Rückübersetzungen sind, abgesehen von der einen oder anderen spielerischen Übung in einem Übersetzungsseminar, ein unübliches Phänomen. Umso ungewöhnlicher ist es, dass der in München lebende Holländer Hans de Roos eine über hundert Jahre alte isländische Dracula-Übersetzung von 1901 ins Englische übertragen und 2017 unter dem Namen Powers of Darkness veröffentlichte.
Graf Drakula ist einer der berühmtesten Vampire der Literaturgeschichte und eine Schöpfung des irischen Autors Bram Stoker. Der gleichnamige Roman erschien erstmals 1897 und spielt in England und Transsylvanien des ausgehenden Jahrhunderts. Er erzählt die Geschichte des jungen Anwalts Jonathan Harker, der nach Transsylvanien fährt, weil er Graf Drakula dabei helfen soll, in London ein Haus zu kaufen. Harker besucht das Schloss des Grafen und entdeckt, dass dieser nach Menschenblut lechzt und ihn töten will. Als dieses Vorhaben scheitert, flieht Drakula nach London, wo auch Harkers Verlobte, Mina Murray, in die Geschehnisse verwickelt wird.
Zur Zeit der Entstehung des Romans lebte in Island eine einfache Bauerngesellschaft. Die Industrialisierung der Fischerei, die dem Land in die Moderne verhelfen würde, fing gerade erst an, und die heutige Hauptstadt Reykjavík war ein Dorf mit etwa 6000 Einwohnern. Das Publikum der bis vor ein paar Jahren einzigen isländischen Dracula-Übersetzung war also zum Zeitpunkt des Erscheinens überschaubar. Dennoch war die isländische eine der ersten Übersetzungen des Romans überhaupt – die deutsche erschien beispielsweise erst sieben Jahre später, im Jahre 1908.
Die Übersetzung erschien in der vierzehntäglichen Zeitung Fjallkonan unter dem Titel Makt myrkranna (Dunkle Mächte) in Form eines Fortsetzungsromans, wie viele Übersetzungen bekannter Werke damals. Der Übersetzer Valdimar Ásmundsson (1852–1902) war zugleich Herausgeber der Zeitung, was ebenfalls nicht unüblich war. Er galt als herausragender Verfasser von Texten, und obwohl er ein einfacher Bauernjunge aus dem Norden des Landes war, schaffte er es Teil der gebildeten Schicht der Hauptstadt zu werden. Vor allem war er aber dafür bekannt, der Ehemann von Bríet Bjarnhéðinsdóttir zu sein, einer bekannten Feministin, Aktivistin und Herausgeberin einer Frauenzeitschrift.
Für die Zeitungen übersetzten die Herausgeber ausländische Artikel und oft auch ganze Romane selbst. Diese wurden in viele kurze Abschnitte unterteilt und in einzelnen Kapiteln Ausgabe für Ausgabe weitererzählt – eine Form der Veröffentlichung, wie man sie zu der Zeit auch aus anderen Teilen Europas kennt. Das Vorwort und erste Kapitel von Makt myrkranna erschienen am 13.01.1900. Die Fortsetzung der Geschichte ging über ein Jahr und am 20.03.1901 bekamen die Leser das letzte Kapitel zu sehen. Erst danach wurde der Roman vollständig in einem Heft aus Zeitungspapier gedruckt und vertrieben.
Diese erste Übersetzung Draculas von Valdimar Ásmundsson war lange Zeit in Vergessenheit geraten und höchstens noch in Antiquariaten zu finden. Erst in den 1980er Jahren wurde sie neu aufgelegt und nach und nach auch international bekannt, denn die isländische Übersetzung enthielt im Gegensatz zu der englischen Originalausgabe ein Vorwort, das Bram Stoker persönlich und eigens für die isländische Ausgabe verfasst hatte. Der Literaturwissenschaftler Richard Dalby übersetzte das Vorwort, in dem Stoker wahre Begebenheiten als Grundlage erwähnt, „die noch nicht aus der Erinnerung verschwunden sind“ und die „von der gleichen Herkunft sind und gleich viel Schrecken ausgelöst haben, wie die späteren Morde von Jack the Ripper“.
Richard Dalby scheint jedoch mit der Entdeckung des Vorwortes aufgehört und nicht noch weitergeblättert zu haben, so dass der kurzzeitige Hype schnell wieder vorüberging. Erst der Holländische Dracula-Experte Hans Corneel de Roos entdeckte, dass die isländische Übersetzung noch weitere Geheimnisse birgt. Er machte sich an das Werk, die isländische Übersetzung zurück ins Englische zu übertragen, und gab das Buch 2017 unter dem Titel Powers of Darkness (eine Übersetzung des isländischen Titels Makt myrkranna) heraus. Der Titel bedeutet wortwörtlich „Macht der Dunkelheiten“ und ist im Isländischen ein feststehender Begriff, der als Synonym für „Teufel“ verwendet wird. Mit der Rückübersetzung entstand für englische Leser eine ganz neue Version des Textes, die de Roos für deutlich erotischer, aufregender und raffinierter hält als das Original.
