Wertschätzung für die eigene Arbeit zu erfahren, also eigene Leistungen namentlich zugerechnet zu bekommen, ist in den meisten Berufen selbstverständlich. Wer sich im Restaurant für das gute Essen bedanken möchte, richtet diese Nachricht üblicherweise an die Köchin oder den Koch, wem ein schönes Kleid auf den Leib geschneidert wurde, wird sich bei der Schneiderin oder dem Schneider bedanken wollen, usw. So weit, so selbstverständlich.
Für Literaturübersetzerinnen und Literaturübersetzer ist diese Selbstverständlichkeit allerdings eine hart erkämpfte Errungenschaft. Lange Zeit wurden noch nicht einmal im Buch selbst die Namen derer genannt, denen das Publikum es verdankte. Und auch wenn diese Zeiten glücklicherweise vorbei sind, ist die Klage über das Schattendasein, das Übersetzerinnen und Übersetzer insbesondere im Rezensionsfeuilleton fristen, lange nicht vestummt.
Wir wollten diese Klage im Vorfeld der Gründung von TraLaLit überprüfen. Ausgehend von der Frage, ob Übersetzerinnen und Übersetzer so schlecht behandelt werden, wie sie manchmal selber behaupten, bzw. der (neutraleren) Frage, wie sie überhaupt behandelt werden, haben wir im April und Mai 2018 Tag für Tag Zeitung gelesen und Strichliste geführt. Das Ergebnis, kurz gesagt, lautet: Die düsteren Zeiten sind vorbei, aber der Weg zum Licht ist noch lang. Einige haben ihn bereits eingeschlagen, und es wäre zu wünschen, dass ihnen noch viele folgen.
1. Die Datengrundlage
Um die wichtigsten Medien und auch verschiedene Verbreitungswege (Print, Online, Radio) in unsere Quellenauswahl einzubeziehen, haben wir uns bei der Lektüre auf folgende Medien konzentriert:
- Frankfurter Allgemeine Zeitung
- Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
- Süddeutsche Zeitung
- Die Zeit
- Deutschlandfunk – Büchermarkt (online)
- Deutschlandfunk – Lesart (online)
- Deutschlandfunk – Buchkritik (online)
- www.literaturkritik.de
- sowie einige weitere Medien, die nicht lückenlos abgedeckt werden konnten
Insgesamt ist so im Analysezeitraum vom 1. April bis zum 31. Mai 2018 ein Korpus von 587 Rezensionen zusammengekommen. 323 davon, also etwas mehr als die Hälfte, bezogen sich auf deutsche Titel, 264 auf übersetzte. Die Übersetzungsrezensionen haben wir bei der Analyse in eine der folgenden drei Kategorien eingeteilt:
- Keine Übersetzernennung (im Folgenden als ÜN abgekürzt)
- Einfache ÜN (nur im Infoblock zum Buch unterhalb des Artikels)
- Qualifizierte ÜN (namentliche oder nicht namentliche Würdigung der Übersetzung im Text)
Die einfache ÜN ist das absolute Minimum, das Übersetzerinnen und Übersetzern zusteht. Mehr wird selbst vom Branchenverband VdÜ in seiner „Handreichung für Zeitungen und Zeitschriften“ nicht gefordert.
Unsere Kategorie „qualifizierte ÜN“ geht über dieses Minimum hinaus, wenn auch die Anforderungen denkbar simpel gehalten waren: Es genügte die Erwähnung der Übersetzung als solcher, mindestens mit einem Adjektiv. Mit diesem Schema ergibt sich in der Gesamtschau folgendes Bild:
2. Quantitative Auswertung
Von 264 ausgewerteten Übersetzungsrezensionen versündigen sich also nur 17 (6,5%) mit einer Nichtnennung an der Übersetzerzunft. 244 (d.h. 93, 5%) nennen Übersetzerinnen und Übersetzer, etwas über 20% reflektiert deren Rolle sogar im Text. Schlüsselt man diese Zahlen nach ausgewerteten Medien auf, so ergibt sich folgendes Bild für die qualifizierten ÜN:
Wer also kluge Kommentare zu Übersetzungen lesen oder hören möchte, der abonniere lieber die FAZ, höre Deutschlandfunk oder lese bei www.literaturkritik.de nach. Ein FAS- oder ZEIT-Abo ist in dieser Hinsicht zum Fenster hinausgeschmissenes Geld. Warum ausgerechnet die zwei Wochenzeitungen in unserem Korpus am Ende des Rankings landen, ist aus unseren Daten nicht abzuleiten.
Zur Verwirrung um die Wochenzeitungen trägt auch die folgende Grafik bei, die die „Sündenfälle“ der Redaktionen auflistet, also jene Rezensionen, in denen die Übersetzerin oder der Übersetzer nicht einmal bei den bibliographischen Angaben unter dem Text genannt werden. Das machen FAS und ZEIT nämlich vorbildlich:
Die dritte Kategorie, nach der wir die ausgewerteten Rezensionen aufgeschlüsselt haben, betrifft das Genre der rezensierten Bücher. Hier variiert der Anteil der qualifizierten ÜN sehr stark:
Dass Lyrikübersetzungen eher besprochen werden als Prosatexte, überrascht wohl wenige, eher wundert man sich über die 50%, die kein Sterbenswörtchen darüber verlieren, dass die vorliegenden Gedichte aus einer anderen Sprache übersetzt worden sind.
Woran sich Literaturkritikerinnen und ‑kritiker bei Erwachsenenbüchern noch hin und wieder erinnern, das vergessen sie offenbar bei Kinderbüchern voll und ganz. Und das trotz der ganz besonderen Schwierigkeit, der Kinderbuchübersetzerinnen und ‑übersetzer beim Finden der angemessenen, altersgerechten Tonlage gegenüberstehen.
Die Rezensentin Heike Nieder bringt es in ihrer Besprechung eines aus dem Englischen übersetzten Kinderbuchs (SZ, 11.5.) gar fertig, harsche Stilkritik zu üben, ohne diese auch nur mit einer Silbe einer (möglicherweise) fehlerhaften Übersetzung zuzurechnen:
„Stilistisch hakt es an manchen Stellen etwas. Die Verbformen sind nicht immer korrekt, auch Wortwahl und Satzstellung lassen hin und wieder stutzen (statt Räume ‚Räumlichkeiten‘, oder ‚andere Schlüssel nachmachen lassen hast‘).“
3. Qualitative Auswertung
Dieses Zitat ist beileibe kein Einzelfall. In den 204 Rezensionen übersetzter Werke, die keine qualifizierte ÜN vornehmen, also die Rolle der Übersetzung nicht reflektieren, finden sich mit größter Selbstverständlichkeit Reflexionen über die Sprache des Originals.
So wird beispielsweise im Deutschlandfunk am 18.04. gelobt, es entstehe „ein ganz eigener Sound, poetisch schön, dem man sich kaum entziehen kann“. Oder es wird auf www.literaturkritik.de, um ein zweites willkürliches Beispiel zu nennen, lobend angemerkt, dem Autor sei
ein melancholisch grundiertes Meisterwerk gelungen, das sprachlich äußerst fein gearbeitet ist, nahezu keine erkennbaren Makel aufweist, einen dezent eingesetzten lyrischen Ton anschlägt, dabei aber nie artifiziell wird.
Solche Lobeshymnen auf die Sprache eines ins Deutsche übersetzten Buches ohne Reflexion der Übersetzung wirken bei genauerem Nachdenken geradezu albern, sind aber keinesfalls vereinzelte Ausnahmen.
Beschäftigen wir uns jedoch lieber mit den Glanzlichtern. Hier fällt auf, dass die Intensität, mit der Übersetzerthemen bearbeitet werden, auch innerhalb desselben Mediums von Ausgabe zu Ausgabe stark schwankt. Die SZ beispielsweise bringt es fertig, am 6.4. eine Krimibeilage ohne eine einzige ÜN zu drucken und dem am 7.4. auf einer Seite gleich drei mustergültige, hochspannende Übersetzungsrezensionen folgen zu lassen.
Da solche Schwankungen die Regel sind, empfiehlt es sich, nach herausragenden Rezensentinnen und Rezensenten zu suchen. Als Positivbeispiele seien an dieser Stelle exemplarisch erwähnt: Tobias Lehmkuhl (SZ), Anja Hirsch (FAZ) und Nico Bleutge (DLF, SZ).
In ihren Glanzstunden bringen die Genannten und viele weitere übersetzungskritische Musterbeispiele zu Papier; zumindest aber berücksichtigen sie jedes Mal konsequent die Tatsache, dass übersetzte Werke eben mindestens zwei Autorinnen haben. Die Übersetzernennung ist bei ihnen keine leidige Pflicht, sondern von Anfang an Bestandteil ihrer kritischen Würdigung eines Textes.
