Die Frei­heit der Entscheidung

Mitte August trafen sich 15 Übersetzerinnen und Übersetzer aus aller Welt in Hamburg, um eine Woche lang an deutschen Kinderbüchern zu arbeiten. Wir waren für einen Vormittag dabei. Von

Workshopleiter Tobias Scheffel (r.) erklärt die Kunst des Bilderbuchs. © Martin Jäschke / AKJ

Als Belén San­ta­na im Febru­ar 2018 den Auf­trag erhält, Mar­tin Balt­scheits Kin­der­buch Krä­he und Bär ins Spa­ni­sche zu über­set­zen, stockt ihr kurz der Atem. „Kei­ne Panik!“, hat ihr Ver­le­ger noch durchs Tele­fon gewarnt, aber ein sol­cher Satz bewirkt bei Über­set­zern eher das Gegenteil.

Ein hal­bes Jahr spä­ter, an einem war­men Mitt­woch­mor­gen im Ham­bur­ger August, prä­sen­tiert sie ihre fer­ti­ge Über­set­zung im gro­ßen Saal des Elsa-Bränd­ström-Hau­ses in Ham­burg-Blan­ke­ne­se. Das Fens­ter hin­ter ihr ist zur Hälf­te mit Tischen vol­ler Kin­der­bü­cher ver­stellt, dahin­ter erwacht duns­tig die Elbe. Ich sit­ze mit den 15 Teil­neh­me­rin­nen und Teil­neh­mern der Über­setz­er­werk­statt „Kein Kin­der­spiel!“ im Halb­rund und bestau­ne, was sie mit­ge­bracht hat:

„Sag mal, Tat­zen-Tar­zan, […] ich sehe dich ja vom Him­mel aus und fra­ge mich: War­um läuft der den gan­zen Tag ein Ei in die Wie­se? Ist das ein Zei­chen? Heißt das: Wo ist mein Ome­lett? Wann ist end­lich Ostern? Ach, ich weiß! Es ist das ei in Meins! Meins! Alles Meins! Keine Zeit zum Teilen!“

„Falsch. Es ist das ei in Freiheit der Ent­scheidung! Mein Früh­stück kriegst du nicht!“

Wie über­setzt man so etwas? Kind­ge­recht zudem? Wört­lich jeden­falls nicht: Das Spa­ni­sche Wort für Ei, „hue­vo“, gibt sich zu baltscheitschen Spie­lereien über­haupt nicht her. Belén blickt in die Run­de. Man sieht die Köp­fe qual­men, die die­se Stel­le gera­de ins Rus­si­sche, Per­si­sche, Slo­wa­ki­sche und Kasa­chi­sche übersetzen.

Elf Spra­chen sind am Tisch ver­tre­ten; die Teil­neh­me­rin­nen und Teil­neh­mer die­ses Work­shops, zu dem all­jähr­lich die Robert-Bosch-Stif­tung und der Arbeits­kreis für Jugend­li­te­ra­tur ein­la­den, kom­men aus der gan­zen Welt. Arbeits­spra­che ist aber Deutsch.

„Ich habe mich gefragt“, erzählt San­ta­na, „was kann ich ret­ten? Das meis­te muss ich über Bord wer­fen, aber wor­auf kommt es an? Nun, für mich waren das die Über­ra­schung der Krä­he, die den Bären am Boden hek­tisch her­um­lau­fen sieht, das ‚ei‘ als Pho­nem und die Wor­te ‚Frei­heit der Ent­schei­dung‘. Das muss rüber­kom­men. Wört­lich­keit ist nicht so wich­tig, es muss auf Spa­nisch funktionieren!“

Ihre Lösung funk­tio­niert. Sie macht aus Balt­scheits „Ei“ ein „i“. Dann ver­wen­det sie das spa­ni­sche Sprich­wort „mover­se como un pol­lo sin cabe­za“ (zu Deutsch „wie ein kopf­lo­ses Huhn her­um­lau­fen“) zu einem Sprach­spiel: „mover­se como una i sin pun­to“ („wie ein i ohne i‑Punkt herumlaufen“):

—Dime una cosa, Tar­zán de los osos, cuan­do te pones a dar vuel­tas, ¿tú en rea­li­dad a dón­de vas? Yo te obser­vo des­de el cie­lo y pare­ces per­di­do, des­ori­en­ta­do, cami­nas como un pol­lo sin cabe­za, como una i sin el pun­to… pero lue­go me digo: ¡Cla­ro! Es la i con acen­to de «¡Mío!», «¡Todo mío!», «¡Solo mío!», no es la i de compartir.

