Spra­che und Geschlecht

Geschlechtergerechte Sprache ist noch immer heftig umstritten. Wie gehen Übesetzerinnen und Übersetzer damit um? TraLaLit hat nachgefragt.

Der Beginn aller Geschlechterdebatten. Albrecht Dürer: Adam und Eva, 1507 (Ausschnitt). Quelle: WikiArt

Anfang Juni 2018 hat­te der deut­sche Recht­schreib­rat auf Anre­gung des Lan­des Ber­lin sich mit mög­li­chen Regeln für eine geschlech­ter­ge­rech­te Spra­che aus­ein­an­der­ge­setzt. Eine offi­zi­el­le Emp­feh­lung wur­de aller­dings nicht aus­ge­spro­chen. Die Bericht­erstat­tung zeig­te vor allem, wie bri­sant das The­ma immer noch ist.

Geschlech­ter­ge­rech­te Spra­che wirft auch beim Über­set­zen so eini­ge Fra­gen auf: Wie kön­nen bei­spiels­wei­se ande­re Geschlech­ter, die in der Aus­gangs­spra­che mit­ein­be­zo­gen wer­den, auch in der Über­set­zung sprach­lich sicht­bar gemacht wer­den? Was genau bedeu­tet Gen­de­ring in der Pra­xis? Wie beein­flusst es die Les­bar­keit? Und gibt es Grenzen?

Wir haben sie­ben Über­set­zer und Über­set­ze­rin­nen gebe­ten, uns aus ihrem Arbeits­all­tag zu berichten:

Ulrich Blu­men­bach

Über­setzt aus dem Eng­li­schen ins Deutsche

In einem Gespräch über den neu­en Anti­se­mi­tis­mus in der Schweiz sagt Charles Lewin­sky in der NZZ am Sonn­tag vom 19. August 2018: „Fana­ti­ker sind humor­frei, ein ortho­do­xer Jude genau­so wie ein Anti­se­mit.“ Ich möch­te kein Fana­ti­ker sein.

Erlaubt uns Humor: Ich per­sön­lich fin­de das neue gene­ri­sche Femi­ni­num, das in radi­ka­len Krei­sen erfun­den wor­den ist („Herr Pro­fes­so­rin“), herr­lich iro­nisch und als Spieß-Umkeh­rung jahr­hun­der­te­al­ter Kon­ven­tio­nen pri­ma. Und damit mei­ne ich defi­ni­tiv nicht, dass ich mich dar­über lus­tig mache.

Nor­men und Kon­ven­tio­nen kön­nen geän­dert wer­den; Spra­che ist nie aus einem Guss, son­dern immer im Fluss. Stellt Euch nicht so an, Kin­ners (nein: Jungs!): Wir wer­den nicht kas­triert, wenn ein Kol­lek­tiv, dem wir ange­hö­ren (ob Über­set­ze­rin­nen oder Euro­päe­rin­nen), mit der weib­li­chen Form benannt wird.

Und jetzt noch ein Appell an uns als Lite­ra­tur Über­set­zen­de (mein Wort zum Sonn­tag; lacht mich ruhig aus): Wir schaf­fen mit am sau­sen­den Web­stuhl der Spra­che. Wir wir­ken als Kol­lek­tiv dar­an mit, wohin sich die deut­sche Spra­che ent­wi­ckelt, ob sie gerech­ter wird oder nicht. Suchen wir doch wei­ter nach Lösungen.

Ich bin froh, dass ich in den Essays von David Fos­ter Wal­lace ein paar femi­ni­ne Gene­ri­ka ein­schmug­geln konn­te („Das muss nicht unbe­dingt ein Nach­teil sein, denn der Reiz einer Schrift­stel­ler­bio­gra­fie besteht ja wohl gera­de dar­in, ihre Lese­rin zum Wie­der­le­sen anzu­stif­ten“; „sein Auf­bie­ten zeigt, dass die Schrei­ben­de die Unter­schie­de zwi­schen den drei fer­vē­re-Wör­tern kennt“), was kein Ein­schlei­men sein soll (ich habe an ande­rer Stel­le ein die poli­ti­sche Kor­rekt­heit ver­äp­peln­des „Frau­in­nen“ geschrie­ben, weil Wal­lace „womyn“ schreibt), son­dern ein Mut­ma­chen, sprach­li­che Mach­bar­kei­ten – und die Inno­va­ti­ons­lust der Lek­to­ra­te (eini­ge weib­li­che For­men sind mir gestri­chen wor­den) – auszuloten.

„Howgh, ich habe gespro­chen“, wie Win­ne­tou an sol­chen Stel­len zu sagen pflegte.

Imke Bro­der­sen

Über­setzt aus dem Eng­li­schen und Spa­ni­schen ins Deutsche

Gen­dern oder nicht? In der Lite­ra­tur ent­schei­de ich das nach der ver­mu­te­ten oder offen­kun­di­gen Inten­ti­on mei­ner Autoren und Autorinnen.

Und da sehe ich bei mei­nen eng­li­schen Aus­gangs­tex­ten im Sach­buch durch­aus, dass zum Bei­spiel bei „doc­tor“ von „he or she“ die Rede ist. Viel­leicht kommt in eini­gen Jah­ren auch eine drit­te, neu­tra­le Form hin­zu. Mit­un­ter han­ge­le ich mich beim Über­set­zen müh­sam von einer schwie­ri­gen Stel­le zur nächs­ten, zwi­schen mei­nem per­sön­li­chen Anspruch auf das Zei­gen bei­der Geschlech­ter (inzwi­schen auch noch des drit­ten) und dem Lesefluss.

Spra­che prägt das Bewusst­sein, und wenn wir an drei Wis­sen­schaft­ler den­ken, an fünf Ärz­te, sie­ben Leh­rer, zehn Sol­da­ten oder eine Grup­pe Sani­tä­ter – dann sehe ich mit mei­ner west­deut­schen Bio­gra­phie vor mei­nem geis­ti­gen Auge spon­tan kei­ne Frau dar­un­ter. Obwohl ich mich seit bald 40 Jah­ren aktiv mit dem The­ma auseinandersetze.

Ein gutes Bei­spiel ist der Nobel­preis für Phy­sio­lo­gie und Medi­zin, den 2009 laut eini­gen deut­schen Pres­se­mel­dun­gen die drei Wis­sen­schaft­ler Blackb­urn, Grei­der und Szost­ak erhiel­ten. (Nein, ich ver­der­be jetzt nie­man­dem den Recher­che­spaß – ist ja blitz­schnell gefunden.)

Wenn es sich anbie­tet, schrei­be ich im Sach­buch daher abwech­selnd Arzt und Ärz­tin, so dass es halb­wegs aus­ge­gli­chen ist. Manch­mal kreb­se ich auch her­um und suche ver­zwei­felt gute For­mu­lie­run­gen. Und manch­mal erge­be ich mich (zwecks Über­sicht­lich­keit und Lese­freund­lich­keit) dem Mehr­heits­vo­tum oder dem Ver­lags­wunsch im Sin­ne von „Frau­en sind mit­ge­meint“. Gute Anre­gun­gen bie­tet bei­spiels­wei­se die Sei­te Geschickt gen­dern.

Wer sich von der bio­lo­gisch-medi­zi­ni­schen Sei­te her gründ­lich mit dem The­ma aus­ein­an­der­set­zen möch­te, sei auf das Insti­tut für Geschlech­ter­for­schung in der Medi­zin der Cha­ri­té Ber­lin ver­wie­sen. Dort gibt es einen gro­ßen Wis­sens­schatz und natür­lich auch den aktu­el­len Sprachgebrauch.