I started copying the text of these chapters to create a complete digital transcription of Makt Myrkranna. I copied some random paragraphs into Google translate and found that the strange gibberish appearing in the right column described scenes not found in the novel Dracula—at least, not as we know it. Jonathan Harker was called „Thomas“ now; Mina appeared as „Wilma“ and Lucy as „Lucia.“ Thus, the Makt Myrkranna translation project was born, and I would not give it up until this lost novel had surrendered its mysteries. What I eventually discovered turned out to be a story more exciting and elegant than Dracula itself.“Ich begann den Text abzutippen und erstellte eine digitale Fassung von Makt myrkranna. Als ich zufällig ausgewählte Abschnitte in den Google Übersetzer eingab, bemerkte ich, dass der eigenartige Wortsalat in der rechten Spalte Szenen wiedergab, die nicht im Dracula-Roman vorkommen, wie man ihn kennt. Jonathan Harker heißt plötzlich „Thomas“, Mina wird „Wilma“ genannt, und aus Lucy wird „Lucia“. Das war der Anfang des Übersetzungsprojektes und ich plante nicht aufzuhören, ehe alle Geheimnisse des Romans gelüftet waren. Ich entdeckte eine neue Geschichte, aufregender und eleganter als Dracula. (eigene Übersetzung)
Nicht nur Namen wurden geändert. Der in Transsylvanien spielende Teil ist etwa 15.000 Wörter länger, während der Teil der Handlung, der in England spielt, um über 125.000 Wörter kürzer ist. Das ist ein deutlich stärkerer Eingriff in den Text, als sich ein Übersetzer heutzutage erlauben würde. Valdimar Ásmundsson war als Herausgeber der Zeitung sein eigener Cheflektor und hatte seine literarischen Entscheidungen nicht rechtfertigen müssen. Doch die Unterschiede sind so extrem, dass es kaum noch möglich ist, die englische Originalversion und die isländische Übersetzung nebeneinanderzulegen und einzelne Stellen direkt zu vergleichen.
Die Erzählform ist in der isländischen Übersetzung anders. Der erste Teil wird wie im Original über Tagebucheinträge überliefert, doch im stark verkürzten zweiten Teil übernimmt in Makt myrkranna ein auktorialer Erzähler. Das letzte Drittel liest sich mehr wie eine Inhaltsangabe als ein literarisches Werk. Es werden ganze Handlungsstränge weggelassen oder stark verändert. Die isländische Version ist in diesem späteren Teil in einzelne Kapitel unterteilt, die zum Teil nur ein paar kurze Absätze lang sind. Die beiden letzten Kapitel tragen beispielsweise den Titel „Der Graf wird getötet“ und „Schluss“. In wenigen Absätzen wird die Handlung grob zusammengefasst. Am Ende heißt es:
Morris játaði að hann hefði drepið greifann, og var það mál rannsakað fyrir lokuðum dyrum of hann sýknaður. Ekkert hefir spurzt til greifynjunnar eða annara sem vóru í Carfax með greifanum. Húsið var í eyði þegar farið var að gæta að, nema húsbúnaðurinn var kyrr. Kistur greifans fundust allar nema þrjár, og vóru í þeim gullpeningar og gimsteinar milljóna virði. Húsin standa enn í eyði, en ekki er fyrir að synja, að fylgjarar greifans geti enn dulizt einhversstaðar.Morris gab zu, den Grafen getötet zu haben, der Fall wurde hinter verschlossenen Türen untersucht und er freigelassen. Von der Gräfin, oder den anderen, die sich mit dem Grafen in Carfax aufgehalten hatten, hörte man nichts mehr. Als man das Haus überprüfte, stand es leer, die Inneneinrichtung unbewegt. Alle bis auf drei Kisten des Grafen wurden gefunden und in ihnen befanden sich Goldstücke und Edelsteine im Wert von Millionen. Die Häuser stehen immer noch leer, doch es ist nicht auszuschließen, dass die Anhänger des Grafen sich noch irgendwo herumtreiben. (deutsche Übersetzung: Freyja Melsted)
Zum Vergleich der Schluss wie in der Originalversion, hier in deutscher Übersetzung von Stasi Kull. In einer Notiz denkt Jonathan Harker sieben Jahre später an die Geschehnisse zurück:
