Die bisherigen Debattenbeiträge im Überblick:
(1) Sieglinde Geisel: Übersetzen heißt antworten (27. Juni 2018)
(2) Felix Pütter: Antworten heißt interpretieren (11. Juli 2018)
(3) Sieglinde Geisel: Übersetzen – im Geist des Originals (17. Juli 2018)
(4) Felix Pütter: Kritik – Im Geist der Übersetzung (12. September 2018)
(5) Dirk van Gunsteren: Verfälschen ist kein Übersetzen (7. Oktober 2018)
Liebe Debattierende,
mit großem Interesse verfolge ich die Kontroverse über Übersetzungskritik, die sich seit Juni 2018 auf TraLaLit entspinnt. Ich hatte eigentlich gar nicht vor, mich da einzumischen. Denn obwohl ich die eine oder andere Feststellung von Sieglinde Geisel befremdlich fand, fühlte ich mich durch Felix Pütter vertreten. Zum Verfassen dieses polemischen Kommentars hat mich letztendlich der Beitrag von Dirk van Gunsteren motiviert, oder genauer gesagt, provoziert, in dem der Übersetzer aufgefordert wird, seine Interpretation sowie sein Ego aus dem Spiel zu lassen und gefälligst dem Autor des „Originals“ zu dienen.
Wenn ich übersetze, will ich aber niemandem und nichts dienen. Ich will weder dem Autor, noch meiner Ausgangs- oder Zielsprache dienen. Ich weiß, dass es hier um eine Metapher geht. Sie verletzt aber mein Ego. Ja, ich bin Übersetzer und habe zufällig auch ein Ego! Warum eigentlich nicht? Ich will jedes Mal genannt werden, wenn man von meiner Übersetzung spricht. Schließlich sind es ja meine Worte, die man da liest. Ich will dafür gelobt werden, wenn sie das Lob verdienen. Ich will mit dem Autor ausgezeichnet werden, wenn er dank meiner Übersetzung einen Preis erhält. Ganz nebenbei und zugleich zugespitzt gefragt: Wie viel Literatur hätten die verehrten Mitglieder des Nobelkomitees dieses Jahr im Original gesichtet? Und wie viele „Originale“ hatten sie eigentlich in den letzten Jahrzehnten gelesen? Ich sehe mich, wenn ich mit einem Autor in Kontakt trete, sei es bei gemeinsamen Lesungen, per Mail oder einfach zum Quatschen auf ein Bierchen, als seinen gleichberechtigten Partner – nicht als seinen Knecht. Ich will mir gar nicht die Situation ausmalen, in der dies tatsächlich der Fall wäre: Dürfte ich dann am Tisch neben ihm sitzen? Oder wäre der Boden eher ein angemessener Platz? Oder müsste ich die ganze Zeit stehen bleiben? Bekäme ich etwa eine Ohrfeige bei einer falschen Frage und einen Peitschenhieb bei einem höflichen Hinweis auf einen Lapsus im „Heiligen Original“?
Ich finde die Dienermetapher grässlich und empfinde sie als Abwertung des Übersetzers und seiner Arbeit. Sie mag gut gemeint sein: Man will damit seinen Respekt vor dem Autor und seinem „Original“ zum Ausdruck bringen. Aber das Gegenteil von gut ist gut gemeint, wie man es so schön auf Deutsch sagt. Ich gehe mit meinem Autor respektvoll und mit seinem Text verantwortungsvoll um. Dafür muss ich mich nicht als seinen Diener verstehen. Schließlich sind wir ja im 21. Jahrhundert! Und von ihm erwarte ich übrigens ein Dankeschön, wenn irgendwann in seinem Postfach ein Paket mit seinem Buch in meiner Übersetzung landet, das er in den meisten Fällen nicht mal wiedererkennen würde, weil er die arabische Schrift nicht entziffern kann.
Wer Herr über seinen Text sein will, der sollte ihn nicht zum Übersetzen freigeben. Und schon gar nicht zum Lesen, wenn er konsequent sein will. Denn sicherlich wird es (böswillige) Lesende geben, die ihm Worte in den Mund legen, von denen er meint, er habe sie nicht geschrieben, oder ihm das eine oder andere Wort im Mund verdrehen, mit dem er etwas völlig anders zu glauben meint. Denn das „Original“ ist in der Tat eine Textmasse, aus der die Lesenden, darunter auch die Übersetzenden, ihre eigenen Texte gestalten. Ich nenne es mit einem greisen Weisen namens Hans J. Vermeer ein Textem, aus dem so viele Texte, wie es Lesende (und Übersetzende) gibt, entstehen können. Ähnlich wie aus einem Phonem der Sprache X so viele Phone entstehen können, wie es Sprechende derselben Sprache gibt. Diese Unterschiede können mit dem „bloßen Ohr“ wahrnehmbar sein, wie es beispielsweise beim Phonem /r/ und seinen geläufigen Phonen, dem Zungenspitzen-[r] und dem Zäpfchen-[r], im Deutschen der Fall ist. Die forensische Phonetik lehrt uns jedoch, dass eine genauere Analyse unendlich viele Varianten der beiden Phone zu Tage fördern kann. Die feinen und daher leicht überhörbaren Unterschiede hängen von allgemeinen Faktoren wie Geschlecht, sozialer und regionaler Herkunft und Alter sowie von situationsspezifischen bzw. individuellen Faktoren wie Stimmung, Sprechgeschwindigkeit, Sprechstil ab.
Die verblüffende Erkenntnis, die eigentlich gar nicht verblüffen darf, ist, dass nicht nur unterschiedliche Sprechende aus demselben Phonem unterschiedliche Phone produzieren, sondern dass ein und derselbe Sprechende verschiedene Phonvarianten in unterschiedlichen Situationen artikuliert.
Die Parallele zum Übersetzen dürfte spätestens ersichtlich sein, wenn man das Selbstexperiment wagt und einen Text in regelmäßigen Zeitabständen immer wieder neu übersetzt. Der Text muss gar kein hermetisches Gedicht der „Höhenkammliteratur“ sein. Ein banaler Dialog aus einem Roman der „Trivialliteratur“ reicht vollkommen. Einer Autorin oder einem Autor, der immer wieder seinen Text neu übersetzt oder gar schreibt, dürfte es – nebenbei bemerkt – gar nicht anders gehen. Ich übersetze, also interpretiere ich, also ändere und verändere ich.
Wem Übersetzerinnen und Übersetzer unheimlich sind, weil sie interpretieren, dem sei von der Lektüre der Übersetzungen dringend abgeraten. Denn Übersetzungen sind nicht ihre „Originale“. Sie sind anders als ihre „Originale“. Sie müssen anders sein. Sie können gar nicht anders! Eine gescheite Übersetzungskritik, ob mit oder ohne Kenntnisse der Ausgangssprache, muss von der simplen Tatsache ausgehen, dass diese Andersartigkeit kein Mangel per se ist. Sie ist vielmehr die Voraussetzung einer jeden Übersetzung.