Sie stellen dabei auch unter Beweis, dass die Kenntnis des Originaltextes für eine Übersetzungsrezension zwar hilfreich, aber keinesfalls notwendig ist. In den Mittelpunkt rücken sie – ganz ohne kleinliche Bedeutungsklauberei – die Leistung der Übersetzerinnen und Übersetzer als Urheber des deutschen Textes. Auf diese Weise erzählen sie mit größter Selbstverständlichkeit vom Übersetzen als Kunstform, die immer zwischen deutschsprachigem Publikum und fremdsprachigen Texten vermittelt.
Ein weiterer Mythos lässt sich mit unserem Datensatz übrigens auch aus der Welt schaffen: Das Vorurteil, Übersetzerinnen und Übersetzer kämen nur dann in den Zeitungen vor, wenn sie irgendeinen Fehler gemacht hätten. Unsere Auswertung belegt eindeutig, dass dieses Urteil nur auf selektiver Wahrnehmung beruhen kann: 49 von 60 Kritiken, die die Übersetzung im Text erwähnen, äußern sich positiv über die übersetzerische Leistung, also mehr als 80%.
Zwei Hinweise scheinen zu diesem Schaubild allerdings angebracht. Erstens beziehen sich gerade negative Urteile häufig auf Aspekte, die zumindest ebenso dem Lektorat wie der Übersetzerin oder dem Übersetzer anzulasten wären. Und zweitens erfüllen viele der hier ausgewerteten „qualifizierten ÜN“ gerade einmal das Mindestkriterium für die Einordnung in diese Kategorie, sprich: ein Adjektiv. Dass das nicht der erstrebenswerte Endzustand ernstzunehmender Übersetzungskritik sein kann, liegt auf der Hand.
Dass Übersetzungen trotz des überwältigenden positiven Echos, das sie erfahren, vielleicht dennoch nicht den allerbesten Ruf unter Literaturkritikern haben, darauf deutet der außergewöhnlichste Fund in unserem Korpus hin: Gleich zwei Rezensionen von Frank Schätzings neuem Roman Die Tyrannei des Schmetterlings werfen ihm vor, sich „wie eine schlechte Übersetzung“ zu lesen (Jan Wiele am 25.04. in der FAZ und Sieglinde Geisel beim Online-Magazin Tell). Es sei hier nur als beunruhigendes Kuriosum erwähnt, mit welcher Selbstverständlichkeit Übersetzerinnen und Übersetzer als mahnende Beispiele für stilistisch taumelnde Autoren herhalten müssen.
4. Fazit
Unsere Datenauswertung zeigt, dass die Übersetzungskritik in deutschsprachigen Medien durchaus besser ist als ihr (bei manchen) unterirdisches Image. Es gibt leuchtende Vorbilder, die es schaffen, vom Übersetzen zu sprechen, ohne mit endlosen Beispielen zu langweilen oder sich in philologischen Haarspaltereien zu verlieren. Meistens sprechen diese Kritikerinnen und Kritiker auch – entgegen einem gern gehegten Vorurteil – positiv oder sogar enthusiastisch von Übersetzerinnen und Übersetzern.
Die Strahlkraft dieser Vorbilder auf Kollegen oder bestimmte Medien ist allerdings sehr begrenzt. Im Mainstream der Literaturkritik ist das Thema Übersetzen noch nicht angelangt. (Man muss auch davon ausgehen, dass unsere Auswahl von Qualitätsmedien das Bild eher noch zugunsten der Übersetzer verfälscht.) Und die „Sündenfall-Quote“, also der Anteil der Übersetzungsrezensionen, die Übersetzerinnen und Übersetzer gänzlich vergessen, ist bei manchen der ausgewerteten Medien noch viel zu hoch.
Diese Quote überall auf 0% zu bringen, wäre ein erstes, leicht zu erreichendes Ziel für jede Kulturredaktion. In einem zweiten Schritt könnte man dann daran arbeiten, das Thema Übersetzungen in jede Auseinandersetzung mit übersetzten Werken einfließen zu lassen und so nach und nach Übersetzern jene Anerkennung zuzubilligen, die ihnen immer noch zu oft verweigert wird.