Spa­ni­ens ver­bor­ge­ne Geschichten

Antonio Altarriba erzählt in der Graphic Novel „Der gebrochene Flügel“ zusammen mit dem Zeichner Kim die Geschichte einer einfachen Frau im patriarchalen Spanien des 20. Jahrhunderts. André Höchemers Übersetzung gewährt tiefe Einblicke in die Kultur des Landes. Von

Altarribas Mutter als stummes Dienstmädchen unter Faschisten. © Kim / Avant Verlag

Immer lau­ter sind der­zeit die For­de­run­gen nach ande­ren Per­spek­ti­ven, ande­ren Geschich­ten in Film, Fern­se­hen und Lite­ra­tur zu hören. Es geht dabei um Diver­si­tät – dar­um, die Welt in ihrer Viel­falt dar­zu­stel­len und Ste­reo­ty­pe zu unter­lau­fen. Erschwert wird die­ses Unter­fan­gen jedoch durch die Tat­sa­che, dass die Mehr­heit der Kul­tur­schaf­fen­den in vie­len Län­dern aus ähn­li­chen Milieus kommt und immer noch ten­den­zi­ell männ­lich ist. Auch in der Comic­bran­che hat man es erst in den letz­ten Jah­ren geschafft, sich von der Idee zu distan­zie­ren, dass die Ziel­grup­pe die­ses Gen­res nur aus zwangs­läu­fig männ­li­chen „Nerds“ bestün­de, die wie­der­um nur sich selbst gespie­gelt sehen will. Man muss nur einen kur­zen Blick in die Pro­gram­me der Ver­la­ge wer­fen, um zu sehen, dass sich viel tut.

Auch der sehr bekann­te spa­ni­sche Autor Anto­nio Altar­ri­ba muss­te erst ler­nen, dass die Zeit reif ist für ande­re Stof­fe und Inhal­te, und dass die­se von sei­nem Publi­kum gefor­dert wer­den. Auf einer Lesung sei­ner über­aus erfolg­rei­chen Gra­phic Novel Die Kunst zu flie­gen (span. El arte de volar), die semi-auto­bio­gra­fisch und in epi­scher Län­ge die Geschich­te sei­nes ver­stor­be­nen Vaters erzählt, frag­te ihn eine jun­ge Frau: „Y su mad­re?“ – „Und Ihre Mut­ter?“. Altar­ri­bas Ant­wort war, so viel kann man sich den­ken, unbe­frie­di­gend, sowohl für die Fra­gen­de als auch für den Autor selbst, der stets nur den Vater als Prot­ago­nis­ten vor Augen hat­te. Sei­ne Mut­ter war dage­gen Teil der „his­to­ria ocu­lu­ta de Espa­ña“, der „ver­bor­ge­nen Geschich­te Spaniens“.

Wir dür­fen uns also bei jener unbe­kann­ten Frau bedan­ken, dass es einen Nach­fol­ge­band zu Die Kunst zu flie­gen gibt, der nun auch unter dem Titel Der gebro­che­ne Flü­gel (span. El ala rota) in deut­scher Über­set­zung erschie­nen ist. In der wie­der­hol­ten Zusam­men­ar­beit mit dem spa­ni­schen Zeich­ner Kim ist dabei ein inter­es­san­tes Expe­ri­ment ent­stan­den. Denn Altar­ri­bas Mut­ter kommt in Die Kunst zu flie­gen nur am Ran­de vor und ver­schwin­det so schnell, dass sie wohl nie­man­dem beson­ders in Erin­ne­rung geblie­ben sein dürf­te. Ihrer Geschich­te ein gan­zes Buch zu wid­men, ist unge­fähr so, als hät­te Goe­the sei­nem Gret­chen ein eige­nes Dra­ma geschrie­ben, oder als hät­te Bat­mans Mut­ter ihr eige­nes Comic.

Auf knapp 250 Sei­ten erzählt Altar­ri­ba nun von der trau­ma­ti­schen Geburt sei­ner Mut­ter, ihrem gesell­schaft­li­chen Auf­stieg vom Dienst­mäd­chen zur Gou­ver­nan­te und schließ­lich zur Haus­frau, die bis zum Bank­rott der Fir­ma ihres Man­nes ein Mit­tel­schicht­le­ben füh­ren darf. Wäh­rend das Leben ihres Man­nes in Die Kunst zu flie­gen von Ereig­nis­sen geprägt ist, sind es im Leben der Mut­ter die Män­ner – vom Vater über den Gene­ral Juan Bau­tis­ta bis hin zu ihrem spä­ten Lieb­ha­ber – die ihrem Leben und auch der Gra­phic Novel einen roten Faden geben.

Inter­es­sant ist dabei, wel­che for­ma­len Ände­run­gen die­ser Per­spek­tiv­wech­sel zur Fol­ge hat. Wäh­rend in Die Kunst zu flie­gen näm­lich aus der Sicht von Altar­ri­bas Vater, der sei­nem Sohn Noti­zen hin­ter­las­sen hat­te, erzählt wird, erhält man in Der gebro­che­ne Flü­gel kei­nen Zugang zu der Gedan­ken­welt der Mut­ter. Die ein­dring­li­che Erzähl­stim­me des Vaters wird nicht ersetzt, son­dern weg­ge­las­sen. Es fal­len somit auch die umfang­rei­chen erzäh­le­ri­schen Kom­men­ta­re in den Cap­ti­ons weg, die sicher­lich auch zur inhalt­li­chen und sprach­li­chen Kom­ple­xi­tät von Die Kunst zu flie­gen bei­getra­gen haben.