Susan­ne Gerold

Über­setzt aus dem Eng­li­schen ins Deutsche

Ich wür­de mir ja wün­schen, dass gera­de unse­re Zunft die Krea­ti­vi­tät unse­res Jobs dafür benutzt, brauch­ba­re Alter­na­ti­ven bzw. Mög­lich­kei­ten für eine Spra­che zu suchen, die Frau­en und Män­ner zugleich ein­schließt bzw. ihnen gerecht wird. Wir drin­gen schließ­lich tief in die Fein­hei­ten der Spra­che ein und bekom­men eine gute Ahnung davon, wie sehr Spra­che das Bewusst­sein prägt.

Ich muss zuge­ben, dass es mich immer wie­der irri­tiert, wenn ich gera­de bei einer Über­set­ze­rin – oder auch Autorin – lesen oder hören muss, dass sie jemand ist, der … Das sind Din­ge, die gehen bei mir gar nicht, aber lei­der mache ich die Erfah­rung, dass es sich wie­der durch­setzt. Jemand mein­te sogar mal zu mir, dass es duden­mä­ßig gar nicht erlaubt sei, was aber falsch ist, genau­so wie das Bei­spiel mit dem viel­zi­tier­ten Mädchen.

Als Über­set­ze­rin von Fan­ta­sy-Lite­ra­tur habe ich einer­seits mehr Pro­ble­me, weil z. B. oft das Geschlecht eines nicht­hu­ma­no­iden oder sonst­wie geheim­nis­vol­len Wesens lan­ge Zeit ver­bor­gen blei­ben soll, was im Deut­schen nicht so ein­fach mög­lich ist, wenn man nicht zum säch­li­chen „es“ grei­fen will. Gera­de das geht aber nicht, wenn sich das „Es“ dann spä­ter als „Er“ oder „Sie“ erweist.

In sol­chen Fäl­len muss man manch­mal lei­der akzep­tie­ren, dass man den Über­ra­schungs­ef­fekt nicht rüber­brin­gen kann. Auf der ande­ren Sei­te kann ich in der Fan­ta­sy auch krea­ti­ver sein. So hat­te ich ein­mal in einem spi­ri­tu­ell-phi­lo­so­phi­schen Fan­ta­sy-Roman „The One“ zu über­set­zen, als das Gött­li­che, die Schöp­fer­kraft oder so.

Spon­tan bot sich natür­lich „Der Eine“ an, weil wir ja „Gott“ im Hin­ter­grund haben, auf­grund unse­rer Kul­tur. Aber das Buch folg­te dem Geist bud­dhis­ti­scher Spi­ri­tua­li­tät, und der Autor ver­mied bewusst eine geschlecht­li­che Zuord­nung. Was im Eng­li­schen ja auch leicht geht. Ich kam dann auf die Idee, dar­aus „Das Eine“ zu machen, und glück­li­cher­wei­se war der Autor damit sofort einverstanden.

Durch das Über­set­zen von Fan­ta­sy habe ich die Erfah­rung gewon­nen, dass es gar nicht wirk­lich schwer ist, sich an eine ande­re Spra­che, einen ande­ren Sprach­ge­brauch zu gewöh­nen. All die Men­schen, die gern Fan­ta­sy lesen – oder zumin­dest eine bestimm­te Art von Fan­ta­sy –, kom­men jeden­falls gut damit klar, sich in voll­kom­men frem­de Wel­ten hin­ein­zu­den­ken, und akzep­tie­ren auch neue Begrif­fe und ande­re Sprach­neu­hei­ten. Das heißt, die eigent­li­che Her­aus­for­de­rung beginnt im Kopf, in der Bewusst­wer­dung für die The­ma­tik und in der anschlie­ßen­den Ent­schei­dung – man muss es wollen.

