Das Buch
Man brauchte die Biographie der Autorin Gabriela Adameșteanu gar nicht zu kennen, die selbst Autoren wie Maupassant ins Rumänische übersetzt und eine Examensarbeit über Proust verfasste, um zu wissen: Wir lesen hier eine Hommage, eine Parodie, ein Pastiche französischer Romankunst. Allein der Titel Verlorener Morgen, rumänisch Dimineață pierdută, lässt Prousts À la recherche du temps perdu unverhohlen nachhallen.
Was ist hier pierdută/perdu/verloren? Zunächst einmal: der Morgen, an dem die ganze Rahmenhandlung des Romans spielt. Ein Wintermorgen des Jahres 1980, es ist kalt auf den Straßen Bukarests, und Vica Delcă, ihres Zeichens Gemischtwarenhändlerin im Ruhestand, knallt erbost die Tür ihrer Mietwohnung zu, „dass die Scheiben klirren“. Die Trägheit ihres Gatten, der im Romantext nur unter dem Kosenamen „Rindviech“ firmiert, hat mal wieder die Grenze des Erträglichen überschritten. In Ermangelung gastfreundlicherer Anlaufstellen sucht sie zunächst ihre Schwägerin auf (die nicht zu Hause ist) und dann Ivona, die Tochter ihrer ehemaligen Chefin (die sie nach einiger Wartezeit in der Kälte schließlich einlässt).
Warum aber pierdută? Was sich in der Unterhaltung dieser beiden ungleichen Frauen Vica und Ivona entspinnt, deutet auf den großen metaphorischen Gehalt dieses Titels. Mittels brillant in den Text eingewirkter Rückblenden, Querverweise und Perspektivwechsel erzählt Adameșteanu vor der Folie dieses einen Verlorenen Morgens vom verlorenen Morgen Rumäniens. Eigentlich könnten die zwei Frauen nämlich exemplarisch für zwei Gesellschaftsentwürfe stehen: Hier die bildungsbürgerliche Morgenröte der jungen rumänischen Nation Anfang des 19. Jahrhunderts, von der noch Ivonas Vater in einer 250 Seiten langen Rückblende träumte, dort die sozialistische Aufsteigergeschichte Vicas von der Gehilfin im Warenhaus zur Ladenbesitzerin.
Am Ende des Tages sitzen aber sowohl Vica als auch Ivona in ihren heruntergekommenen Häusern, die eine in einem viel zu großen Anwesen voller alter Fotografien und verschlissener Möbel, die andere in ihrer fleckigen, leeren Wohnung. Trotz der Zensurbedingungen, unter denen die Autorin im Ceaușescu-Rumänien der Achtzigerjahre schrieb, zeichnet der Roman ein kaum verhohlen kritisches Bild seiner Gegenwart.
Für den literarischen Kanon in deutscher Sprache ist die Übersetzung dieses Romans überfällig, denn er besticht nicht nur durch historische Einsicht, sondern vor allem durch eine ungeheuer kunstfertige Komposition, die mit sprachlichen Mitteln die ganze Welt zu erfassen vermag und insofern ihrem – etwas ungerechterweise berühmteren – französischen Romanvorbild in nichts nachsteht.
Die Jurybegründung
Die Übersetzung
Wenn man sich traut, einen Vergleich mit dem Sport zu ziehen, dann kann man auch in der Kunst der Übersetzung verschiedene Disziplinen unterscheiden. Adameșteanus Vorlage gleicht in dieser Hinsicht einem übersetzerischen Zehnkampf. Der rumänische Text wartet mit so ziemlich allen Herausforderungen auf, die man sich nur denken kann: rotzige Umgangssprache, bildungsbürgerlicher Jargon, Reime, heikle Tempusabstufungen und ‑kontraste, multiple Erzählstimmen in erster, dritter und sogar zweiter(!) Person Singular, ungefilterte Gedankenströme, fremdsprachliche Einsprengsel, historische Verweise, und und und.
Von der Jury und auch in Rezensionen ist besonders der Ton gelobt worden, den Wemme für den Gedankenstrom Vicas gefunden hat. In der Tat ist die übersetzerische Verve, mit der sie Vicas Gossensprache in die feine Welt der Ioanius hineingrätschen lässt, sehr unterhaltsam. Wenn man sich die rumänische Theaterfassung von Cătălina Buzoianu aus dem Jahr 1987 mit Tamara Buciuceanu-Botez in der Hauptrolle bei Youtube ansieht, dann kann man Wemmes deutsche Fassung problemlos mitlesen.
Ihre Wirkung bezieht diese sprachliche Schrulligkeit aber auch in der Übersetzung erst aus den Kontrasten zu ganz anderen Tonfällen: Zur verhalteneren Redeweise der Ivona, zum distinguierten Parlando des großbürgerlichen Salons 1914, und zur Nachdenklichkeit ihres versonnenen Neffen Gelu im meisterhaften Epilog. Die Gefahr, sich in Klischees zu verfangen und kitschigen Klamauk zu produzieren, muss das Übersetzungsprojekt wie eine wankende Felswand von jeder Seite bedroht haben. Dass keine Wand gekippt ist, dass aus Weltliteratur auch auf Deutsch Weltliteratur wurde, ist für sich genommen schon preiswürdig.