Wir konnten kaum jemanden fragen, noch wollten wir es, dies alles als Beweis für eine solch wilde Geschichte zu akzeptieren. Van Helsing fasste dies alles zusammen, als er, mit unserem Jungen auf seinen Knien, sprach: „Wir wollen keine Beweise; wir bitten niemanden uns zu glauben! Dieser Junge wird eines Tages wissen, was für eine tapfere und galante Frau seine Mutter ist. Er kennt bereits ihre Lieblichkeit und ihre liebende Fürsorge; später wird er verstehen, wie einige Männer sie so sehr liebten, dass sie so vieles um ihretwillen wagten.“-Johnathan Harker (deutsche Übersetzung des Originals von Stasi Kull, dtv 2008)
Auch stilistisch gibt es deutliche Unterschiede. Das Englisch von Bram Stoker ist ausgeschmückt, wie für das viktorianische Zeitalter typisch, und wurde in ein simples und direktes Isländisch übersetzt, das an die mittelalterlichen Sagas erinnert. Ein möglicher Grund für die knappere und konkretere Sprache könnte die Form der Fortsetzungsgeschichte gewesen sein. Der Übersetzer versuchte Platz zu sparen. Außerdem war es wichtig, die Spannung aufrecht zu erhalten. Valdimar passte die Geschichte an die isländische Leserschaft an, die im Gegensatz zum englischen Publikum kaum über Vampire Bescheid wissen konnte. Die Spannung im Original wird aufgebaut, indem Harker immer mehr über Drakula als Vampir erfährt – die dem englischen Leser der Zeit durchaus bekannt waren. Die isländischen Leser waren mit der Thematik nicht vertraut. Außerdem erschien die originale Fassung in einem Stück, Valdimar musste aber versuchen, die inhaltliche Spannung so aufrecht zu erhalten, dass die Leser zwei Wochen später die nächste Ausgabe kaufen würden.
Die Form der Fortsetzungsgeschichte mag gewisse Abänderungen in der Übersetzung erklären, und doch sprechen einige Aspekte dagegen, dass alle Veränderungen auf kreative Freiheit des Übersetzers zurückzuführen sind. Dass Namen beispielsweise ins Isländische adaptiert werden, ist nicht ungewöhnlich und kommt selbst heute immer wieder vor. Allerdings sind die geänderten Namen in Makt myrkranna englische Namen, was dagegen spricht, dass Valdimar sie erfunden hat.
Im Bezug auf die inhaltlichen Änderungen hält de Roos es für unwahrscheinlich, dass Valdimar Ásmundsson diese ohne das Wissen Stokers vorgenommen habe. Als Autoren von Powers of Darkness nennt er sowohl Valdimar Ásmundsson als auch Stoker selbst, und überlegt, ob es vielleicht eine direkte Kommunikation oder gar Zusammenarbeit der beiden gegeben haben könnte. Er weist auch darauf hin, dass manche Aspekte der alternativen Handlungen in Notizen Stokers gefunden wurden. De Roos vermutet, dass die isländische Übersetzung auf einem anderen Manuskript beruht als der publizierten englischen Version. Es handelt sich dabei eventuell um eine ältere Version, die im viktorianischen England nicht so erfolgreich gewesen wäre. Bram Stoker könnte sogar die isländische Übersetzung als Möglichkeit gesehen haben, eine unzensierte Version seines Romans an die Öffentlichkeit zu bringen.
In der Übersetzung werden vor allem aus dem in England spielenden Teil des Romans Passagen weggelassen. In einem Nachwort zu einer Wiederauflage der isländischen Übersetzung vermutet Ásgeir Jónsson, dass die Geschichte für die Form der Fortsetzungsgeschichte zu lang war und deshalb gekürzt wurde. Fjallkonan bestand pro Ausgabe nur aus vier Seiten und der Fortsetzungsroman nimmt davon eine halbe bis eine Seite in Anspruch.
Die Änderungen in der Übersetzung gehen aber über bloße Kürzungen des Texts hinaus (zumal diese heutzutage auch nicht unüblich sind). Die Übersetzung enthält zusätzliche Personen und Ereignisse, die in Dracula nicht vorkommen, andere wiederum werden verändert. In der Originalversion lebt Drakula zusammen mit drei weiblichen Vampiren, zwei dunkelhaarigen und einer blonden, auf die jedoch nicht sonderlich eingegangen wird, auch nicht, wie sie zu Drakula stehen. In Valdimars Version lebt der Graf nur mit einer weiblichen Vampirin zusammen, sie ist blond und seine Nichte und zugleich Ehefrau. Sie ist eine handelnde und sprechende Figur, die deutlich mehr Aufmerksamkeit erhält als die weiblichen Vampire im Original.
Die Figur des Graf Drakula unterscheidet sich bei Valdimar Ásmundsson nicht unwesentlich von der Figur Bram Stokers. In Makt myrkranna interessiert sich Drakula in seinen Gesprächen mit Jonathan Harker vor allem für juristische und geschichtliche Themen. In der isländischen Übersetzung werden auch Inhalte wie Sozialismus, Anarchismus und Darwins Theorien natürlicher Selektion angesprochen. Dies gibt der Geschichte eine zusätzliche politische Ebene. Die Gefahr, die von Graf Drakula ausgeht, sind nicht nur die triebtäterischen Verbrechen, sondern auch seine Auffassung von Darwins Theorien, dass Stärkere über Schwächere herrschen sollten. Der Drakula in Makt myrkranna ist machthungriger und reist nicht etwa nach England, um Lucy oder Mina zu verführen. Er will nach England reisen, weil es im 19. Jahrhundert als das Zentrum der Welt gilt und er meint, von dort aus die Weltherrschaft an sich reißen zu können:
With tiredless dedication, everything is finally set for the great revolution. Our cause acquires new followers every day. Those of mankind who are „chosen“ have suffered for far too long under unbearable oppression, bigotry, and the shame of majority rule. We have outgrown these slave morals and will soon reach the point where we can preach the message of freedom. The world must bow before the strong ones.“ (Aus Powers of Darkness)Dank unermüdlichem Einsatz ist endlich alles bereit für die große Revolution. Unsere Gefolgschaft wächst mit jedem Tag. Die „Auserwählten“ unter den Menschen haben zu lange unter unerträglicher Unterdrückung, Bigotterie und der Demütigung der Mehrheitsherrschaft gelitten. Wir haben diese Sklavenmoral hinter uns gelassen und werden bald die Botschaft der Freiheit verkünden können. Die Welt muss sich verneigen, vor den Starken.“ (Aus Powers of Darkness, eigene Übersetzung)
Die Geschichte der kuriosen isländischen Übersetzungen ist noch lange nicht zu Ende. Kurz nach dem Erscheinen von Powers of Darkness setzte sich der Schwede Rickard Berghorn mit de Roos in Verbindung und wies in auf eine schwedische Ausgabe mit dem Titel Mörkrets makter hin, die 1899 in der Zeitung Dagen erschien, übersetzt von einem Übersetzer oder einer Übersetzerin, die mit dem Kürzel “A—e.” unterschreibt. Isländische Literaturwissenschaftler, allen voran Guðni Elíasson von der Universität Islands in Reykjavík, vermuteten schon länger eine Verbindung zu anderen skandinavischen Quellen. Es ist nicht auszuschließen, dass Valdimar Ásmundsson die schwedische Version als Vorlage hatte und somit die alternative isländische Version nicht einzigartig ist. Diese Theorie erklärt allerdings nicht, warum der schwedische Text vollständiger scheint und sogar völlig neue Szenen enthält, die weder aus Dracula noch aus Makt myrkranna bekannt waren und in der auch die Figur des Renfield nicht herausgestrichen wurde, so wie in der isländischen Version.
Dracula erschien in Island 2013 in einer vollständigen Neuübersetzung von Gerður Sif Yngvarsdóttir und diese ist – oberflächlich betrachtet – eine wesentlich genauere Übersetzung des Originals, voller zusätzlicher Fußnoten und Erklärungen. Valdimar Ásmundssons Version wird jedoch nicht in Vergessenheit geraten, denn es sind noch nicht alle Rätsel um den Text gelöst und es gibt viele Hinweise dafür, dass es sich bei der Version, die in Island über ein Jahrhundert lang als Übersetzung von Dracula gelesen wurde, um etwas anderes als eine Übersetzungen handelt. Eine deutsche Übersetzung von Makt myrkranna ist bereits in Arbeit und auch eine englische Übersetzung von Mörkrets makter soll demnächst entstehen.
Bram Stoker und Valdimar Ásmundsson/Hans de Roos: Powers of Darkness (im isländischen Original: Makt myrkranna)
The Overlook Press 2017 ⋅ 320 Seiten ⋅ 30 Dollar
www.abramsbooks.com/product/powers-of-darkness_9781468313369/
Bram Stoker/Valdimar Ásmundsson: Makt myrkranna. Sagan af Drakúla greifa (englisches Original?)
Neuauflage von Forlagið 2011 ⋅ 220 Seiten ⋅ 500 ISK