
Eva Ruth Wemme, warum übersetzen Sie?
Ursprünglich aus Spaß! Aber es hat auch etwas Missionarisches: Ich habe die Vielfalt der rumänischen Literatur kennengelernt – warum sollten Leute, die zufällig kein Rumänisch können, daran kein Vergnügen haben?! Also verwende ich die Sprache als Instrument, sie daran teilhaben zu lassen.
Sie schreiben ja auch eigene Texte, dazu müssen Sie das Instrument der Sprache ebenfalls beherrschen. Inwiefern ist das Übersetzen anders?
Das Übersetzen ist auf jeden Fall viel spielerischer. Man muss die Temperatur nicht so stark regulieren. Natürlich muss ich schauen, dass ich die Temperatur der Autorin treffe, aber als Autorin muss ich den Ofen sozusagen selber anmachen. Ich verspüre dann auch viel mehr Verantwortung, weil ich etwas Bestimmtes will und das auch treffen muss. Das ist eine größere Anstrengung.
Im Interview mit Dagmar Brunow auf dem Übersetzerzentrum der Leipziger Buchmesse haben Sie dazu aufgerufen, das Übersetzen als eigenständige Kunstform zu begreifen. Was macht diesen Beruf denn aus? Was ist eine selbstbewusste Übersetzung?
Beim Übersetzen muss man noch mehr – oder andere – Tricks kennen. Ich brauche ein anderes Instrumentarium, das ja auch speziell auf die Sprache abgestimmt sein muss. Dazu muss ich mich an die Ausgangssprache gewöhnen und an die Scharniere, die ich für bestimmte Idiome erfinde, damit sie auch im Deutschen funktionieren. Das braucht Übung.
Was für Scharniere verlangt das Rumänische?
Zum Beispiel muss man Millionen Gerundien übersetzen, ohne dauernd Gerundien zu verwenden.
Sie wollten ja erst übersetzen und haben dann Rumänisch gelernt – das ist eher ungewöhnlich. Woher kam der Wunsch zu übersetzen, und woher kam der Wunsch, Rumänisch zu lernen?
Ich wusste, ich möchte gern mit Stift und Papier arbeiten. Den Übersetzerberuf habe ich gewählt, weil ich als 19-Jährige nicht gleich sagen wollte: „Ich werde Schriftstellerin!“ Und Englisch oder Französisch übersetzen wollte ich nicht, das machen schon so viele. Osteuropa hat mich immer interessiert; ich wollte erst Polnisch lernen, aber das erwies sich als zu schwer für mich. Ich musste jedes Wort mit Mühe auswendig lernen und habe keinerlei Zusammenhang gesehen. Rumänisch ist ja eine romanische Sprache, und da ich auf einem altsprachlichen Gymnasium war, bot sich das an.
Ist Rumänien wirklicher als Deutschland?
Wirklicher?
In Ihrem Buch Amalinca haben Sie geschrieben, in Rumänien hätten Sie einen „Zipfel der Wirklichkeit“ ergriffen.
Das ist eine persönliche Geschichte. Damals suchte ich die Wirklichkeit und die Reibung, und in Rumänien kamen mir die Tatsachen entgegen. Aber natürlich ist überall Wirklichkeit.
Was fasziniert Sie so an Rumänien? In Amalinca bezeichnen Sie das Land an einer Stelle als „vernarbt“.
Die Narben der Geschichte erkennt man in Rumänien überall: an den Dörfern, an den Städten, an den Gesichtern der Menschen, an der Sprache, an der Architektur, am Zerfasern der Dörfer. Dazu gehört auch, dass man keinen Ärmel über die Narbe zieht, sondern sie offen zeigt. Als ich Anfang der neunziger Jahre zum ersten Mal nach Rumänien fuhr, hatte man noch nicht so viel Ärmel darüber gezogen. Fünfundzwanzig Jahre später wollte ich meinem Mann das vernarbte Bukarest zeigen, aber es war nicht mehr da. Das Zentrum ist renoviert und touristenbereit. Nur: Es war das Fehlen genau dieser Oberfläche gewesen, das mir erlaubt hatte, mich dort heimisch zu fühlen.
Im Verlorenen Morgen kommen viele dieser Narben vor. Haben Sie das Rumänien, das dieses Buch beschreibt, noch kennengelernt?
Dieses Rumänien kenne ich nur aus Erzählungen. Die Erzählungen von Gabriela Adameşteanu und vielen Rumänen lassen sich zu hundert Prozent mit dem vereinbaren, was das Buch beschreibt.
Was ist denn untergegangen?
Es ist nichts untergegangen, dieses Rumänien ist noch immer zu finden. Unter der Oberfläche des europaschwangeren Turbokapitalismus schwelt weiterhin die Traurigkeit und Schicksalhaftigkeit, die das ganze Land ausmacht und mit der die Rumänen ihre eigene Geschichte betrachten. Auch die Figuren im Verlorenen Morgen versuchen immer, sich selbst und ihren Prinzipien moralisch treu zu bleiben, obwohl diese von der Außenwelt und den Geschehnissen immer wieder torpediert werden.
Die Vicas gibt es in Rumänien noch immer und die Rentner, die von ein paar Tomaten am Tag leben. Ihr Leben ist geprägt von Altersarmut und einer tiefen Verzweiflung am Leben. Diese Verzweiflung gibt es nach wie vor, aber heute ist sie von Europa gemacht. Die Vicas von heute sind Opfer einer Politik, die total versagt hat. Die politische Mentalität Rumäniens stammt eigentlich auch aus dieser Zeit, nur werden die äußeren Patterns jetzt von Europa vorgegeben. Das hat das Land zurückkatapultiert statt vorwärts. Davon profitieren nur wenige Leute, die es verstanden haben, mitzuschwimmen. Die zeigt der Roman ja auch.
Wäre Rumänien außerhalb der EU besser aufgehoben?
Nein, das will ich damit gar nicht sagen. Rumänien hat zurzeit – im Gegensatz zu weiter östlich liegenden Ländern – keine andere Wahl, als in der EU zu sein. Aber es tut dem Land keineswegs ausschließlich gut.
Sie haben in Berlin ja tagtäglich mit Rumänien, bzw. mit Rumänen zu tun.
Denen tut es wiederum gut, weil sie gehen konnten. Das tun sehr viele, in Rumänien spricht man überall von Massenemigration. Ich selbst habe nun in meiner Arbeit nur mit den Ärmsten der Migranten zu tun, nicht mit den gebildeten Ärzten, die sich alleine zu helfen wissen. Trotzdem sagen alle, selbst wenn sie in – für mich – entsetzlichen Verhältnissen leben: Gut, dass wir hier sind, denn da hätten wir das so nicht geschafft.
Adameşteanus Verlorener Morgen ist jetzt auch endlich hier. In Rumänien ist das Buch ja schon vor dreißig Jahren erschienen. Eine lange Zeit.
Ja, Gabriela Adameşteanu ist seit Langem mit riesiger Mühe und unglaublichem Optimismus von Verlag zu Verlag gelaufen und hat immer versucht, dieses Buch an den Mann zu bringen.
Wie ist es dann bei der Anderen Bibliothek gelandet?
Über Jan Koneffke, einen deutschen Schriftsteller, der aber auch relativ gut Rumänisch kann, sich mit der rumänischen Literaturszene auskennt und sich in Deutschland für sie einsetzt. Dieses Buch hat tatsächlich er an den Verlag gebracht.
Sie haben die Autorin persönlich kennengelernt und mit ihr zusammengearbeitet. Hat sie sich in diesem Buch auch selbst porträtiert?
In allen Figuren sind auch Teile von ihr – genauso wie ich dann meine Sprachanteile irgendwo spiegeln musste. Selbst in dem hinterhältigsten Titi Ialomiţeanu musste ich mich sprachlich wiederfinden. Für sie war es sicher dreimal so furchtbar wie für mich, sich damit zu identifizieren. Denn sie schreibt ja auch verständnisvoll über die Schwächen dieser Figur.
Die Figur der Vica Delcă habe ich durch unser Kennenlernen noch plastischer gesehen. Gabriela Adameşteanu hat auch etwas von Vica. Sie ist eine feine Dame, verfügt aber auch über die großen Gesten, die in Vicas Tiraden liegen, und über die Freizügigkeit, mit der sie Wertungen von sich gibt und Dinge für sich einschätzt, dann aber plötzlich auf einen liebevollen Blick umschaltet. Dass das bei Vica alles miteinander zusammenhängt und sie nicht bloß eine ordinäre alte Frau ist, konnte ich durch die Begegnung mit Gabriela Adameşteanu besser verstehen.
Ändert das die Herangehensweise? Verspüren Sie ihr gegenüber Verantwortung?
Die spüre ich sowieso immer. Das gehört mit zum Beruf, so wie ein Pilot auch Verantwortung trägt. Umso mehr freut es mich, dass es gelungen ist – auch für sie. Sie ist ja auch nicht mehr dreißig.
Wir fanden es in der Tat sehr gelungen, haben aber gehört, dass Sie gar nicht ganz zufrieden sind.
Wenn ich das Buch aufschlage, sehe ich auf jeder Seite etwas, das ich hätte anders machen können. Aber das ist eigentlich fast immer so.
Man merkt dem Text an, dass es sich um eine Übersetzung handelt. Hätten Sie gerne noch mehr geglättet?
Nein, ich übersetze nicht so, dass ich Sätze immer weiter umstelle, bis sie „deutsch“ klingen. Es ist tatsächlich mein Credo, dass das Rumänische ein bisschen durchschimmern soll. Ein übersetzter Text muss transparent sein.
Eva Ruth Wemme, 1973 in Paderborn geboren, studierte in Köln, Berlin und Bukarest und lebt in Berlin. Sie war Dramaturgin am Schauspielhaus Chemnitz und ist als Autorin, Übersetzerin und Beraterin für Migrantinnen und Migranten aus Rumänien tätig. Sie übersetzte u. a. Mircea Cartarescu, Stefan Agopian und I. L. Caragiale aus dem Rumänischen. Im Verbrecher Verlag hat sie die Bücher Meine 7000 Nachbarn (2015) und zusammen mit Silvia Cristina Stan Amalinca (2018) veröffentlicht.
Gabriela Adameșteanu/Eva Ruth Wemme: Verlorener Morgen (im rumänischen Original: Dimineață pierdută)
Die Andere Bibliothek 2018 ⋅ 564 Seiten ⋅ 42 Euro
www.die-andere-bibliothek.de/Originalausgaben/Verlorener-Morgen::741.html