Das Buch
Liborio, der junge Protagonist von Aura Xilonens Roman Gringo Champ, weiß nicht so recht, wer er ist. Seine leiblichen Eltern kennt er nicht und er ist sich nicht einmal ganz sicher, wie alt er eigentlich ist. Während seiner Kindheit in Mexiko wird er misshandelt und beschließt, den Grenzfluss zu durchschwimmen, um in die USA zu gelangen. Er landet in einer Stadt nahe der Grenze und erzählt von dort aus seine Geschichte.
Zu Beginn des Romans arbeitet Liborio für einen vulgären Buchhändler, der ihn auf dem Dachboden des Ladens übernachten lässt. Dort liest er alles, was ihm in die Finger kommt – fängt mit den Bilderbüchern an und arbeitet sich mit der Zeit bis zu den großen Wälzern durch. Ihm unbekannte Wörter schlägt er nach, was seinem Wortschatz anzumerken ist. Liborio ist wortgewandt, schlagfertig – und löst seine Konflikte dennoch lieber mit physischer Gewalt. Er hat nichts zu verlieren, gerät in Schlägereien und vertraut auf seine Fäuste, sonst nichts.
Ahí rompí los lazos que me ataban al mostrador de la book donde trabajo: sentí vibrar el polvo a mi alrededor y salí disparando para amadrearme los puños a su jeta, total, qué podia perder si nunca he tenido nada.Da habe ich die Leinen gekappt, die mich an den Ladentisch der Book vertäuten, wo ich arbeite, habe gespürt, wie der Staub um mich herum in Aufruhr geriet, und bin rausgeschossen, um mir die Fäuste an seiner Schnauze zu stauchen, was hatte ich zu verlieren, wo ich nie was besessen habe.
Liborio schlägt sich durch und lernt mit der Zeit auch, Hilfe anzunehmen. So wird aus dem verarmten illegalen Einwanderer ein erfolgreicher Boxer. Der Inhalt ist nicht frei von Klischees: Liborio ist ein harter Kämpfer mit weichem Kern, findet Zuflucht in der Welt der Bücher und bringt es mit der Hilfe gütiger Mitmenschen trotz schlimmer Umstände zum Erfolg. Was dieses Buch besonders macht, ist jedoch nicht sein Inhalt.
Die Sprache der bei Entstehen des Romans 19-jährigen Autorin Aura Xilonen ist gewaltig. Vor allem der Protagonist wirkt durch den Gebrauch vieler Fremdwörter in dem ansonsten niedrigen Sprachregister beinahe ungewollt überheblich. Eine so originelle Ausdrucksweise liest man andererseits nur selten. Seine Sprache ist hochgestochen und zugleich tief im Umgangssprachlichen verankert, so grob wie poetisch.
Aura Xilonens Spanisch ist verschachtelt und hybrid. Spanglish, oder der von ihr bevorzugte Begriff Ingleñol (Verschmelzung von inglés, Englisch, und español, Spanisch) ist eine sehr oberflächliche Beschreibung. Xilonen mischt nicht nur Spanisch mit englischen Ausdrücken, sondern auch Gemeinsprache mit Bildungsjargon, baut jede Menge intertextuelle Anspielungen ein und spielt zudem mit der Erfindung einer Menge neuer Wörter. Dabei entsteht eine ganz eigene Sprache.
Campeón gabacho (gabacho, ähnlich wie Gringo, ein umganssprachlicher Ausdruck u. a. für US-Amerikaner) ist Aura Xilonens Debütroman und wurde in Mexiko bejubelt. Sie reichte die Geschichte bei einem Wettbewerb ein und erhielt den hochdotierten Premio Maurucio Achar. Das Buch erschien 2015, als von einer Mauer an der Grenze noch keine Rede war. Xilonen konzipierte den Roman laut eigener Aussage nicht als politischen Kommentar. Doch die junge Autorin bereichert die nordamerikanische Literatur mit einer authentischen und ehrlichen Perspektive und sprengt dabei auf beeindruckende Art die Grenzen ihrer eigenen Sprache.
