Liebe Sieglinde,
deine Replik hat den Tennisball unseres argumentativen Matches wieder tief in meine Hälfte gespielt. Auch ich las Deinen Text und fragte mich: Ist das mein Ernst?
Dann sammelte ich mich, las Ingendaay, las Gaddis, gewann Abstand, und die Antwort ist: ja. Und nicht nur ist das mein Ernst (eine sicherlich eher unerhebliche Einzelmeinung), es ist auch – leider! – der Ernst der geradezu gesamten deutschsprachigen Literaturkritik.
Beginnen wir, um Dir gewissermaßen den Ball abzunehmen, mit dem Beispiel, das Du zur Krönung Deines Argumentes ganz ans Ende des Briefes gestellt hast:
Aus der Perspektive der Autorin sieht das ganz anders aus. Sie geht im Ausland auf Lesereise und stellt fest, dass ihr Buch in Polen, Korea, Russland ganz anders aufgefasst wird, als sie es geschrieben hat, und allmählich dämmert ihr, dass sie in der Übersetzung ihren eigenen Text nicht wiedererkennen würde. Da wird es der Autorin nicht nur unheimlich, sie fühlt sich ausgeliefert.
Ich weiß nicht, ob die „Autorin“, die Du da ins Feld führst, mit Dir identisch oder zumindest Dir bekannt ist. Ich wäre jedenfalls sehr interessiert, sie kennen zu lernen, denn mir scheint, dass sie eine recht naive Vorstellung vom Übersetzen hat. Hat sie ernsthaft geglaubt, dass sie „in der Übersetzung ihren eigenen Text wiedererkennen würde“? Und wenn ja: Was genau heißt das denn, „wiedererkennen“?
Auch hier befinden wir uns auf dem engmaschig verminten Gelände der Interpretationen. Ich mag nur Rorschach-Muster sehen, wo Du etwas „wiedererkennst“ und ein Dritter eine vage Ahnung hat. Das zentrale Kriterium für Dich scheint die Selbst-Interpretation der Autorin zu sein. Man muss gar nicht Barthes zitieren, um bei einer solchen Herangehensweise wacklige Knie zu bekommen. Wenn Auto-Exegese allein der Maßstab unseres Denkens über Literatur wäre, dann wäre Homer oder die schon von Dir als Beispiel angeführte Bibel letzten Endes unübersetzbar und, um einen Gegenpol zu bezeichnen, jemand wie Christian Kracht auch. Ist das Dein Ernst?
Aber ich will noch einen Schritt weitergehen: Die von Dir beschriebene Autorin „stellt fest“, dass ihr Buch im Ausland „ganz anders aufgefasst wird, als sie es geschrieben hat“. Ist das nicht jedem Schreiben immanent, dem literarischen allemal? Und verschleiert die Empörung der besagten Autorin nicht, dass „Auffassen“ und „Schreiben“ auch in der eigenen Sprache oft Welten trennen? William Gaddis, um mal langsam aber sicher konkret zu werden, ist dafür doch das beste Beispiel.
Ja, Übersetzungen können „verzerren“, „falsch darstellen“, „missverstehen“. Aber damit machen sie nur transparent, was beim Lesen immer schon der Fall war: Wir verzerren, wir stellen falsch dar, wir missverstehen. Eine Übersetzung zu lesen ist insofern der ehrlichere Genuss, denn in der vermittelnden Übersetzung finden wir uns selbst wieder und merken: Wir können unseren Augen nicht trauen. (Ein sehr Gaddis-scher Ansatz, eigentlich.)
Übersetzungen entbinden uns insofern von der lieben, aber teuflischen Illusion, „ganz beim Autor“ zu sein, wenn wir ein Buch lesen. Ich habe zuerst das erste Kapitel von Ingendaays „Fälschung der Welt“ und dann das von „Recognitions“ von Gaddis gelesen. Bei Ingendaay weiß ich, da spielt jemand mit Worten und präsentiert mir seine Version einer Geschichte, die nicht seine ist. Gaddis’ englische Sprachintensität finde ich beklemmend, denn ich weiß, dass ich mit meinen Gedanken zu dem, was vor mir liegt, ganz allein bin. (Das ist keine Literaturkritik, nur eine persönliche Reaktion.)
Unsere Lesekultur und unser Literaturbetrieb sind vom Kult um das Original so besessen wie wohl noch nie in der Geschichte. Dass eine Autorin wie Elena Ferrante mit ihrer Star-Verweigerung alle Welt so massiv zu irritieren vermag, ist der beste Beweis dafür. Und das, obwohl die strikte Trennung von Autorin und Erzählerin das allererste ist, was all die Weltweisen der Literatur in ihren philologischen Propädeutika gelernt haben dürften.
Machen wir uns doch frei von diesen falschen Freunden! Nabeln wir die Literatur von den omnipräsenten Autoren ab! Wenn wir uns ernsthaft dazu durchringen wollten, könnten Übersetzerinnen und Übersetzer dazu die besten Geburtshelfer sein.
Noch einmal zurück zu Deiner entsetzten Frage:
Dann wäre der Übersetzer wichtiger als der Autor, es hieße, dass die Übersetzerin mit der Autorin machen kann, was sie will. Ist das Dein Ernst?
Als Übersetzer möchte ich enthusiastisch mit dem Kopf schütteln. Nein, ich bin nicht wichtiger. Nein, ich kann meine Vorlage nicht irgendwo hinbiegen. Aber wir unterhalten uns hier über das Feld der Literaturkritik, und wenn ich auf den Zustand der deutschsprachigen Literaturkritik schaue, bleibt mir als Antwort leider nur ein resigniertes Nicken.
Vor dem Start von TraLaLit wollten wir wissen, wie es um die Übersetzungskritik in den deutschsprachigen Feuilletons bestellt ist. Wir lasen zwei Monate lang täglich Zeitung und trugen unsere Ergebnisse akribisch in eine Excel-Liste ein. Und das Ergebnis dieser Studie ist, um es mit Deinen Worten kurz zu sagen: In den Augen der Kritik können Übersetzerinnen mit Autorinnen machen, was sie wollen. Niemand vergleicht.
Es ist der detailversessenen Arbeit verantwortungsbewusster Übersetzerinnen und akribischer Lektoren zu verdanken, dass die Qualität vieler Übersetzungen hoch ist und sich „Abweichungen“ vom Original – wie immer man das definiert – in Grenzen halten. Das ist richtig so, daran will wohl niemand in der Welt etwas ändern. Ich jedenfalls nicht.
Aber Literaturkritik ist etwas anderes. Literaturkritik ist kein Lektorat und kein Schreibkursus. Literaturkritik hat doch nicht die Aufgabe, bessere Vorschläge oder auch nur Verbesserungsvorschläge zu machen. Als Kritiker muss ich das Werk, so wie es nun mal vorliegt, einer Prüfung unterziehen. Für mich (und für TraLaLit) heißt das: die sprachschöpferische Leistung des Übersetzers und die schöpferische der Autorin sowohl für sich als auch im Zusammenspiel zu analysieren, einzuordnen und zu bewerten. Dass ich mir das auch ohne Einbeziehung des Originaltextes grundsätzlich vorstellen kann, habe ich in meinem letzten Beitrag dargelegt. (Konkrete Beispiele gibt es auch, z.B. hier oder hier.)
Das Gros der deutschsprachigen Literaturkritik, so viel ist nach unserer Untersuchung klar, sieht das ganz anders. Dieses Gros interessiert sich für Übersetzerinnen und Übersetzer nicht, oder es wirft sie mit den Autorinnen und Autoren in einen Topf.
Nun will ich Dich als Verfechterin akribischer Übersetzungskritik keineswegs zu diesem Gros zählen. Meine Bestandsaufnahme wird Dich auch kaum überraschen. Ich frage mich nur: Was nun? Deine Vorschläge, wenn ich sie richtig verstehe, gehen in zwei Richtungen: 1) Ein Nachwort zu jeder Übersetzung!, und 2) Mehr Vergleiche mit dem Original!
Beidem stimme ich uneingeschränkt zu. Beides scheint mir aber auch ähnlich unrealistisch wie die Forderung, jedes Buch der Redlichkeit halber grundsätzlich in zwei Übersetzungen zu veröffentlichen. Sicherlich wünschenswert, sicherlich ein Gewinn, aber Du wirst so gut wie ich wissen, dass es dazu nicht kommen wird. Um Dich also zu zitieren: Ist das Dein Ernst?
In meinem letzten Brief habe ich die Landkarte der Literatur in Inseln (deren Sprache wir sprechen) und Meer (dessen Sprache wir nicht sprechen) unterteilt. In Deinem Wolfenbütteler Vortrag sagtest Du über das Meer:
Bei Büchern, die aus dem Ungarischen, Russischen, Chinesischen etc. übersetzt sind, kann ich zwar sagen, ob das, was ich hier lese, gutes Deutsch ist – doch habe ich keine Ahnung, was davon aufs Konto des Übersetzers und was aufs Konto der Autorin geht.
Mit einem so einfachen wie falschen Satz (natürlich geht „gutes Deutsch“ immer erstmal aufs „Konto“ des Übersetzers) hast Du Dich da schön aus der Affäre gezogen. Und in Deiner Replik-Replik ziehst Du Dich ganz und gar auf die Insel zurück. Deshalb möchte ich Dich zum Schluss ein Stück weit zurück Richtung Meer zerren und Dich zurückfragen: Hältst Du Übersetzungskritik ohne Kenntnis der Ausgangssprache für unmöglich?