Und dabei haben wir noch gar nicht erwähnt, dass Wemme ganz nebenbei eine völlig eigene übersetzerische Ästhetik kreiert, die sich nicht scheut, unübliche Konstruktionen für das Deutsche fruchtbar zu machen, wie in diesem Beispiel:
Die schäbig-weiße, hohe Wand umgibt uns von allen Seiten des Hofes, kaum, dass hier von oben eine Ecke des farblosen Himmels hereindringt.
Das ist poetisch, aber zugleich spätestens beim zweiten Lesen holprig. „Kaum, dass“? Das hätte man auch routiniert weglektorieren (also: durch „idiomatischere“/„deutschere“ Formulierungen ersetzen) können. Und derlei eigenwillige Satzkonstruktionen findet man fast auf jeder Seite. Ein weiteres Beispiel:
Gedankenversunken fröstelt Sophie unter ihrem weißen Seidenschal. Trotz ihrer hervorstehenden Augen, ihrer ziemlich schmalen Lippen, trotz der zahlreichen Unvollkommenheiten und ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft hat Sophie nicht aufgehört, attraktiv zu sein. Und als sie es wie jede Frau spürt, dass sie beobachtet wird, wendet auch sie sich dem jungen Mann zu und sieht ihn an.
Auch hier gibt sich der Text gar keine Mühe, seine Übersetztheit zu verschleiern. Keine deutsche Schriftstellerin würde so formulieren. Bei Wemme sind solche sprachlichen Fremdkörper aber keine Vergehen, sondern Glücksgriffe, denn in ihrer Gesamtheit gerinnen sie zu einer eigenen literarischen Sprache, die gar nicht erst versucht, den Text auf Deutsch bruchlos neu zu schreiben. Aus den Scherben der Wörtlichkeit setzt Eva Ruth Wemme vielmehr ihre Charaktere überhaupt erst zusammen.
Insofern darf man sie getrost einer übersetzerischen Strömung zurechnen, die in letzter Zeit ein wenig aus der Mode zu geraten scheint, die aber auf keinen anderen als den großen Walter Benjamin zurückzuführen ist. Forderte dieser doch in seinem klassischen Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers:
Es ist daher, vor allem im Zeitalter ihrer Entstehung, das höchste Lob einer Übersetzung nicht, sich wie ein Original ihrer Sprache zu lesen. Vielmehr ist eben das die Bedeutung der Treue, welche durch Wörtlichkeit verbürgt wird, daß die große Sehnsucht nach Sprachergänzung aus dem Werke spreche. Die wahre Übersetzung ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das Original, steht ihm nicht im Licht, sondern läßt die reine Sprache, wie verstärkt durch ihr eigenes Medium, nur um so voller aufs Original fallen.
Von dieser Sicht auf das Übersetzen war die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse – und bei weitem nicht nur die – in den vergangenen Jahren äußerst weit entfernt. Statt Wörtlichkeit und Spracherweiterung wurden fast immer jene gepriesen, die, wie es in Leipzig einmal hieß, „dem weit entfernten Fremden in der neuen Sprache eine Heimat schaffen“.
Eva Ruth Wemme schafft keine Heimat, sondern führt uns in eine fremde Welt ein. Insofern bedeutet schon ihre Nominierung einen Meilenstein. Erhielte sie tatsächlich den Preis, dann wäre das ein Triumph für die Vielfalt der übersetzerischen Ansätze.
Lieblingssatz
Zwei Fragen an die Nominierte
Was macht das Buch aus?
Eva Ruth Wemme: Es ist virtuos konstruiert, erzählt Geschichte, spricht in vielen komplex ausdifferenzierten Stimmen, ist aufrührerisch, traurig, triumphal. Virtuosität auf allen Ebenen – sprachlich, emotional, gesellschaftlich.
Was haben Sie beim Übersetzen gelernt?
Eva Ruth Wemme: Immer auf alles gefasst zu sein. In die Abgründe der Sprache zu blicken und nicht abzustürzen, ein Drahtseilakt, die vielen Nuancen und Brüche der Figuren zusammenzuführen – Durchhalten also. Aber vor allem habe ich eine große Autorin noch einmal genauer kennen und schätzen gelernt! In diesem Buch ist mir noch einmal vor Augen gekommen, warum Schreiben eine Kunst ist.
Gabriela Adameșteanu/Eva Ruth Wemme: Verlorener Morgen (Im rumänischen Original: Dimineață pierdută)
Die Andere Bibliothek 2018 ⋅ 564 Seiten ⋅ 42 Euro
www.die-andere-bibliothek.de/Originalausgaben/Verlorener-Morgen::741.html