Gabrie­le Haefs

Über­setzt u. a. aus dem Däni­schen, Eng­li­schen, Nie­der­län­di­schen und Wali­si­schen ins Deutsche

Der Sprach­wis­sen­schaft­ler Noam Chom­sky hat unge­fähr neun­hun­dert Sei­ten dar­über geschrie­ben, daß man dem natür­li­chen Geschlecht Vor­rang vor dem gram­ma­ti­schen geben soll­te. Aber der Ver­weis auf Chom­sky und sei­ne neun­hun­dert Sei­ten ruft vor allem Trotz­re­ak­tio­nen her­vor, Lek­to­ra­te, egal wel­cher­lei Geschlechts, mögen offen­bar kei­ne Fachliteratur.

Hil­fe kommt von ganz ande­rer Sei­te. Kai­ser Wil­helm II. sag­te einst, gefragt, wie er sich im Fal­le eines Atten­ta­tes ver­hal­ten wür­de, es käme ganz dar­auf an, ob ein „bär­ti­ger Anar­chist“ ihm ans Leben wol­le, oder ob „es ein hüb­sches Mäd­chen wäre, die die Hand wider mich erhöbe“.

Der Hin­weis auf des Kai­sers Erklä­rung wirkt Wun­der, noch kein ein­zi­ges Mal hat bis­her irgend­ein Lek­to­rat Ein­spruch erho­ben, wenn ich ein Mäd­chen mit femi­ni­nen Pro­no­men bezeich­nen woll­te und das mit dem kai­ser­li­chen Bei­spiel begrün­de­te. Die Tat­sa­che aber, daß so vie­le Jahr­zehn­te nach Wil­helms Abdan­kung in deut­schen Ver­lags­lek­to­ra­ten das Kai­ser­wort unwi­der­spro­chen gilt – die ist ja eigent­lich rich­tig niedlich!

Frank Hei­bert

Über­setzt aus dem Eng­li­schen und Fran­zö­si­schen ins Deutsche

Das The­ma der sprach­li­chen Geschlechts­zu­ord­nung hat sich mir beim Über­set­zen immer schon gestellt, wenn ich im Deut­schen spe­zi­fi­scher sein muss­te, als das Ori­gi­nal es mir vor­gab – „a fri­end said …“ im Eng­li­schen kann eben bei­des sein.

Wenn ich nicht den Autor oder die Autorin gefragt habe,  ob es auf das Geschlecht ankommt und wenn ja, wel­ches gemeint ist, bin ich mit Umweg-Kon­struk­tio­nen auch neu­tral geblie­ben (falls die Aus­kunft war, es kommt nicht dar­auf an bzw. soll all­ge­mein sein, natür­lich auch) – „im Freun­des­kreis hieß es …“, so etwas. Dass streng genom­men auch hier wie­der ein mas­ku­li­ner plu­ra­le tan­tum vor­liegt, habe ich frü­her ver­nach­läs­sigt, es war mir gar nicht bewusst, ehr­lich gesagt. Auch „unter Freun­den“ habe ich immer so benutzt.

Mitt­ler­wei­le ist mei­ne Sen­si­bi­li­tät für die Fra­ge natür­lich gestie­gen, dank der seit Jahr­zehn­ten immer wie­der geführ­ten und grund­sätz­lich sinn­vol­len Debat­te. In Mails, Posts, Vor­trä­gen, Arti­keln vari­ie­re ich, das Ange­bot ist ja da: ich sage, wie oben, „Autor oder Autorin“, ich sage manch­mal „Übersetzer*innen“ (frü­her „Über­set­ze­rIn­nen“), oder ich wech­se­le im Lau­fe eines Tex­tes fröh­lich („die Lek­to­rin“, „der Kri­ti­ker“, „die Lese­rin“ usw., und einen Absatz spä­ter dann umge­kehrt, wenn eines der Wör­ter wie­der auftaucht).

