­mis­sen, die Lis­pec­tors Werk aus­macht. Doch sie zei­gen bereits deut­lich die aufs Detail fokus­sier­te Beob­ach­tungs­ga­be der Autorin und die rei­chen Innen­le­ben ihrer Figu­ren, vor allem der Frauenfiguren.

In Lis­pec­tors Kur­ge­schich­ten gibt es zwar eine gan­ze Band­brei­te an Cha­rak­te­ren (von einer Hen­ne bis zum Mathe­ma­tik­leh­rer), es sind aber vor allem ihre schil­lern­den Frau­en, die in die­sem Band am nuan­cier­tes­ten gezeich­net sind. Vie­le ihrer weib­li­chen Figu­ren sind unsym­pa­thisch – oft  unzu­frie­den und unste­tig, dann wie­der­um apa­thisch und über­ra­schend aggres­siv; die Frau­en bezeich­nen sich selbst mit­un­ter als „Dämo­nen“ und „Hexen“. In der Geschich­te Eine auf­rich­ti­ge Freund­schaft stößt eine Frau ihrer bes­ten Freun­din eine Gabel in den Hals; in der Erzäh­lung Tri­umph beob­ach­tet eine Geburts­tag fei­ern­de Matri­ar­chin ihre Gäs­te mit unver­hoh­le­ner Ver­ach­tung: „Sie sahen aus wie Rat­ten, die sich gegen­sei­tig anrem­pel­ten, ihre Familie.“

In Lis­pec­tors Kurz­ge­schich­ten folgt ein böses Erwa­chen, sobald ihre Frau­en begin­nen, aus den patri­ar­cha­len Struk­tu­ren aus­zu­bre­chen und zu reflek­tie­ren, ja zu den­ken: „[Indem] sie hin­sah, ris­kier­te sie einen Augen­blick lang, zu einer Per­son zu wer­den.“ Lis­pec­tors Frau­en, ob jung oder alt, befin­den sich im Pro­zess der Sub­jekt­wer­dung. Vie­le von ihnen schei­tern, weil es für ihre Ambi­tio­nen und Lebens­ent­wür­fe in der Gesell­schaft kei­nen Platz gibt, und zie­hen sich in häus­li­che Gefäng­nis­se zurück. Für ihre Autorin hin­ge­gen beginnt erst mit dem eige­nen Den­ken das wah­re „Leben“. Das war schon vor sieb­zig Jah­ren radi­kal – und ist es noch heute.

Die Jury­be­grün­dung

Luis Rubys Über­set­zung der Erzäh­lun­gen Cla­ri­ce Lis­pec­tors liest sich so schnör­kel­los und unmit­tel­bar wie das Ori­gi­nal, bewahrt aber auch den Schmelz der wie hin­ge­hauch­ten Passagen.

Die Über­set­zung

Cla­ri­ce Lis­pec­tor ist nicht nur ein Mythos, son­dern auch eine anspruchs­vol­le Autorin. Der Erzähl­band zeigt ihre Expe­ri­men­tier­freu­dig­keit, sowohl in Hin­sicht auf den Inhalt als auch auf den Stil – Lis­pec­tor über­schrei­tet Gen­re­gren­zen und wählt die unter­schied­lichs­ten Erzähl­per­spek­ti­ven. Ihr Über­set­zer Luis Ruby, der bereits eini­ge Roma­ne Lis­pec­tors über­setzt hat, darf sich in die­sem über 400-Sei­ten lan­gen Erzähl­band also aus­to­ben. Eini­ge der Kurz­ge­schich­ten wur­den von ihm erst­ma­lig ins Deut­sche über­tra­gen, ande­re neu übersetzt.

Wer sich noch der Illu­si­on hin­gibt, dass nur sei­ten­lan­ge Schach­tel­sät­ze gro­ße Lite­ra­tur sind, der wird hier eines Bes­se­ren belehrt. Lis­pec­tor ist näm­lich zumeist dann am bes­ten, wenn sie spar­sam und öko­no­misch mit Spra­che arbei­tet. Dies wie­der­um ver­langt von ihrem Über­set­zer Prä­gnanz und Sorg­falt, um den beson­dern Ton ihrer Erzäh­lun­gen auch im Deut­schen ein­zu­fan­gen. Ein schö­nes Bei­spiel dafür ist die Erzäh­lung Die Hen­ne und das Ei, die auch Lis­pec­tor-Neu­lin­gen zeigt, war­um die Autorin einen so mys­te­riö­sen Ruf hat:

Das Ei ist die See­le der Hen­ne. Die Hen­ne unbe­hol­fen. Das Ei selbst­si­cher. Die Hen­ne erschro­cken. Das Ei selbst­si­cher. Wie ein Geschoss im Ruhe­zu­stand. Denn ein Ei ist ein Ei im Raum.

