Lite­ra­ri­sches Über­set­zen unter digi­ta­len Vorzeichen

Übersetzen gilt als einsame Kunst. Welche Vernetzungsmöglichkeiten aber das Internet bietet, beweist pionierhaft ein soziales Übersetzungsprojekt, das jetzt zu Ende geht. Eine Bilanz aus Sicht der Moderatorin. Von

Schon der Titel des übersetzten Werkes birgt Diskussionspotential. © Goethe-Institut Korea via lectory.io

Juni 2018, Seo­ul Inter­na­tio­nal Book Fair. Die Über­set­ze­rin Ki-Sook Lee hat den Roman Die Welt im Rücken von Tho­mas Mel­le ins Korea­ni­sche über­tra­gen und stellt ihre Über­set­zung gemein­sam mit dem Autor wäh­rend einer Podi­ums­ver­an­stal­tung vor. Sie berich­tet dabei von ihren Erfah­run­gen mit einer neu­en sozia­len Pra­xis des lite­ra­ri­schen Über­set­zens, in deren Rah­men ihre Arbeit entstand:

Das Merck Social-Trans­la­ting-Pro­jekt ermög­licht mir, mit Über­set­zern über Gren­zen und Spra­chen hin­weg in einen Dia­log zu tre­ten. Dadurch habe ich eine ganz neue Sicht auf das Über­set­zen gewonnen.

Auch Tho­mas Mel­le, der als Autor beim Social Trans­la­ting zuge­schal­tet ist und zeit­nah die Fra­gen der Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer beant­wor­tet, spricht in einem Inter­view auf der Mes­se in Seo­ul über den inten­si­ven Austausch:

Erst ein­mal bin ich hin und weg über die zehn Über­set­zun­gen, die da ent­stan­den sind. Und der Text wird in der Refle­xi­on der ver­schie­de­nen Spra­chen und Kul­tu­ren, der über­set­ze­ri­schen Pro­ble­me, noch ein­mal ganz anders trans­pa­rent. Es war anstren­gend, aber auch abso­lut loh­nens­wert. Ich freue mich über jede ein­zel­ne Über­set­zung und über den gan­zen Pro­zess, den wir da hin­ter uns haben.

Ein Buch, ein Dis­kurs, zehn Übersetzungen

Das Pro­jekt wur­de unter Feder­füh­rung von Mari­len Daum vom Goe­the-Insti­tut Korea in Part­ner­schaft mit Merck Korea ent­wi­ckelt und ist in sei­ner Art ein­zig­ar­tig: Es eröff­net zehn Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zern einen digi­ta­len Raum, in dem sie ihre Über­set­zun­gen im Aus­tausch unter­ein­an­der sowie im engen Dis­kurs mit dem Autor erar­bei­ten kön­nen. Hier­zu wird erst­mals eine E‑Book-Platt­form namens Lec­to­ry genutzt, die Rand­no­ti­zen am Text des digi­ta­len Buch­ti­tels und auf­ein­an­der auf­bau­en­de Kom­men­ta­re der zuge­schal­te­ten Akteu­re erlaubt. Die betei­lig­ten Goe­the-Insti­tu­te aus Ost­asi­en, Süd­ost­asi­en und Süd­asi­en nut­zen Mög­lich­kei­ten des digi­ta­len Publi­zie­rens und so ent­ste­hen im Rah­men des Pro­jek­tes zehn Über­set­zun­gen des Romans Die Welt im Rücken von Tho­mas Mel­le in fol­gen­de Spra­chen: Ben­ga­li, Chi­ne­sisch (Lang­zei­chen, Kurz­zei­chen), Japa­nisch, Korea­nisch, Mara­thi, Mon­go­lisch, Sin­gha­le­sisch, Thai und Vietnamesisch.

Die Aus­wahl des Buch­ti­tels für den Social-Trans­la­ting-Dis­kurs wur­de von den zehn betei­lig­ten Goe­the-Insti­tu­ten in Zusam­men­ar­beit mit Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zern getrof­fen. Grund­la­ge war eine Short­list, die der Lite­ra­tur­be­reich des Goe­the-Insti­tuts in Mün­chen mit Tho­mas Gei­ger, Lite­ra­ri­sches Col­lo­qi­um Ber­lin (LCB), erstellt hat­te. Die Goe­the-Insti­tu­te in Asi­en nomi­nier­ten die Übersetzer/innen. Neben Ki-Sook Lee sind dar­un­ter ande­re erfah­re­ne Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer, die bereits anspruchs­vol­le lite­ra­ri­sche Wer­ke über­setzt und zum Teil beein­dru­cken­de Publi­ka­ti­ons­lis­ten vor­ge­legt hatten.

Als Auf­takt tra­fen sich die Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer im Novem­ber 2017 am feder­füh­ren­den Goe­the-Insti­tut in Seo­ul. Per Sky­pe war auch der Autor Tho­mas Mel­le in Ber­lin zuge­schal­tet. Nach einer Vor­stel­lungs­run­de bestand die Gele­gen­heit, bereits ent­stan­de­ne Fra­gen zum Roman, aber auch zu über­set­ze­ri­schen Aspek­ten zu dis­ku­tie­ren. Die offe­ne, enga­gier­te Dis­kus­si­on auf dem Tref­fen in Seo­ul hat Neu­gier­de und Moti­va­ti­on der Grup­pe sicht­lich geför­dert und Ver­trau­en für einen offe­nen Dia­log im digi­ta­len Raum geschaffen.