Ich muss zuge­ben, dass ich hin und her geris­sen bin zwi­schen dem poli­ti­schen Sinn, den ein gen­der-fai­re­res Umge­hen mit der Spra­che für mich abso­lut hat, und einem gewis­sen Zurück­schre­cken vor Aus­wüch­sen (muss ich mit „man“ UND „frau“ agie­ren, ist „jemand“ bereits eine gen­der-unfai­re For­mu­lie­rung usw.) und vor, je nach Kon­text, unäs­the­ti­schen Formulierungen.

Ich wür­de nicht so weit gehen, dass das Stern­chen eine uner­träg­li­che Ver­un­stal­tung der Sprach­ge­stalt dar­stel­le (die Mei­nung gibt es, auch bei selbst­be­wusst-eman­zi­pier­ten Frau­en), ich kann auch prag­ma­tisch den­ken: Irgend­wann ist das genau­so selbst­ver­ständ­lich wie die Jahr­hun­der­te der selbst­ver­ständ­li­chen mas­ku­li­nen Gen­de­rung. Aber, und nun kom­me ich zu dem für Eure Fra­ge viel­leicht wich­tigs­ten Punkt, wenn wir Lite­ra­tur über­set­zen, müs­sen wir bei allen Ele­men­ten der Sprach­ge­stal­tung über­le­gen, wie sie wir­ken.

In einem Roman wür­de ich nie­mals zu der Stern­chen-Kon­struk­ti­on grei­fen, ein­fach weil sie sofort eine gesell­schafts­po­li­ti­sche Zusatz-Bot­schaft auf der Meta-Ebe­ne aus­sen­det – und das soll­te nur so sein, wenn das Ori­gi­nal mir die­se Bot­schaft vor­gibt. Dann soll­te es aller­dings auf jeden Fall so gemacht wer­den. In Sach­bü­chern mit gesell­schafts­po­li­ti­schen The­men – auf jeden Fall prü­fen. Im Erzäh­ler­text eines Romans – das müss­te dann eine sehr spe­zi­fi­sche Erzähl­stim­me sein. Oder, in einem Dia­log, ein sol­cher­ma­ßen zu cha­rak­te­ri­sie­ren­der Spre­cher oder Spre­che­rin. Das wäre eben noch nicht die ver­än­der­te Selbst­ver­ständ­lich­keit, die die Debat­te ja per­spek­ti­visch errei­chen soll.

Bis auf die­se Aus­nah­men wäre mir, muss ich geste­hen, die kon­se­quen­te Gen­de­rung in einer lite­ra­ri­schen Über­set­zung sowohl ästhe­tisch wie auch als Zusatz­bot­schaft ein stö­ren­der Fremd­kör­per. Viel­leicht wür­de ich auch häu­fi­ger als frü­her nach Umwe­gen Aus­schau hal­ten („the spec­ta­tors“ – „das Publi­kum“, aber eben nicht „die Zuschauer*innen“); die­sen klei­nen Aus­druck grö­ße­rer Gen­der-Sen­si­bi­li­sie­rung wür­den die Leser*innen aller­dings nicht bemer­ken. Der Weg ist noch weit, aber die Debat­te ist wich­tig, und für mich gibt es jeden­falls nicht nur eine Stan­dard­lö­sung, die den frag­wür­di­gen Stan­dard von frü­her ablö­sen könn­te.

Lili­an Peter

Über­setzt aus dem Eng­li­schen und Fran­zö­si­schen ins Deutsche

Das Abend­land stirbt nicht aus, nur weil man in der „öffent­li­chen“ Kom­mu­ni­ka­ti­on diver­se­re gene­ri­sche For­men zu fin­den ver­sucht. Bei so pro­fa­nen Din­gen wie For­mu­la­ren etc. ist mir völ­lig unbe­greif­lich, war­um das über­haupt für irgend­je­man­den Stein des Ansto­ßes sein kann, genau­so wie bei simp­len Anre­den (Europäer*innen etc.). Es ist doch klar, dass nie­mand in einem lite­ra­ri­schen Text anfan­gen wird, mit Stern­chen, Binnen_I usw. zu arbeiten.