—Pues no señor, es la i de «Libert­ad de decis­ión». ¡Y tú no te comerás mi desayuno!

„Sag mir eins, Tar­zan der Bären, wenn du da dei­ne Run­den drehst, wohin willst du eigent­lich? Ich beob­ach­te dich vom Him­mel aus und du siehst ver­lo­ren aus, des­ori­en­tiert, du läufst wie ein kopf­lo­ses Huhn her­um, wie ein Punkt-loses i … aber spä­ter den­ke ich: „Natür­lich! Es ist das i mit Akzent, wie in ‚Meins!‘, ‚Alles meins!‘, ‚Nur meins!‘, das ist nicht das i wie in ‚tei­len‘.“

„Aber nein, Señor, es ist das i wie in ‚Frei­heit der Ent­schei­dung‘! Und mein Früh­stück kriegst du nicht.“

Applaus. Jeder im Raum weiß, wie viel Arbeit in einer sol­chen Lösung steckt. Für mich ist Deutsch kei­ne Fremd­spra­che, aber auch ich fra­ge mich unwill­kür­lich, wie ich die­se Stel­le ins Eng­li­sche über­set­zen wür­de. Ohne Ergebnis.

Ande­re sind da schnel­ler: Auf Slo­we­nisch, sagt Teil­neh­me­rin Alex­an­dra Nata­lie Zalez­nik, bie­tet sich das O an, zum Glück ein sehr Ei-för­mi­ger Buchstabe:

„To je o kot: Moje! Moje! Vse je moje! Ni prostora za dva!“ – „Naro­be. To je O kot: Svoboda odločan­ja!“
„Das ist das o in Meins! Meins! Alles meins! Kein Platz für zwei!“ – „Falsch. Das ist das O in: Frei­heit der Entscheidung!“

Eine ganz ande­re Ent­schei­dung, aber eigent­lich genau das glei­che wie im Spa­ni­schen. „Der Aspekt des Essens geht ver­lo­ren, aber dafür erhält sich das Wich­ti­ge: die O‑Form, die der Bär läuft“, sagt Zaleznik.

Ahmed Abdel­ha­mid ist inzwi­schen im Inter­net auf eine ara­bi­sche Über­set­zung die­ser Stel­le gesto­ßen. „Das ist völ­lig falsch!“, ruft er. „Man ver­steht gar nichts!“ In der ara­bi­schen Fas­sung stim­men noch nicht ein­mal die Anfüh­rungs­zei­chen: Die Replik des Bären ist ein­fach der Krä­he in den Schna­bel gelegt wor­den. So, dar­über herrscht all­ge­mei­ne Einig­keit, soll­te es nicht laufen.

Vor mei­nem Besuch im Elsa-Bränd­ström-Haus war ich skep­tisch. Wenn man nicht die Mut­ter­spra­che teilt, wie soll man dann beim Über­set­zen sinn­voll zusam­men­ar­bei­ten? Doch nach und nach wird mir klar: Die­ses exklu­si­ve Grüpp­chen ist etwas Grund­le­gen­de­rem auf der Spur als Seman­tik und Syn­tax. Etwas Gemeinsamem.

Auch Sil­via Iva­ni­de­so­vá aus der Slo­wa­kei hat eine schier unlös­bar erschei­nen­de Auf­ga­be mit­ge­bracht. In Son­ja Kaib­lin­gers Lili­en und Luft­schlös­ser, dem zwei­ten Band der Rei­he „Ver­liebt in Serie“, spricht die Figur Black­wood unent­wegt in miss­ver­stan­de­nen und durch­ein­an­der­ge­wor­fe­nen Sprich­wör­tern. Black­wood sagt Sät­ze wie „Ich bin hier, um mit dir mal so rich­tig Achil­les zu reden“ oder „Hör auf, mir Honig um die Nase zu pinseln“.

Das letzt­ge­nann­te Sprich­wort war ein­fach zu über­set­zen, denn die Slo­wa­ken spre­chen ganz ähn­lich wie die Deut­schen davon, jeman­dem „Honig­fä­den um die Nase zu zie­hen“ („preťaho­vať nie­ko­mu medo­vé motú­ziky popod nos“). Aber was, wenn die Lösung nicht so auf der Hand liegt wie hier? „Manch­mal muss­te ich lei­der dar­auf ver­zich­ten“, sagt Iva­ni­de­so­vá. Auch das kön­nen alle ver­ste­hen: Über­set­zen kann auch Ent­täu­schung bedeuten.

Aber zum Abschluss gibt es noch eine schö­ne Lösung: Für Black­woods unwir­sche Auf­for­de­rung „Zieh dich nicht aus der Atmo­sphä­re!“ ver­wen­det sie das slo­wa­ki­sche Sprich­wort „Nes­naž sa z toho vykrú­tiť“ („Ver­such nicht, dich her­aus­zu­dre­hen“). Dar­aus macht sie – klang­lich ver­wandt und zugleich eine poe­ti­sche Neu­schöp­fung – „Nes­naž sa z toho povy­krú­cať“. „Ver­such nicht, dich herauszutanzen.“

„Das war schwer zu fin­den. Aber am Ende hat­te ich Glück.“ Alle lachen. Der Satz ist hier schon öfter gefal­len. Ist eine gute Über­set­zung also ein­fach ein glück­li­cher Zufall?

„Es ist nicht ein­fach Glück, eine sol­che Lösung zu fin­den“, wider­spricht Work­shop­lei­ter Tobi­as Schef­fel. „Die Kunst liegt dar­in, das Glück zu sehen. Man muss sich in die Situa­ti­on bege­ben, asso­zi­ie­ren. Nur dann fin­det man die gelun­ge­ne Lösung. Und die kann in jeder Spra­che ganz anders aussehen.“

Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer sind qua Beruf Wort­klau­ber. Wenn sie sich zu Work­shops und Semi­na­ren ver­sam­meln, kann es daher sehr tief ins Detail gehen. Stun­den­lan­ge Debat­ten über die Bedeu­tung ein­zel­ner Wör­ter und Sät­ze sind kei­ne Seltenheit.

Auch Belén San­ta­na hat an sol­chen Werk­stät­ten schon teil­ge­nom­men. In Ham­burg, berich­tet sie spä­ter, herrscht aber eine ganz ande­re Atmo­sphä­re: „Hier kann ich mich mit den ande­ren nicht über ihre Tex­te unter­hal­ten. Aber dafür ist es viel anre­gen­der. Durch den Aus­tausch mit den Kol­le­gen bekommt man vie­le Anre­gun­gen, frei­er zu den­ken beim Über­set­zen. Man klebt nicht so am Text, son­dern spricht über Allgemeines.“

Es ist erstaun­lich, wie gut sich die Teil­neh­mer gegen­sei­tig mit Über­set­zungs­pro­ble­men hel­fen kön­nen, obwohl sie in völ­lig ver­schie­de­ne Spra­chen über­set­zen. Fast scheint es, als teil­ten sie unter­be­wusst einen gemein­sa­men Sinn. Etwas Tie­fes steigt auch in mir empor, ein Gefühl aus der Zeit vor Babel. Kann es sein, dass so etwas exis­tiert, ein gemein­sa­mer Übersetzersinn?

Zur Ablen­kung von solch tief­sin­ni­gen Gedan­ken steht am Nach­mit­tag erst­mal ein Aus­flug auf dem Pro­gramm. Als gel­te es eine abge­grif­fe­ne Meta­pher zu illus­trie­ren, bestei­gen die Über­set­zer zusam­men ein Boot und set­zen über. Sie fah­ren per Elb­fäh­re zum Ham­bur­ger Kin­der­buch­haus und tref­fen den Illus­tra­tor Ole Könne­cke. Ich muss mich ver­ab­schie­den und keh­re in die Welt außer­halb zurück, die Welt, in der ein Wort­spiel ein­fach ein Wort­spiel ist und kein haar­sträu­ben­des Pro­blem, kei­ne exis­ten­zi­el­le Herausforderung.

Bald wer­den alle, die hier ver­sam­melt waren, wie­der allein über ihren Tex­ten sit­zen, in Süd­afri­ka, in Indi­en, in Spa­ni­en. Die Ver­le­ger wer­den wie­der anru­fen. Es wird wie­der hei­ßen: „Kei­ne Panik!“ Aber jetzt wer­den sie sich an die Ham­bur­ger Tage erin­nern und wis­sen: Das Über­set­zer­glück liegt auf der Stra­ße. Ich muss es nur sehen.

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