Ihre ori­gi­nells­ten Gedan­ken sind in Sät­zen ver­packt, die vor allem von ihrer Kür­ze leben. Erst die Fusi­on der schlich­ten Struk­tur und gedank­li­chen Tie­fe zeigt die Eigen­tüm­lich­keit ihres Schreib­stils. Im Ide­al­fall ent­ste­hen dabei Sen­ten­zen wie „Brot ist Lie­be unter Frem­den“, die dank der Genau­ig­keit und des Ideen­reich­tums des Über­set­zers auch im Deut­schen weder über­frach­tet wir­ken noch an Ein­präg­sam­keit ver­lie­ren. Wann immer Lis­pec­tor zudem auf einen raschen Wech­sel von lan­gen und kur­zen Sät­zen zurück­greift, errei­chen ihre bis­wei­len minu­tiö­sen Beschrei­bun­gen ihren Höhe­punkt. Rubys siche­res Rhyth­mus­ge­fühl sorgt dafür, dass sol­che Pas­sa­gen nichts an Dring­lich­keit und Span­nung einbüßen.

Lis­pec­tor hat zudem ein Fai­ble für unge­wöhn­li­che Bil­der und Ver­glei­che, die in der Über­set­zung meist wun­der­bar funk­tio­nie­ren. Sie zei­gen die Sinn­lich­keit und auch die Iro­nie in Lis­pec­tors Schrei­ben, ange­fan­gen bei poe­ti­schen Beob­ach­tun­gen wie „[a]llmählich dringt der Tag in ihren Kör­per ein“ bis hin zu komisch anmu­ten­den Kom­men­ta­ren: „[s]eine gewal­ti­ge Kraft schüt­telt sich in ihrem Gefäng­nis“. Durch den puris­ti­schen Stil ihres Über­set­zers wir­ken sol­che Spie­le­rei­en auch auf Deutsch weder plump noch kitschig.

In Rubys ele­gan­ter Über­set­zung bie­ten Lis­pec­tors Kurz­ge­schich­ten eine inten­si­ve Lese­er­fah­rung und zei­gen die Raf­fi­nes­se der Autorin. Geprägt von sti­lis­ti­scher Exakt­heit und Direkt­heit ent­steht in deut­scher Spra­che jene beson­de­re Atmo­sphä­re, die Lis­pec­tors Schrei­ben aus­macht und noch lan­ge nach­wirkt. Kein Wort ist zu viel, kei­nes fehl am Platz. Von Lis­pec­tor und ihrem Über­set­zer ler­nen wir: Weni­ger ist manch­mal mehr.

Lieb­lings­satz

Die Wor­te sind mir vor­aus und las­sen mich hin­ter sich, sie füh­ren mich in Ver­su­chung und ändern mich, und wenn ich nicht auf­pas­se, ist es schnell zu spät.

Zwei Fra­gen an den Nominierten

Was macht das Buch aus?
Luis Ruby: Mich beein­druckt und berei­chert bei der Lek­tü­re von Cla­ri­ce Lis­pec­tor ihre bedin­gungs­lo­se Wahr­neh­mung. Dar­aus ent­ste­hen, den­ke ich, die aus­ge­spro­chen ori­gi­nel­le und inten­si­ve Spra­che und die inten­si­ven Rea­li­täts­er­fah­run­gen, die einem ihre Tex­te ver­mit­teln kön­nen, zwi­schen Ernst, Komik und Fremdheit.

Wie weit ihre Erzäh­lun­gen Sub­jek­ti­vi­tät auf­fä­chern, sich dar­in auch die indi­vi­du­el­le Erfah­rung ver­äs­telt; wie naht­los die Über­gän­ge zwi­schen Frei­heit und Schei­tern sind, zwi­schen Ein­ver­neh­men und Aus­ein­an­der­drif­ten von Selbst und Welt; und wie viel Wahr­heit doch auch im Inkon­gru­en­ten liegt, in dem, was sich nicht zusam­men­fügt oder aus­ein­an­der – das hal­te ich für zutiefst mensch­lich. (Sicher­lich ist es kein Zufall, dass die Mit­tel, mit denen es dar­ge­stellt wird, die der lite­ra­ri­schen Moder­ne sind.)

