Liebe Sieglinde,
es muss unheimlich gewesen sein, als Nicht-Übersetzerin in Wolfenbüttel einem Raum voller Übersetzer gegenüberzutreten, ich stelle es mir in etwa so unheimlich vor wie als Nicht-Kritiker in einen Raum voller Kritikerinnen zu treten und zu wissen, dass keines meiner Worte unbeobachtet bleiben kann von all denen, die mir schweigend zuhören, obwohl sie mehr wissen als ich.
An jenem Freitag im Juni standest Du vorne, und ich war Teil jener unheimlichen Rotte. Kein Übersetzer zwar (anders als „Journalist“ oder „Kritiker“ ist dies, finde ich, kein ganz freier Begriff, tragen sollte ihn nur, wer auch etwas vorzuweisen hat), aber auch kein Nicht-Übersetzer, kein Kritiker, aber auch kein Nicht-Kritiker.
Als Zwitterzuhörer hing ich also an Deinen Lippen und folgte mal kritikerisch fasziniert, mal übersetzerisch schüchtern Deinen Gedanken, vollzog nach, wie Du uns Beispiel um Beispiel Dein übersetzungskritisches Credo entfaltetest und gab mich der Begeisterung hin, die sich nach und nach in mir ausbreitete. Offenbar gab es außerhalb unseres frohgemut begonnenen, aber auch völlig größenwahnsinnigen Projektes TraLaLit noch andere, die sich nicht nur für das Schreiben, sondern auch für das Lesen von Übersetzungen interessierten.
So begeistert war ich an jenem Nachmittag in Wolfenbüttel, dass ich Deine Rede zunächst für ein übersetzungskritisches Manifest hielt, eine fast politische Rede, eine Kampfansage an das ignorante Feuilleton, das unseren kleinen Vortragssaal umstellt hatte. „Übersetzen heißt antworten“, „Übersetzer und Autor sind Partner“, „Übersetzer haben Macht“ – mein taumelnder Geist fügte jedem dieser Verdikte ein Ausrufezeichen hinzu und spiegelte mir vor, von diesen Sätzen, dieser Rede und Dir könnte so etwas wie revolutionäre Stimmung ausgehen.
Die Ernüchterung kam erst eine Woche später beim Lesen des Redetextes. Erst jetzt bemerkte ich Dein Zögern, Deine offenen Fragen. Die revolutionäre Stimmung war verflogen, ich fühlte mich sokratisiert, jetzt war mir eher nach Gesprächskreis zumute. Deine Beispiele, die mir als Paradigmata in Erinnerung geblieben waren, als stolze Standarten unseres noch zu gründenden Bataillons, hatten uns ja in Wahrheit in die unsicheren Landschaften Deiner Zweifel führen sollen, auf dass wir selbst nachzudenken begännen.
Bei der zweiten Lektüre erwachte mein Widerstandsgeist. Nicht pathetisch und revolutionär wie im ersten Moment, auch nicht leise, weise zweifelnd wie im zweiten, sondern dunkel und widersprüchlich erschien mir Deine Argumentation mit einem Mal. Die Richtschnur Deiner Gedanken, so merkte ich, führte mich keineswegs ins gelobte Land der Übersetzungskritik. Wohin sie mich führte, will ich Dir beschreiben.
Zu Beginn Deiner Rede stelltest Du mehrere Möglichkeiten der Bibelübersetzung sowie vier Dostojewski-Übersetzungen nebeneinander, leider ohne Nennung der deutschen Übersetzer(innen). Du kamst zu dem Schluss, dass Übersetzen immer Interpretieren sei und daher „unheimlich“.
Schon an dieser Stelle, die mich damals noch in Entzückung versetzte, stutze ich jetzt und frage mich: Was ist so unheimlich am Interpretieren? Interpretierst nicht auch Du beim Lesen, ist nicht das Interpretieren überhaupt der einzige Zugang, den wir zu einem Text haben?
Aber hier sind wir ja schon auf dem Terrain der Übersetzungskritik, Deinem nächsten Thema. Hier entwarfst du drei Grundsätze, die Du allerdings sofort leicht herablassend als insulären „Idealfall“, ja als „Ausnahme“ hinstelltest, jenseits derer Du aber nur ein weites Meer der Unsicherheit und der offenen Fragen sahst. Mein Unbehagen gilt beiden: Inseln und Meer.
Zunächst zu ersteren. Die drei Voraussetzungen für das, was Du unter „Übersetzungskritik“ verstehst, nämlich (1.) Kenntnis der Originalsprache, (2.) Kenntnis des Originaltextes, (3.) vergleichende „Überprüfung“, führen im Ergebnis zu dem, was Du uns Zuhörern in der Folge anhand von zwei Beispielen vor Augen führtest. Ich will diese Übersetzungskritik hier kurz und zugegebenermaßen despektierlich „Maßbandkritik“ nennen.