Ich habe das zumin­dest noch nie gese­hen und wür­de es auch selbst nicht machen, schlicht aus ästhe­ti­schen Grün­den und aus Grün­den des Lese­flus­ses. Aller­dings fin­de ich es nicht ein­fach, eine gute Lösung zu fin­den, und glau­be auch nicht, dass es im lite­ra­ri­schen Bereich gute pau­scha­le Lösung gibt. Des­halb arbei­te ich gern fle­xi­bel und je nach Kon­text. Ich fin­de zum Bei­spiel das gene­ri­sche Femi­ni­num, ger­ne auch im unauf­fäl­li­gen Wech­sel mit dem Mas­ku­li­num, eine ele­gan­te (und humo­ri­ge!) Lösung.

Spra­che macht sicht­bar und unsicht­bar. Die Lite­ra­tur ist davon nicht aus­ge­nom­men, ganz im Gegen­teil – Jahr­hun­der­te, eher schon Jahr­tau­sen­de von Lite­ra­tur (und Phi­lo­so­phie) haben mit den immer glei­chen Bil­der­as­so­zia­tio­nen gear­bei­tet: Licht / Tag / Begriff / Blitz / Son­ne / Son­nen­gott / Ratio­na­li­tät / Ein­heit / All­ge­mei­nes / männ­li­ches Prin­zip usw. vs. Dun­kel­heit / Fins­ter­nis / Nacht / Traum / Erde / Irra­tio­na­li­tät / Mate­rie (mater=Mutter!!) / Beson­de­res / weib­li­ches Prin­zip usw. – die­se Dif­fe­renz exis­tiert nicht, seit es Gen­der­stern­chen gibt (manch­mal ist von „Kri­ti­kern“ zu hören, das Stern­chen trei­be erst einen Keil zwi­schen die Geschlech­ter), son­dern unse­re gan­ze Kul­tur seit den frü­hes­ten grie­chi­schen Schrift­zeug­nis­sen ist davon durch­zo­gen, und das Gen­der­stern­chen bzw. die ande­ren For­men diver­se­rer Gene­ri­ka sind in mei­nen Augen ein­fach nur ein ers­ter Ver­such einer All­ge­mein­heit, die nicht nur Män­ner meint.

Denn ja: „das Männ­li­che“ galt immer als „das All­ge­mei­ne“, im Unter­schied zum „Weib­li­chen“ = „Beson­de­ren“; das kann man so gut wie jedem ein­zel­nen his­to­ri­schen Text mehr oder weni­ger expli­zit oder impli­zit ent­neh­men, von Hesi­od über Homer über bibli­sche Tex­te über die Kir­chen­vä­ter über die christ­li­che Phi­lo­so­phie bis hin zu Ril­ke: „Sin­gen­der Gott, wie hast Du sie voll­endet, dass sie nicht begehr­te, erst wach zu sein?“ – Klar, denn SIE, die­ser dunk­le, geheim­nis­vol­le Schlaf (geblen­det (apro­pos Blitz/Licht der Ver­nunft!!) durch sei­ne Lust/sein Sprechen/Dichten, wie man in ande­ren Ril­ke-Gedich­ten nach­le­sen kann), braucht erst SEINEN erweckenden/ehelichenden Kuss, um … ja… legi­ti­miert / lega­li­siert / les­bar zu sein in die­ser Welt?

Es ist mir rät­sel­haft, wie man glau­ben kann, dass das alles nichts mit­ein­an­der zu tun habe, aber wer noch nicht über­zeugt ist, dem sei die Lek­tü­re von Beau­voirs immer-noch-Stan­dard­werk Le deu­xiè­me sexe nahe­ge­legt, in dem sie die­se Mecha­nis­men akri­bisch und mit tau­sen­den Bei­spie­len aus der fran­zö­si­schen Lite­ra­tur darlegt.