Nach die­ser per­sön­li­chen Begeg­nung begann der Dis­kurs über das Buch Die Welt im Rücken. Die Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer tref­fen sich seit­her täg­lich im digi­ta­len Forum auf der Lec­to­ry-Platt­form, um ihre Fra­gen zu ein­zel­nen Text­stel­len zu klä­ren, Ein­drü­cke aus­zu­tau­schen oder kul­tu­rel­le Dif­fe­ren­zen zu dis­ku­tie­ren. Wie bereits wäh­rend des Auf­takt­tref­fens in Seo­ul ist Deutsch die Dis­kurs­spra­che auf der Plattform.

Autor Tho­mas Mel­le unter­stützt die Arbeit der Über­set­zer, indem er Begrif­fe, Anspie­lun­gen und Kon­tex­te erläu­tert. Ergän­zend bin­det er hilf­rei­che Mate­ria­li­en wie Text­aus­zü­ge, You­Tube-Vide­os, Links und Lite­ra­tur­hin­wei­se ein. Er kann somit Ver­mu­tun­gen unmit­tel­bar bestä­ti­gen oder wider­le­gen und Bezü­ge mit Wor­ten und audio-visu­ell bebil­dern. Bedeu­tungs­be­zü­ge von Text­pas­sa­gen und Fra­gen des kul­tu­rel­len Kon­tex­tes, aber auch ört­li­che und zeit­li­che Spe­zi­fi­ka kön­nen näher beleuch­tet, erklärt und mit Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen ange­rei­chert wer­den. Mel­le erklärt:

Grund­sätz­li­che wie ganz spe­zi­el­le Fra­gen wer­den auf­ge­wor­fen, und der Text muss noch ein­mal ganz von vor­ne auf­ge­rollt wer­den, im Dia­log oder eben im Gespräch mit meh­re­ren. Anspie­lun­gen wer­den zuhauf ent­schlüs­selt, Dop­pel­deu­tig­kei­ten erklärt. Ich habe natür­lich kei­ne Fra­gen mehr an den Text gehabt, so war mei­ne Rol­le die des Ant­wor­ten­den. Und natür­lich auch des Redu­zie­rers der eige­nen Spra­che, die erst ein­mal im Fra­ge-Ant­wort-Spiel auf Ein­deu­tig­kei­ten zurück­ge­schraubt wer­den muss­te, wel­che dann, glau­be ich, auch wie­der auf­ge­blät­tert wer­den konn­ten von den Über­set­zern – weil ich auch immer sagen konn­te, was mit­ge­meint ist in der jewei­li­gen For­mu­lie­rung, was mitschwingt.

Ki-Sook Lee aus Seo­ul bringt die Vor­tei­le, die der Aus­tausch für ihre Über­set­zung ins Korea­ni­sche hat, auf den Punkt:

Ers­tens konn­te ich man­che Unklar­hei­ten im Text durch die direk­ten Feed­backs des Autors besei­ti­gen. Zwei­tens war der Aus­tausch mit den ande­ren Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zern anre­gend. Drit­tens war die Zusam­men­ar­beit auf der Lec­to­ry-Platt­form für mich eine Gele­gen­heit der Selbstreflexion.

Ers­te Ergeb­nis­se und ein Ausblick

Für alle zehn Über­set­zun­gen, die im Rah­men des Pro­jek­tes ent­ste­hen, wur­den Ver­la­ge gefun­den. Die ers­ten publi­zier­ten Über­set­zun­gen wer­den in Seo­ul, Frank­furt, Tokyo und Peking vor­ge­stellt. Die digi­ta­le Platt­form wur­de von den Akteu­ren des Pro­jek­tes sehr gut ange­nom­men; der Aus­tausch in dem geschlos­sen Raum mit dem Autor, aber auch unter den Über­set­zern, inten­siv geführt. Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zern, die nach Beginn des Pro­jek­tes eben­falls mit dem Über­set­zen von Die Welt im Rücken began­nen, wur­de ein Zugang zu dem Dis­kurs auf der Social-Trans­la­ting-Platt­form (als „Stil­len Lesern“) ermöglicht.

Der ers­te Social-Trans­la­ting-Dis­kurs wird im Okto­ber 2018 abge­schlos­sen sein. Die Goe­the-Insti­tu­te in Asi­en haben bereits ent­schie­den, die Erfah­run­gen für einen zwei­ten Dis­kurs nutz­bar zu machen. Soll­te sich der Mehr­wert des Social Trans­la­ting für das lite­ra­ri­sche Über­set­zen bestä­ti­gen, wäre die Pro­fes­si­on des Über­set­zens um eine kol­la­bo­ra­ti­ve digi­ta­le Spiel­art reicher.

Mehr Infor­ma­tio­nen zum Social-Trans­la­ting-Pro­jekt gibt es auch unter www.goethe.de/korea/socialtranslating.
Auf der Frank­fur­ter Buch­mes­se sind die Betei­lig­ten im Gespräch mit dem Autor Tho­mas Mel­le zu erleben:
Don­ners­tag, 11. Okto­ber 2018, 16:30–17:30 Uhr
Frank­fur­ter Buch­mes­se: Büh­ne Welt­emp­fang (Hal­le 4.1)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert