Unsicht­ba­re Grenzgänger

Ohne Übersetzerinnen und Übersetzer wäre die Weltgeschichte an vielen Stellen ganz anders verlaufen. Volker Matthies wirft in seinem historischen Sachbuch Licht auf jene, die im Schatten der sogenannten Entdecker wirkten. Von

Ekuhu, ein Moari, hilft William Fox et al. dabei, die Südinsel des Landes zu „entdecken“. William Fox: On the Grass Plain Below, 1846. Quelle: National Library New Zealand.

Sel­ten ist mir ein Buch begeg­net, des­sen Cover das The­ma so gut ins Bild setzt. Es zeigt den fran­zö­si­schen Maya-For­scher Desi­ré Char­nay, wie er die Anden über­quert: auf einem Stuhl sit­zend, von einem ein­hei­mi­schen Trä­ger eine Fels­trep­pe hin­auf­ge­schleppt. Der Trä­ger hat sich Char­nay und den Stuhl auf den Rücken gela­den, wes­halb der Ent­de­cker nach hin­ten schaut, zurück ins Tal, mit ruhi­ger, fast kon­tem­pla­ti­ver Mie­ne. Mög­li­cher­wei­se hat er aber auch die Augen geschlos­sen. Sei­ne Hän­de schei­nen die Sitz­flä­che zu umklam­mern. Viel­leicht litt er an Höhenangst.

Wer orga­ni­sier­te Living­sto­nes Expe­di­tio­nen zu den Quel­len des Nil? Wer zeig­te Cook den Weg durch die Süd­see? Als Vas­co da Gama den See­weg nach Indi­en fand, besaß er da nicht doch schon eine Kar­te? Und als Cor­tés auf Mon­te­zu­ma traf, in wel­cher Spra­che unter­hiel­ten sie sich?

Sol­chen Fra­gen geht Vol­ker Mat­thies, Poli­to­lo­ge und Her­aus­ge­ber his­to­ri­scher Rei­se­be­rich­te, in sei­nem Buch Im Schat­ten der Ent­de­cker nach. Es ist das Ergeb­nis müh­sa­mer Klein­ar­beit, geleis­tet von ihm und vie­len ande­ren Autoren, denn offen­sicht­lich muss­ten alle Infor­ma­tio­nen zu den ein­hei­mi­schen Hel­fern der berühm­ten euro­päi­schen Ent­de­cker bröck­chen­wei­se aus deren Rei­se­be­rich­ten her­aus­ge­fil­tert wer­den. Dass ihre Leis­tun­gen ange­mes­sen gewür­digt, dass sie gar mit Namen erwähnt wur­den, war wohl eher die Ausnahme.

Tat­säch­lich folg­ten vie­le die­ser Euro­pä­er bei ihren Rei­sen ins soge­nann­te Unbe­kann­te gebahn­ten Wegen. Sie hiel­ten sich an bewähr­te Han­dels­rou­ten, schlos­sen sich gut orga­ni­sier­ten Kara­wa­nen an, enga­gier­ten pro­fes­sio­nel­le Füh­rer. Ging es tat­säch­lich in die Wild­nis, über­nah­men sie die Rei­se­tech­ni­ken der Ein­hei­mi­schen, von der Ernäh­rung über die Klei­dung bis zum Boots­bau, und lie­ßen sich hin­sicht­lich Rou­ten und Rei­se­zei­ten von ihnen bera­ten. Nicht sel­ten wur­den sie von ihren Beglei­tern aus lebens­ge­fähr­li­chen Situa­tio­nen geret­tet. Auf all die­se Punk­te geht Mat­thies in sei­nem Buch sys­te­ma­tisch, aus­führ­lich und kennt­nis­reich ein. Die Unsicht­ba­ren sicht­bar machen, das „heroi­sche Nar­ra­tiv‟ (Mat­thies) von den gro­ßen Ent­de­ckern durch ein weni­ger euro­zen­tris­ti­sches Bild zu erset­zen, das ist das Anlie­gen die­ses Buchs.

Als Über­set­ze­rin fra­ge ich mich bei all der Koope­ra­ti­on zwi­schen Men­schen unter­schied­li­cher Kul­tu­ren natür­lich sofort, wer da wohl gedol­metscht hat. Um einen Orts­kun­di­gen nach dem Weg zu fra­gen, einen Füh­rer zu enga­gie­ren, Trä­ger anzu­wer­ben oder Last­tie­re zu kau­fen, muss man sich schließ­lich ver­stän­di­gen kön­nen. Wer über­brück­te den sprach­li­chen Gra­ben zwi­schen den Ein­hei­mi­schen und den Rei­sen­den aus Euro­pa? Im Schat­ten der Ent­de­cker bie­tet hier eine Fül­le von Mate­ri­al und eini­ge erstaun­li­che Geschichten.

Offen­bar gab es durch­aus euro­päi­sche Ent­de­cker, die selbst die Spra­chen der Men­schen erlern­ten, deren Län­der sie erforsch­ten und kar­tier­ten. Der Afri­ka­for­scher Hein­rich Barth etwa sprach zu Rei­se­be­ginn schon Ara­bisch und lern­te unter­wegs dann Hausa, Kanuri und eine gan­ze Lis­te wei­te­rer Spra­chen. Ande­re beherrsch­ten zumin­dest Ara­bisch oder Swa­hi­li, was schon ein gro­ßes Stück weiterhalf.

Die meis­ten Ent­de­cker waren jedoch dar­auf ange­wie­sen, dass jemand für sie dol­metsch­te – Men­schen, die mit der euro­päi­schen und der ein­hei­mi­schen Kul­tur ver­traut waren. Eini­ge weni­ge die­ser Grenz­gän­ger sind bis heu­te berühmt, sie wur­den durch Denk­mä­ler und Brief­mar­ken geehrt, nach ihnen wur­den Flüs­se oder Seen benannt. Ande­re sind zwar nament­lich bekannt, wer­den in ihren Hei­mat­län­dern aber kaum gewür­digt oder sogar als Kol­la­bo­ra­teu­re der Erobe­rer ver­ach­tet. Die aller­meis­ten sind namenlos.

In den ers­ten Jahr­hun­der­ten der euro­päi­schen Ent­de­ckungs- und Erobe­rungs­zü­ge war es offen­bar üblich, sich sei­ne Dol­met­scher und orts­kun­di­gen Füh­rer ein­fach zu steh­len. Der Fran­zo­se Jac­ques Car­tier etwa nahm im 16. Jahr­hun­dert in Kana­da zwei jun­ge Män­ner gefan­gen, ver­schlepp­te sie nach Frank­reich und brach­te ihnen Fran­zö­sisch bei, so dass sie bei sei­ner nächs­ten Rei­se für ihn dol­met­schen konn­ten. Vas­co da Gama nahm an der Ost­küs­te Afri­kas zwangs­wei­se einen mus­li­mi­schen Steu­er­mann an Bord, damit der ihm bei der Durch­que­rung des Indi­schen Oze­ans half.

Auch die jun­ge Azte­kin Malin­che – eine der Berühmt­hei­ten in Mat­thies’ Buch – wur­de unfrei­wil­lig zur Dol­met­sche­rin. Als Kind war sie als Skla­vin zu den Chon­tal-Maya auf Yuca­tan gekom­men, viel­leicht durch Ent­füh­rung, viel­leicht durch eine Intri­ge inner­halb ihrer adli­gen Fami­lie. Die Maya wie­der­um schenk­ten sie Cor­tés und sei­nen Spa­ni­ern, zusam­men mit rund zwan­zig ande­ren jun­gen Frau­en, um nach einer ver­lo­re­nen Schlacht den Frie­den mit den Ein­dring­lin­gen zu festigen.

Als die Spa­ni­er bei ihrem wei­te­ren Vor­drin­gen auf Nahuatl spre­chen­de Völ­ker stie­ßen, begann Malin­che für sie zu dol­met­schen. Anfangs arbei­te­te sie dabei mit dem Spa­ni­er Agui­lar zusam­men, der die Spra­che der Chon­tal-Maya beherrsch­te, doch sie lern­te sehr schnell Spa­nisch, eben­so wie eine Rei­he von ande­ren Maya-Spra­chen und Nahuatl-Dia­lek­ten, und da sie außer­dem die Hof­spra­che der Azte­ken beherrsch­te, konn­te sie bei der Begeg­nung zwi­schen Cor­tés und Mon­te­zu­ma direkt zwi­schen den bei­den dol­met­schen. Inzwi­schen war sie längst Cor­tés’ Gelieb­te, die Spa­ni­er nann­ten sie ach­tungs­voll La Len­gua, von den spa­ni­schen Kolo­ni­al­her­ren wur­de sie spä­ter Dona Mari­na genannt und als gro­ße Con­quis­ta­do­rin ver­ehrt. Im heu­ti­gen Mexi­ko dage­gen ist aus ihrem Namen der Begriff malin­chis­mo abge­lei­tet, der für den Ver­rat an der eige­nen Kul­tur steht.

In spä­te­ren Jahr­hun­der­ten ging es bei der Anwer­bung von Dol­met­schern offen­bar weni­ger gewalt­sam zu. Vie­le der ein­hei­mi­schen Füh­rer, die bri­ti­sche For­schungs­rei­sen durch Ost- und Zen­tral­afri­ka beglei­te­ten, waren ursprüng­lich Skla­ven, die von den Bri­ten befreit und anschlie­ßend auf eng­li­sche Schu­len in Indi­en geschickt wur­den. In Indi­en bil­de­te die bri­ti­sche Kolo­ni­al­re­gie­rung sogar ganz gezielt Män­ner aus den nord­in­di­schen Berg­völ­kern zu mehr­spra­chi­gen Land­ver­mes­sern und Spio­nen aus, eine Maß­nah­me, um das eige­ne Ter­ri­to­ri­um gegen den gro­ßen nörd­li­chen Kon­kur­ren­ten Russ­land abzu­si­chern. In Nord­ame­ri­ka wie­der­um leb­ten seit dem 18. Jahr­hun­dert vie­le euro­päi­sche Trap­per und Pelz­jä­ger mit den India­nern zusam­men, hei­ra­te­ten ein­hei­mi­sche Frau­en, über­nah­men ihre Lebens­wei­se und erlern­ten ihre Spra­che – so dass sie spä­ter zum Bei­spiel für die Mit­ar­bei­ter der Hud­son Bay Com­pa­ny dol­met­schen konnten.

In Nord­ame­ri­ka spielt auch Mat­thies’ schöns­tes – oder erschre­ckends­tes? – Bei­spiel für koope­ra­ti­ves Dol­met­schen. Als 1804 das Corps of Dis­co­very im Auf­trag des US-ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten Jef­fer­son nach Wes­ten auf­brach, um den Kon­ti­nent bis zur Pazi­fik­küs­te zu durch­que­ren, gehör­ten bereits meh­re­re Fran­ko­ka­na­di­er mit india­ni­schem Eltern­teil dazu. Am obe­ren Mis­sou­ri war­ben die Expe­di­ti­ons­lei­ter Lewis und Clar­ke zusätz­lich den Trap­per Tous­saint Char­bon­neau an, der seit lan­gem bei den Hidat­sa leb­te und daher in deren Gebiet dol­met­schen konn­te. Vor allem aber war er mit einer Shos­ho­nin ver­hei­ra­tet, die als Kind von den Hidat­sa ent­führt wor­den war: mit Saca­ga­wea, die spä­ter eben­falls zu gro­ßem Ruhm gelang­te und zur Hel­din sti­li­siert wur­de. Da die Expe­di­ti­on das Gebiet der Shosho­nen durch­que­ren soll­te und die Anfüh­rer hoff­ten, von ihnen Pfer­de kau­fen zu kön­nen, nah­men sie die jun­ge Frau samt ihrem soeben gebo­re­nen Sohn mit auf die Reise.

Bei den Ver­hand­lun­gen mit den Shosho­nen über­setz­te Saca­ga­wea ins Hidat­sa, ihr Mann wei­ter ins Fran­zö­si­sche und ein ande­rer Fran­ko­ka­na­di­er ins Eng­li­sche. Und als die Expe­di­ti­on das Sprach­ge­biet der Shosho­nen hin­ter sich ließ, wur­de die Ket­te noch um ein Glied län­ger: Da Saca­ga­wea die Spra­che der Salish bzw. der Nez Per­ce nicht beherrsch­te, muss­ten zunächst Shosho­nen­jun­gen, die bei die­sen Völ­kern auf­wuch­sen, in die Shosho­nen­spra­che über­set­zen, dann über­setz­te sie ins Hidat­sa und so wei­ter. (Man stel­le sich eine Begeg­nung zwi­schen Trump und Kim vor, bei der ein in Nord­ko­rea leben­der Chi­ne­sen­jun­ge zunächst ins Chi­ne­si­sche über­setzt, dann eine in Japan behei­ma­te­te Chi­ne­sin ins Japa­ni­sche, anschlie­ßend ihr bel­gi­scher Ehe­mann ins Fran­zö­si­sche und schließ­lich ein Fran­ko­ka­nan­dier ins ame­ri­ka­ni­sche Eng­lisch. Wer weiß, viel­leicht wäre es gut für den Weltfrieden.)

Das sind span­nen­de Geschich­ten, doch es ist nicht Mat­thies’ Haupt­an­lie­gen, das Leben ein­zel­ner Per­so­nen nach­zu­er­zäh­len. Lei­der, möch­te man fast sagen, denn der drit­te Teil der Buchs mit ins­ge­samt neun Kurz­bio­gra­phien indi­ge­ner Beglei­ter ist mit Abstand der leben­digs­te. Den inhalt­li­chen Kern des Buchs bil­det jedoch – nach einer kur­zen theo­re­ti­schen Ein­füh­rung – die schon erwähn­te the­ma­tisch geglie­der­ten Abhand­lung dar­über, auf wie vie­le unter­schied­li­che Arten indi­ge­ne Unter­stüt­zer zum Gelin­gen von Ent­de­ckungs­rei­sen bei­tru­gen: als poli­ti­sche Schutz­her­ren, als Ver­mitt­ler von rei­se­tech­ni­schem Know-How und geo­gra­phi­schem Wis­sen, als Hel­fer in der Not usw. Für einen Wis­sen­schaft­ler liegt es sicher­lich nahe, den eige­nen Stoff auf die­se Art zu glie­dern. Es ist die Metho­de, mit der man Argu­men­ta­ti­ons­li­ni­en auf­baut, um eine The­se zu begrün­den. Und viel­leicht (das kann ich nicht beur­tei­len) ist es heu­te nach wie vor not­wen­dig, mög­li­cher­wei­se sogar über­fäl­lig, den Beweis dafür anzu­tre­ten, dass die berühm­ten euro­päi­schen Ent­de­cker oft­mals ohne ein­hei­mi­sche Hil­fe geschei­tert wären (und dass sie, neben­bei bemerkt, meist Din­ge „ent­deck­ten“, die den Ein­hei­mi­schen längst bekannt waren).

Für Leser, die wie ich kei­ne Fach­leu­te sind, hat die­ser sys­te­ma­ti­sche Auf­bau lei­der den Nach­teil, dass der Text bei jedem der behan­del­ten Punk­te auf weni­gen Sei­ten durch drei bis fünf Jahr­hun­der­te und alle Kon­ti­nen­te springt. Das erzeugt ers­tens Red­un­danz, weil teils die­sel­ben Rei­sen unter ver­schie­de­nen Gesichts­punk­ten abge­han­delt wer­den. Zwei­tens blei­ben die Men­schen blass, weil auf jede Per­son nach weni­gen Sät­zen gleich die nächs­te folgt, viel­leicht aus einem ande­ren Land und einer ande­ren Zeit. Und drit­tens kommt der his­to­ri­sche Kon­text zu kurz. Erst bei den Bio­gra­phien im drit­ten Teil nimmt Mat­thies sich die Zeit, das Leben und die Leis­tung der indi­ge­nen Beglei­ter vor den Hin­ter­grund der Welt zu stel­len, in der sie und die euro­päi­schen Frem­den sich beweg­ten, zu deren Ver­än­de­rung oder Zer­stö­rung sie oft bei­tru­gen. Vor allem hier­von hät­te ich mir mehr gewünscht.

Trotz die­ser Ein­wän­de: Im Schat­ten der Ent­de­cker ist ein  lesens­wer­tes Buch – fak­ten­reich und infor­ma­tiv, immer wie­der über­ra­schend, trotz der Län­gen unter­halt­sam. Das umfang­rei­che Lite­ra­tur­ver­zeich­nis bie­tet reich­lich Stoff für alle, die tie­fer in das The­ma ein­stei­gen wol­len. Und eine ein­zi­ge Freu­de sind die zahl­rei­chen gut gewähl­ten Abbil­dun­gen: zeit­ge­nös­si­sche Dar­stel­lun­gen von Rei­se­sze­nen, Repro­duk­tio­nen hand­ge­zeich­ne­ter Land­kar­ten, vie­le Por­träts der Men­schen, um die es geht. Noch mehr als der Text knüp­fen die Bil­der für mich an die Freu­de an, mit der ich frü­her Berich­te über Ent­de­ckungs­rei­sen gele­sen habe: die Freu­de am Frem­den, aber auch die Freu­de am frem­den Blick auf etwas, das man bis­her für ver­traut hielt.

Vol­ker Mat­thies: Im Schat­ten der Ent­de­cker – Indi­ge­ne Beglei­ter euro­päi­scher Forschungsreisender

Ch. Links 2018 ⋅ 248 Sei­ten ⋅ 28 Euro

www.christoph-links-verlag.de/index.cfm?view=3&titel_nr=989

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