Kon­kret kön­nen das ande­re viel bes­ser dar­stel­len, zum Bei­spiel Vojin Saša Vuka­di­no­vić:

Es geht unter ande­rem um einen Fie­ber­traum, ant­ago­nis­ti­sche Betrun­ke­ne, einen phi­lo­so­phi­schen Brief­wech­sel, die Effek­te der Hegel-Lek­tü­re auf eine Bezie­hung, eine Metall­schnur für die Ewig­keit, die Begeg­nung zwi­schen einem rot­haa­ri­gen Mäd­chen und einem rot­haa­ri­gen Dackel – alles dar­ge­bo­ten im unnach­ahm­li­chen Stil Lis­pec­tors, in dem das Empa­thi­sche, das Skur­ri­le und das Unbe­greif­li­che zusam­men­fal­len und das Leben dort her­vor­tre­ten las­sen, wo es am wenigs­ten ver­mu­tet wird. Die Tex­te sind bis­wei­len weit­aus zugäng­li­cher, als es die Roma­ne der Autorin sind, und eig­nen sich somit als Ein­stieg in das Gesamtwerk.

oder Tho­mas Palzer:

Lis­pec­tor erzählt in die­sen Geschich­ten vom All­tag, bei­spiels­wei­se davon, wie eine Frau im Café sitzt und auf eine Ver­ab­re­dung war­tet; oder von einer ande­ren, die mit unkla­ren Absich­ten durch den Zoo streift; sie erzählt von einer wei­te­ren, die beschlos­sen hat, die Flucht aus einer fad gewor­de­nen Ehe anzu­tre­ten und fort­zu­ge­hen. Der Ton ist frisch und unge­wöhn­lich. Ohne kom­pli­ziert zu klin­gen, schafft sie es, die äußers­te Kom­ple­xi­tät inne­rer Kon­flik­te in schein­bar ein­fa­che Sät­ze zu kleiden.

Was haben Sie beim Über­set­zen gelernt?
Viel über den Reich­tum von Prä­zi­si­on und (prä­zi­ser) Unbe­stimmt­heit. Das heißt: immer noch genau­er lesen, durch den her­me­neu­ti­schen Zir­kel tan­zen oder fast anhal­ten, in Zeit­lu­pe; Nuan­cen ber­gen im Ver­ständ­nis und in der Suche nach For­mu­lie­run­gen, die sie auch im Deut­schen ver­mit­teln. Mög­lichst ohne der Inter­pre­ta­ti­on vor­zu­grei­fen, was ich bei die­sen sehr offe­nen Tex­ten enorm wich­tig finde.

Nicht vor­schnell zu einem (ver­meint­li­chen) Ver­ständ­nis sprin­gen, son­dern Irri­tie­ren­des ertra­gen, es wei­ter befra­gen, es wir­ken las­sen. Und dann an Irri­ta­ti­on aus­räu­men, was sich einem kla­re­ren Ver­ständ­nis erschließt, und im Ori­gi­nal ange­leg­te Irri­ta­tio­nen her­aus­ar­bei­ten, so dass sie ohne zusätz­li­che Stö­run­gen wir­ken kön­nen. (Viel, viel Arbeit an der Syn­tax, an Klang und Rhyth­mus; bis zum Schluss die Suche nach unkom­pli­zier­ten, am bes­ten kur­zen Wör­tern für alles, was kei­ne Auf­merk­sam­keit auf sich zieht, was nicht auf­hal­ten soll, da doch ande­res Auf­merk­sam­keit und Ver­wei­len braucht und verdient …)

Ich habe mal wie­der mit Freu­de gelernt, wie wert­voll der Aus­tausch mit den ande­ren Betei­lig­ten ist: im kol­le­gia­len Rah­men von Über­setz­er­work­shops; mit den Redak­teu­rin­nen Corin­na San­ta Cruz und Maria Hum­mitzsch sowie der Lek­to­rin Ange­li­ka Schedel.

Anm. d. Red.: Die­ser Bei­trag wur­de ohne Kennt­nis der Ori­gi­nal­spra­che ver­fasst. Mehr zum The­ma hier.

Cla­ri­ce Lispector/Luis Ruby: Tag­traum und Trun­ken­heit einer jun­gen Frau. Sämt­li­che Erzäh­lun­gen I (im por­tu­gie­si­schen Ori­gi­nal: Todos os con­tos)

Pen­gu­in Ver­lag 2019 ⋅ 416 Sei­ten ⋅ 24 Euro

www.randomhouse.de/Buch/Tagtraum-und-Trunkenheit-einer-jungen-Frau/Clarice-Lispector/Penguin/e544568.rhd

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