Wer (wie Du in den von dir präsentierten Beispielen) nach dieser Maßgabe an einen Text herangeht, ermittelt zunächst aus dem Original ein Messsystem, das es ermöglicht, den übersetzten Text geodätisch zu analysieren. Hier, so sagt man dann, bleibt er „hinter dem Original zurück“, hier hat er ihm „etwas voraus“, womöglich steht etwas über, man vermisst zentimetergenau alle Abweichungen und Differenzen.
Ein solches metrisches Vorgehen widerspricht nur leider Deiner Ausgangsthese, dass Übersetzen ein Interpretieren sei. Denn wer interpretiert, muss ja – sonst bedürfte es seiner Dienste nicht – von vornherein anerkennen, dass es auch andere valide Interpretationen geben kann. Um im Bild zu bleiben: Wer ein Gelände neu vermisst, der tut es, um vorherige Messungen zu korrigieren. Wer aber neu übersetzt, will es zwar womöglich auch besser (was auch immer das dann heißt), in erster Linie aber doch anders machen als die, die es zuvor versucht haben.
Die „Maßbandkritik“ macht aber noch einen folgenreicheren Fehler. Denn sie ist bei aller angemaßter Objektivität blind für die eigene Interpretationsgeladenheit. Übersetzen, so viel wird jeder unterschreiben, der es einmal selbst probiert hat, bedeutet ja immer, zwischen verschiedenen konfligierenden Interpretationsmöglichkeiten abzuwägen. Wer aber die eigene Interpretation zum Maßstab fremder Arbeit macht, reduziert die potenziell unzählbaren Dimensionen eines Textes auf das eindimensionale Kontinuum „falsch–schlecht–gut–, könnte auch als Original durchgehen‘“.
Gerade die potenzielle Unendlichkeit der Interpretationen ist es doch aber, für die uns und alle Lesenden das Übersetzen sensibilisieren müsste und sollte. Wenn man dies als Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit übersetzter Literatur nimmt, ist es wenig sinnvoll, nach entweder „guten“ oder „schlechten“ Lösungen Ausschau zu halten.
Vielmehr wird es dann geboten sein, sich beim Lesen auf die Suche nach dem interpretatorischen Winkel zu begeben, den die Übersetzerin an den Text angelegt hat, und von diesem Winkel aus die Übersetzung (aus eigenem Recht!) zu kritisieren. Es stünde dann also nicht die Frage im Vordergrund, ob der deutsche Text dem Originaltext mehr oder weniger entspricht, sondern vielmehr, inwiefern er die selbstauferlegten Interpretationsrichtlinien, die sich aus der Beschäftigung mit dem Originaltext ergeben haben, im Deutschen umzusetzen vermag.
In dieser Perspektive wäre an einen Übersetzer wie Marcus Ingendaay nicht die Frage zu stellen, ob er das Original „verfälscht“ habe oder nicht, sondern vielmehr müsste man sich fragen, ob er eine schlüssige Interpretation des Originals vorzustellen und vor allem mit den Mitteln der eigenen Sprache wiederzugeben imstande ist.
Das Famose an diesem Verfahren ist, dass sich das (vielleicht leider nicht zugängliche, oder vielleicht leider in einer unverständlichen Sprache verfasste) Original aus unserer übersetzungskritischen Gleichung fast gänzlich herausgekürzt hat. Nur noch für die – letztendlich sekundäre – Frage, für wie schlüssig man die ursprüngliche, sich in der Übersetzung äußernde Interpretation hält, kann man es im günstigen Fall zurate ziehen.
Wir hätten uns damit also nicht nur der privilegierten Inseln, sondern zugleich auch noch jenes weiten Meeres angenommen, in dem hilflos all die Literaturkritiker schwimmen, die nicht wissen, wie Übersetzungen aus ihnen fremden Sprachen beizukommen ist und die deshalb vor der angeblich untrennbaren Einheit von Schriftsteller- und Übersetzerleistung kapituliert haben.
Wer Übersetzungen liest, hat die einmalige Chance, anderen beim Lesen zuzuschauen, zuzuhören, ja: zuzulesen. Noch dazu anderen, die mit Sicherheit viel genauer gelesen haben als man selbst. Nicht nur der Übersetzer ist der „Dritte im Bett“, auch man selbst beobachtet in obszönster Weise das Zwiegespräch zwischen zweien, die miteinander Intimes aushandeln. (Und wenn man bedenkt, dass die Autorin oder der Autor uns beim Lesen ihrer Übersetzer wissend, aber sprachlos über die Schulter schauen, wird endgültig fraglich, wer bei dieser Ménage-à-trois eigentlich der Störenfried ist.)
Feiern wir also doch die Interpretationen, anstatt uns vor ihnen zu fürchten! Schließen wir uns nicht jenen drögen Landvermessern der Literatur an, die überall noch mehr Zollstöcke auslegen wollen, sondern falten wir diese Zollstöcke in alle Richtungen auseinander und zeigen so jenen grauen Kulturgeodäten, wie vielfältig, wie richtungsreich, wie maßlos die Weltliteratur ist.
Dein Felix