Tev­fik Turan

Über­setzt aus dem Deut­schen ins Türkische

Das Tür­ki­sche hat kein gram­ma­ti­sches Geschlecht, auch nicht bei Per­so­nal­pro­no­men. Wenn ein tür­ki­scher Text von einer geschlechts­neu­tra­len drit­ten Per­son erzählt wird, haben wir schon ein Pro­blem. Oder von einer Per­son, deren Vor­na­me weib­lich oder männ­lich sein kann. Oder wenn es bei einer Per­son gar nicht auf ihr Geschlecht ankommt, son­dern nur auf sei­ne Funk­ti­on, etwa als Leh­rer. Oder wenn sol­che Funk­ti­ons­trä­ger in Mehr­zahl und unbe­kann­ter Zusam­men­set­zung auf­tre­ten („Lehr­kör­per“ einer Schu­le: „die Leh­rer und Leh­re­rin­nen“? – Was ist, wenn das eine Geschlecht nur mit einer Per­son oder gar nicht ver­tre­ten ist?). Oder wenn wir ins Tür­ki­sche über­set­zen, und ein Gen­der­sprach­li­cher phi­lo­so­phiert über das „Es“ oder beti­telt sei­ne Roma­ne mit „Er“ oder „Sie“.

Kurz: Das gram­ma­ti­sche Geschlecht ist eine blö­de Erfin­dung, um hilf­lo­se Sprach­kri­tik auf der Makro­ebe­ne zu üben, und das Gen­dern ist ein noch grö­ße­rer Blöd­sinn (Mikro­kri­tik), statt die Geschlecht­lich­keit der deut­schen Spra­che im Zuge der Geschlech­ter­gleich­heit als sinn­lo­ses Relikt ein­fach bestehen, leer­lau­fen zu las­sen. „Zu viel der Ehre“.

Das Tür­ki­sche setzt bei Bedarf ein das Geschlecht spe­zi­fi­zie­ren­des Wort vor das Sub­stan­tiv. Z. B. „kadın göç­men“ (Frau-Migrant) und „erkek göç­men“ (Mann-Migrant). Dass ich als Bei­spiel gera­de die­ses Wort­paar anfüh­re, hat mit fol­gen­der Anek­do­te zu tun:

Ich hielt ein­mal ein aus dem Deut­schen über­setz­tes Sach­buch über Migra­ti­on in der Hand, in der die Tür­ken in Deutsch­land gen­der­ge­recht als „Migran­tin­nen und Migran­ten“ vor­ka­men. Die Über­set­zung hat dar­aus brav „kadın ve erkek göç­men­ler“ (Frau-und Mann-Migran­ten) gemacht, obwohl „göç­men­ler“ bei­de Geschlech­ter erfasst hät­te. Wie kann ich mich noch gen­der­be­wusst zei­gen, wenn mir mei­ne Spra­che nicht die Gele­gen­heit gibt?

3 Comments

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  1. 1
    Mylius

    Der ers­te Satz im Text von Ulrich Blu­men­bach lautet:
    „In einem Gespräch über den neu­en Anti­se­mi­tis­mus in der Schweiz sagt Charles Lewin­sky in der NZZ am Sonn­tag vom 19. August 2018: „Fana­ti­ker sind humor­frei, ein ortho­do­xer Jude genau­so wie ein Anti­se­mit“. Ich möch­te kein Fana­ti­ker sein.

    Er müss­te eigent­lich unge­fähr so lauten:
    „In einem Gespräch über den neu­en Anti­se­mi­tis­mus in der Schweiz sagt Charles Lewin­sky in der NZZ am Sonn­tag vom 19. August 2018: „Fanatiker*innen sind humor­frei, ein(e) ortho­do­xe® Jude/Jüdin genau­so wie ein(e) Antisemit*in“. Ich möch­te kein(e) Fanatiker*in sein.

    Sehr schön.
    Mylius

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