Rumä­ni­ens ver­lo­re­ne Morgenröte

Am 21. März werden die drei Preise der Leipziger Buchmesse vergeben. Einer davon geht in jedem Jahr an eine Übersetzerin oder einen Übersetzer. Auf TraLaLit stellen wir in den Wochen vor der Buchmesse die fünf Nominierten vor. Von

Das Buch

Man brauch­te die Bio­gra­phie der Autorin Gabrie­la Ada­meș­te­anu gar nicht zu ken­nen, die selbst Autoren wie Mau­pas­sant ins Rumä­ni­sche über­setzt und eine Examens­ar­beit über Proust ver­fass­te, um zu wis­sen: Wir lesen hier eine Hom­mage, eine Par­odie, ein Pas­ti­che fran­zö­si­scher Roman­kunst. Allein der Titel Ver­lo­re­ner Mor­gen, rumä­nisch Dimi­ne­ață pier­du­tă, lässt Prousts À la recher­che du temps per­du unver­hoh­len nachhallen.

Was ist hier pierdută/perdu/verloren? Zunächst ein­mal: der Mor­gen, an dem die gan­ze Rah­men­hand­lung des Romans spielt. Ein Win­ter­mor­gen des Jah­res 1980, es ist kalt auf den Stra­ßen Buka­rests, und Vica Del­că, ihres Zei­chens Gemischt­wa­ren­händ­le­rin im Ruhe­stand, knallt erbost die Tür ihrer Miet­woh­nung zu, „dass die Schei­ben klir­ren“. Die Träg­heit ihres Gat­ten, der im Roman­text nur unter dem Kose­na­men „Rind­viech“ fir­miert, hat mal wie­der die Gren­ze des Erträg­li­chen über­schrit­ten. In Erman­ge­lung gast­freund­li­che­rer Anlauf­stel­len sucht sie zunächst ihre Schwä­ge­rin auf (die nicht zu Hau­se ist) und dann Ivo­na, die Toch­ter ihrer ehe­ma­li­gen Che­fin (die sie nach eini­ger War­te­zeit in der Käl­te schließ­lich einlässt).

War­um aber pier­du­tă? Was sich in der Unter­hal­tung die­ser bei­den unglei­chen Frau­en Vica und Ivo­na ent­spinnt, deu­tet auf den gro­ßen meta­pho­ri­schen Gehalt die­ses Titels. Mit­tels bril­lant in den Text ein­ge­wirk­ter Rück­blen­den, Quer­ver­wei­se und Per­spek­tiv­wech­sel erzählt Ada­meș­te­anu vor der Folie die­ses einen Ver­lo­re­nen Mor­gens vom ver­lo­re­nen Mor­gen Rumä­ni­ens. Eigent­lich könn­ten die zwei Frau­en näm­lich exem­pla­risch für zwei Gesell­schafts­ent­wür­fe ste­hen: Hier die bil­dungs­bür­ger­li­che Mor­gen­rö­te der jun­gen rumä­ni­schen Nati­on Anfang des 19. Jahr­hun­derts, von der noch Ivo­nas Vater in einer 250 Sei­ten lan­gen Rück­blen­de träum­te, dort die sozia­lis­ti­sche Auf­stei­ger­ge­schich­te Vicas von der Gehil­fin im Waren­haus zur Ladenbesitzerin.

Am Ende des Tages sit­zen aber sowohl Vica als auch Ivo­na in ihren her­un­ter­ge­kom­me­nen Häu­sern, die eine in einem viel zu gro­ßen Anwe­sen vol­ler alter Foto­gra­fien und ver­schlis­se­ner Möbel, die ande­re in ihrer fle­cki­gen, lee­ren Woh­nung. Trotz der Zen­sur­be­din­gun­gen, unter denen die Autorin im Ceaușes­cu-Rumä­ni­en der Acht­zi­ger­jah­re schrieb, zeich­net der Roman ein kaum ver­hoh­len kri­ti­sches Bild sei­ner Gegenwart.

Für den lite­ra­ri­schen Kanon in deut­scher Spra­che ist die Über­set­zung die­ses Romans über­fäl­lig, denn er besticht nicht nur durch his­to­ri­sche Ein­sicht, son­dern vor allem durch eine unge­heu­er kunst­fer­ti­ge Kom­po­si­ti­on, die mit sprach­li­chen Mit­teln die gan­ze Welt zu erfas­sen ver­mag und inso­fern ihrem – etwas unge­rech­ter­wei­se berühm­te­ren – fran­zö­si­schen Roman­vor­bild in nichts nachsteht.

Die Jury­be­grün­dung

„Rumä­ni­ens Höhen­flü­ge und Abstür­ze im 20. Jahr­hun­dert, gespie­gelt in einem epi­schen Bewusst­seins­strom. Eva Ruth Wem­me hat Gabrie­la Ada­mes­te­an­us Haupt­werk aus dem Jahr 1973 mit gro­ßem Gespür für den läs­ter­li­chen Ton sei­ner Erzäh­le­rin Vica übersetzt.“

Die Über­set­zung

Wenn man sich traut, einen Ver­gleich mit dem Sport zu zie­hen, dann kann man auch in der Kunst der Über­set­zung ver­schie­de­ne Dis­zi­pli­nen unter­schei­den. Ada­meș­te­an­us Vor­la­ge gleicht in die­ser Hin­sicht einem über­set­ze­ri­schen Zehn­kampf. Der rumä­ni­sche Text war­tet mit so ziem­lich allen Her­aus­for­de­run­gen auf, die man sich nur den­ken kann: rot­zi­ge Umgangs­spra­che, bil­dungs­bür­ger­li­cher Jar­gon, Rei­me, heik­le Tem­pus­ab­stu­fun­gen und ‑kon­tras­te, mul­ti­ple Erzähl­stim­men in ers­ter, drit­ter und sogar zwei­ter(!) Per­son Sin­gu­lar, unge­fil­ter­te Gedan­ken­strö­me, fremd­sprach­li­che Ein­spreng­sel, his­to­ri­sche Ver­wei­se, und und und.

Von der Jury und auch in Rezen­sio­nen ist beson­ders der Ton gelobt wor­den, den Wem­me für den Gedan­ken­strom Vicas gefun­den hat. In der Tat ist die über­set­ze­ri­sche Ver­ve, mit der sie Vicas Gos­sen­spra­che in die fei­ne Welt der Ioani­us hin­ein­grät­schen lässt, sehr unter­halt­sam. Wenn man sich die rumä­ni­sche Thea­ter­fas­sung von Cătă­li­na Buzoia­nu aus dem Jahr 1987 mit Tama­ra Buciuce­a­nu-Botez in der Haupt­rol­le bei You­tube ansieht, dann kann man Wem­mes deut­sche Fas­sung pro­blem­los mitlesen.

Ihre Wir­kung bezieht die­se sprach­li­che Schrul­lig­keit aber auch in der Über­set­zung erst aus den Kon­tras­ten zu ganz ande­ren Ton­fäl­len: Zur ver­hal­te­ne­ren Rede­wei­se der Ivo­na, zum distin­gu­ier­ten Par­lan­do des groß­bür­ger­li­chen Salons 1914, und zur Nach­denk­lich­keit ihres ver­son­ne­nen Nef­fen Gelu im meis­ter­haf­ten Epi­log. Die Gefahr, sich in Kli­schees zu ver­fan­gen und kit­schi­gen Kla­mauk zu pro­du­zie­ren, muss das Über­set­zungs­pro­jekt wie eine wan­ken­de Fels­wand von jeder Sei­te bedroht haben. Dass kei­ne Wand gekippt ist, dass aus Welt­li­te­ra­tur auch auf Deutsch Welt­li­te­ra­tur wur­de, ist für sich genom­men schon preiswürdig.

Und dabei haben wir noch gar nicht erwähnt, dass Wem­me ganz neben­bei eine völ­lig eige­ne über­set­ze­ri­sche Ästhe­tik kre­iert, die sich nicht scheut, unüb­li­che Kon­struk­tio­nen für das Deut­sche frucht­bar zu machen, wie in die­sem Beispiel:

Die schä­big-wei­ße, hohe Wand umgibt uns von allen Sei­ten des Hofes, kaum, dass hier von oben eine Ecke des farb­lo­sen Him­mels hereindringt.

Das ist poe­tisch, aber zugleich spä­tes­tens beim zwei­ten Lesen holp­rig. „Kaum, dass“? Das hät­te man auch rou­ti­niert weg­lek­to­rie­ren (also: durch „idiomatischere“/„deutschere“ For­mu­lie­run­gen erset­zen) kön­nen. Und der­lei eigen­wil­li­ge Satz­kon­struk­tio­nen fin­det man fast auf jeder Sei­te. Ein wei­te­res Beispiel:

Gedan­ken­ver­sun­ken frös­telt Sophie unter ihrem wei­ßen Sei­den­schal. Trotz ihrer her­vor­ste­hen­den Augen, ihrer ziem­lich schma­len Lip­pen, trotz der zahl­rei­chen Unvoll­kom­men­hei­ten und ihrer fort­ge­schrit­te­nen Schwan­ger­schaft hat Sophie nicht auf­ge­hört, attrak­tiv zu sein. Und als sie es wie jede Frau spürt, dass sie beob­ach­tet wird, wen­det auch sie sich dem jun­gen Mann zu und sieht ihn an.