Die Jurybegründung
„Das Debüt einer jungen Mexikanerin, die den US-Immigranten unter ihren Landsleuten eine trotzige Stimme verleiht. Susanne Lange macht Liborio, den Buchhändler, der zum Boxer wird, mit allen schnoddrigen Wortspielen und altertümlichen Wendungen auch im Deutschen lebendig.“
Die Übersetzung
Es dauert eine Weile, sich in eine Übersetzung hineinzulesen, in der „fokkin“ das am häufigsten verwendete Adjektiv ist, Langes Übersetzung von Xilonens „foquin“, das wiederum das englische „fucking“ verballhornt. Xilonens Sprache ist reich an Wortspielen, idiomatischen Wendungen und Wortneuschöpfungen. Die hybride spanische Sprache fließt in einem eleganten Rhythmus und Susanne Lange überträgt sie in ein ebenso hybrides Deutsch. Das ist naturgemäß etwas eigenwillig und gewöhnungsbedürftig:
–Fuck you, men – me gritan –. Fuck, fuck, fuck. Go home, foquin Prieto, lárgate al culo de tu puta madre, indio patarrajada.»Fuck you, man«, rufen sie. »Fuck, fuck, fuck. Go home, fokkin Drecksmex, furz dich zurück zum Arsch deiner Mama, Proletenindio.«
Doch wer durchhält, findet zwischen all den „Fucks“ poetische Wendungen:
„¡Orita vengo, putarraco cabezón, me voy con la dueña de mi corazón!”, y se lanzaba, intrépido, como un puto astronauta enamorado hacia el foquin cielo.»Komm gleich wieder, zäher Zeck, ich geh zur Señora meines Herzens!«, und wild entschlossen stürzte er los, ein verknallter Astronaut, direkt Richtung fokkin Himmel.
Man könnte die Übersetzung bewerten, indem man sie neben das Original legt und Wort für Wort vergleicht. Diese Herangehensweise würde der Leistung der Übersetzerin jedoch nicht gerecht, denn sie entfernt sich stellenweise weit vom Original. Das ist bei einem Buch wie diesem nicht nur unvermeidbar, sondern auch absolut notwendig. Susanne Lange löst sich in den entscheidenden Momenten von dem spanischen Text und schafft sich dadurch Raum für einen originellen Umgang mit der deutschen Sprache. Und auch wenn nicht alle Ausdrücke und Wortspiele Xilonens ins Deutsche übertragen werden können, versucht sie immer wieder zu kompensieren, was sie an anderen Stellen nicht retten konnte.
Aura Xilonen selbst ermutigt ihre Übersetzerinnen, frei mit dem Text umzugehen und mit der eigenen Sprache zu spielen. Das beinhaltet die Adaption kultureller Aspekte und den Gebrauch von Neologismen. Sie nimmt in Kauf, dass sich das Werk dadurch verändert. In einem Interview mit der Zeitschrift The Rumpus erklärt sie:
We have become monotonous, without color, without the beautiful games of language. And I imagined that the same thing could happen to people from other countries as well. We use much fewer words to write everything, and so rich and varied is this language. Therefore, when I worked with the translators, I would explain more or less the meaning of the word in Spanish, and they would try to convey a similar meaning in their language, because language must be in constant rebellion, constant tension, to remain alive. I didn’t want the novel to be translated literally. I wanted it to be a reinvention of language.Ohne die schönen Sprachspiele sind wir monoton geworden, farblos. Ich kann mir vorstellen, dass es den Leuten in anderen Ländern genauso gehen könnte. Wir drücken uns mit viel weniger Wörtern aus, dabei haben wir doch eine so reiche und vielseitige Sprache zur Verfügung. Wenn ich mit Übersetzerinnen arbeite, erkläre ich ihnen die grobe Bedeutung eines Wortes auf Spanisch und sie sollen versuchen, die Bedeutung mehr oder weniger in ihre Sprache zu übertragen. Um lebendig zu bleiben, muss Sprache immer rebellisch sein, sich reiben. Ich will nicht, dass das Buch wortwörtlich übersetzt wird. Ich wünsche mir eine Neuerfindung der Sprache.
Susanne Lange folgt dieser Anweisung. Ihre Übersetzung ist frei, kreativ und zelebriert unkonventionellen Sprachgebrauch. Aura Xilonens Sprachwucht ginge in einer leicht leserlichen, idiomatischen Übersetzung völlig unter. Die Alternative ist eine Übersetzung in innovativem Deutsch, voll schiefer Bilder. Liborios „Knochenmark verbrutzelt [ihm]“, Mister Abacuc spricht „pythagoreisch, mit der Kathete seines Lächelns“.
Was soll das? Wer redet so? Eigentlich niemand – genau darin liegt der Reiz dieses Textes. Hybride und unkonventionelle Sprache wird in deutschen Übersetzungen oft überflogen und höchstens angedeutet. In Gringo Champ wird sie in den Vordergrund gerückt und zelebriert.
Um wie Xilonen mit den Grenzen der eigenen Sprache zu spielen, baut die Übersetzerin in den deutschen Text Anglizismen und Hispanismen ein. Den Wells Park etwa besuchen Mickerficker, Mackerfacker, Chicas, Chicos, Candymen, Schnorrzecken, Spañoleros und Fipse. Liborios „Chief“ flüstert ihm mit einer „Peanutstimme“ (voz de tiliche) ins Ohr. Dabei nutzt Susanne Lange auch einige besondere Vorteile der deutschen Sprache, wie Komposita, die sich schier beliebig zusammensetzen lassen. Aus einer Wendung wie „árbol de noche triste“ macht sie eine „Trauernachtweide“, „cabeza dura“ bezeichnet sie als „Granitbirne“ und aus „costillas amarimbadas“ werden „Marimbarippen“. Auch mit den grammatikalischen Konventionen der deutschen Sprache lässt sich spielen. So bastelt Lange zum Beispiel aus Substantiven Verben: „‚Und was arbeitest du?‘, gegenfrage ich [Liborio] rasch.“
Übersetzungen wie Gringo Champ stechen heraus. Nicht nur, weil verhältnismäßig wenig lateinamerikanische Literatur auf Deutsch erscheint, sondern auch aufgrund der außergewöhnlichen sprachlichen Herangehensweise. Übersetzerin und Verlag vertrauen den Leserinnen und Lesern, dass sie sich in den ungewöhnlichen Roman hineinlesen und ihn verstehen werden – vielleicht nicht jedes einzelne Wort, aber das sprachliche Gesamtkunstwerk, das Xilonen und Lange erschaffen haben.
Lieblingssatz
Zwei Fragen an die Nominierte
Was macht das Buch aus?
Susanne Lange: Gringo Champ ist die Geschichte eines jungen mexikanischen Einwanderers in den USA, illegal und mittellos. Aura Xilonen wirft ein interessantes Licht auf diesen gerade eingetroffenen „wetback“, der nicht nur seine Probleme mit den Nordamerikanern, sondern auch mit den Latinos hat. Doch den Reiz dieses Buches macht vor allem seine Sprache aus: Xilonen vollzieht die Fremdheit und das langwierige Einleben direkt in der Sprache nach. Ihr Protagonist Liborio erobert sich da ein neues Terrain durch neue Worte, erfindet brachial drauflos, ob man ihn versteht oder nicht. Da mischen sich Schimpfwörter mit Fachsprachen (denn bei seiner Arbeit in einer Buchhandlung arbeitet er sich durch das ganze Lexikon), Redewendungen aus der Großelterngeneration, Leihgaben aus der Literatur mit Erfundenem. Die Beschimpfungen reichen vom „stratosphärischen Bastard“ bis zur „schrillen Flatulenz“, von der „Zündelzecke“ bis zum „Drecksmex“. Hier wird also nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern direkt sprachlich erlebbar gemacht.
Was haben Sie beim Übersetzen gelernt?
Bei jeder Übersetzung lernt man dazu. Das ist das Wunderbare daran. Da mir die Autorin völlige Freiheit beim Erfinden gegeben hat, konnte ich hier die Flexibilität der eigenen Sprache ausloten, konnte Verben bilden und Wörter aus anderen Sprachen eingemeinden. Je deutlicher sich beim Übersetzen die Sprache des Protagonisten herauskristallisiert hat, desto klarer wurde mir auch, dass sich die Neuschöpfungen nicht als Solitäre in den Text einfügen lassen, sondern alles vom Sprachfluss, vom Rhythmus getragen werden muss. Wenn sie sich natürlich in den Redefluss einfügen, erhalten selbst die ungewöhnlichsten Begriffe eine Art Selbstverständlichkeit. Natürlich habe ich beim Übersetzen auch mein Repertoire an Beschimpfungen entscheidend erweitern können.
Aura Xilonen/Susanne Lange: Gringo Champ (im spanischen Original: Campeón gabacho)
Hanser 2019 ⋅ 352 Seiten ⋅ 23 Euro
www.hanser-literaturverlage.de/buch/gringo-champ/978–3‑446–26000‑9/