Auch hier gibt sich der Text gar kei­ne Mühe, sei­ne Über­setzt­heit zu ver­schlei­ern. Kei­ne deut­sche Schrift­stel­le­rin wür­de so for­mu­lie­ren. Bei Wem­me sind sol­che sprach­li­chen Fremd­kör­per aber kei­ne Ver­ge­hen, son­dern Glücks­grif­fe, denn in ihrer Gesamt­heit gerin­nen sie zu einer eige­nen lite­ra­ri­schen Spra­che, die gar nicht erst ver­sucht, den Text auf Deutsch bruch­los neu zu schrei­ben. Aus den Scher­ben der Wört­lich­keit setzt Eva Ruth Wem­me viel­mehr ihre Cha­rak­te­re über­haupt erst zusammen.

Inso­fern darf man sie getrost einer über­set­ze­ri­schen Strö­mung zurech­nen, die in letz­ter Zeit ein wenig aus der Mode zu gera­ten scheint, die aber auf kei­nen ande­ren als den gro­ßen Wal­ter Ben­ja­min zurück­zu­füh­ren ist. For­der­te die­ser doch in sei­nem klas­si­schen Auf­satz Die Auf­ga­be des Übersetzers:

Es ist daher, vor allem im Zeit­al­ter ihrer Ent­ste­hung, das höchs­te Lob einer Über­set­zung nicht, sich wie ein Ori­gi­nal ihrer Spra­che zu lesen. Viel­mehr ist eben das die Bedeu­tung der Treue, wel­che durch Wört­lich­keit ver­bürgt wird, daß die gro­ße Sehn­sucht nach Spra­cher­gän­zung aus dem Wer­ke spre­che. Die wah­re Über­set­zung ist durch­schei­nend, sie ver­deckt nicht das Ori­gi­nal, steht ihm nicht im Licht, son­dern läßt die rei­ne Spra­che, wie ver­stärkt durch ihr eige­nes Medi­um, nur um so vol­ler aufs Ori­gi­nal fallen.

Von die­ser Sicht auf das Über­set­zen war die Jury des Prei­ses der Leip­zi­ger Buch­mes­se – und bei wei­tem nicht nur die – in den ver­gan­ge­nen Jah­ren äußerst weit ent­fernt. Statt Wört­lich­keit und Sprach­er­wei­te­rung wur­den fast immer jene geprie­sen, die, wie es in Leip­zig ein­mal hieß, „dem weit ent­fern­ten Frem­den in der neu­en Spra­che eine Hei­mat schaffen“.

Eva Ruth Wem­me schafft kei­ne Hei­mat, son­dern führt uns in eine frem­de Welt ein. Inso­fern bedeu­tet schon ihre Nomi­nie­rung einen Mei­len­stein. Erhiel­te sie tat­säch­lich den Preis, dann wäre das ein Tri­umph für die Viel­falt der über­set­ze­ri­schen Ansätze.

Lieb­lings­satz

„Soll er quat­schen, solan­ge er will, da kann er sein Maul bis zu den Ohren auf­rei­ßen, kann reden, kann sich’s sel­ber anhö­ren, Män­ner­ge­re­de sollst du sie­ben und dir dann untern Hin­tern schie­ben, wie sie zu Madam Ioaniu sag­te … Da lach­te die Alte aber …“

Zwei Fra­gen an die Nominierte

Was macht das Buch aus?
Eva Ruth Wem­me: Es ist vir­tu­os kon­stru­iert, erzählt Geschich­te, spricht in vie­len kom­plex aus­dif­fe­ren­zier­ten Stim­men, ist auf­rüh­re­risch, trau­rig, tri­um­phal. Vir­tuo­si­tät auf allen Ebe­nen – sprach­lich, emo­tio­nal, gesellschaftlich.

Was haben Sie beim Über­set­zen gelernt?
Eva Ruth Wem­me: Immer auf alles gefasst zu sein. In die Abgrün­de der Spra­che zu bli­cken und nicht abzu­stür­zen, ein Draht­seil­akt, die vie­len Nuan­cen und Brü­che der Figu­ren zusam­men­zu­füh­ren – Durch­hal­ten also. Aber vor allem habe ich eine gro­ße Autorin noch ein­mal genau­er ken­nen und schät­zen gelernt! In die­sem Buch ist mir noch ein­mal vor Augen gekom­men, war­um Schrei­ben eine Kunst ist.


Gabrie­la Adameșteanu/Eva Ruth Wem­me: Ver­lo­re­ner Mor­gen (Im rumä­ni­schen Ori­gi­nal: Dimi­ne­ață pierdută)

Die Ande­re Biblio­thek 2018 ⋅ 564 Sei­ten ⋅ 42 Euro

www.die-andere-bibliothek.de/Originalausgaben/Verlorener-Morgen::741.html

Anm. d. Red.: Die­se Rezen­si­on wur­de ohne Berück­sich­ti­gung des Ori­gi­nal­tex­tes ver­fasst. Mehr zum The­ma hier.

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