Mit dem Weg­fall der dop­pel­ten Erzähl­struk­tur kon­zen­triert sich die gesam­te erzäh­le­ri­sche Fül­le in den Sprech­bla­sen. Die Schwie­rig­keit beim Über­set­zen von Comics besteht dar­in, dass der Platz, den die Über­set­zung ein­neh­men darf, klar vor­ge­ge­ben ist. Der Zeich­ner gibt mit sei­nen Sprech­bla­sen einen kon­kre­ten Raum vor, den es zu fül­len gilt. André Höche­mer, der schon den Vor­gän­ger über­setz­te, bekommt es in Der gebro­che­ne Flü­gel mit einer Wort­las­tig­keit zu tun, die für das Gen­re bis­wei­len unty­pisch ist. Den­noch dürf­te sich Altar­ri­ba gut über­set­zen las­sen. Sei­ne Sät­ze sind in die­sem Band oft­mals so kurz und prä­gnant, dass sie nicht nur in die Sprech­bla­sen pas­sen, son­dern sich auch in die ten­den­zi­ell eher aus­schwei­fen­de­re deut­sche Spra­che über­tra­gen las­sen, ohne dass der Text in den Sprech­bla­sen über­quillt. Höche­mer über­setzt fast wörtlich:

-Fran­co no podrá man­ten­er­se en el poder por mucho tiempo…
Ale­ma­nia está a pun­to de capitular…
¿Qué para­s­ará enton­ces con un país iden­ti­fi­ca­dos con los sím­bo­los fascistas…?
Has­ta los tore­ros salen al ruedo con el bra­zo en alto…
Las Poten­ci­as alia­das no lo consentirán…
Fran­co wird sich nicht lan­ge an der
Macht hal­ten kön­nen. Deutschland
steht kurz vor der Kapi­tu­la­ti­on, und
was pas­siert dann mit einem Land
mit faschistischen
Symbolen?
Sogar die Stierkämpfer
betre­ten die Are­na mit
erho­be­nem Arm. Die alliierten
Mäch­te wer­den das nicht dulden.

Dies soll nun aber nicht bedeu­ten, dass Über­set­zern von Gra­phic Novels kei­ne Frei­hei­ten gegönnt sind. Zwar wird durch die Fes­se­lung an die Sprech­bla­sen eine deut­lich stär­ke­re Nähe zum Ori­gi­nal kul­ti­viert, als es in ande­ren Gen­res der Fall ist, trotz­dem lässt auch Höche­mer Wör­ter zuwei­len weg­fal­len oder über­setzt bei­spiels­wei­se „empie­zan a enca­jar las pie­z­as del puz­zle“ rela­tiv frei als „Die Tei­le fügen sich zu einem Bild zusam­men“, und ent­fernt sich so vom Ori­gi­nal. Nicht zuletzt wer­den manch­mal auch Wör­ter hin­zu­ge­fügt, die bestimm­te inhalt­li­che Nuan­cen gekonnt her­vor­he­ben. Die Über­set­zung von Höche­mer ist ein gelun­ge­nes Bei­spiel für alle Skep­ti­ker, dass auch das Hin­zu­fü­gen von Wör­tern im Sin­ne des Ori­gi­nals sein kann. Hier ein Beispiel:

© Kim / Avant Verlag

Im spa­ni­schen Ori­gi­nal heißt es an die­ser Stel­le: „Yo soy Doro­teo, gua­pa… pue­des con­tar con­mi­go para lo que quie­r­as”. Das Wort „Ding“ wird also erst in der Über­set­zung hin­zu­ge­fügt und unter­stützt hier die objek­ti­fi­zie­ren­de Rede­wei­se und über­grif­fi­ge Ges­ti­ku­la­ti­on des Spre­chen­den. Über­set­zen heißt eben auch Inter­pre­tie­ren und an die­ser Stel­le der Gra­phic Novel, in der auch sexu­el­le Gewalt und sexis­ti­sche Struk­tu­ren dar­ge­stellt wer­den, ver­stärkt die Inter­pre­ta­ti­on des Über­set­zers die Erzähl­wei­se des Gesamtwerkes.

Beson­ders bemer­kens­wert ist aller­dings nicht nur, wie Höche­mer über­setzt, son­dern auch, was er unüber­setzt lässt. Denn auch dies ist eine über­set­ze­ri­sche Ent­schei­dung mit bis­wei­len gra­vie­ren­den Aus­wir­kun­gen auf den Text. In Der gebro­che­ne Flü­gel wirkt sich dies kei­nes­wegs nega­tiv aus – im Gegen­teil. Die­se Gra­phic Novel beweist erneut, wie über­holt die The­se ist, dass man einer Über­set­zung ihren Sta­tus als über­setz­ten Text im Ide­al­fall nicht anmer­ken sol­le. Höche­mer hat dies glück­li­cher­wei­se gar nicht erst ver­sucht. Denn die hier dar­ge­stell­te Lebens­ge­schich­te der Mut­ter ist, genau wie die des Vaters, so tief in der spa­ni­schen Geschich­te des 20. Jahr­hun­derts ver­wur­zelt, dass jeder Ver­such der sprach­li­chen Distan­zie­rung von der spa­ni­schen Kul­tur albern erscheint. Bei ihm dür­fen Figu­ren Sät­ze sagen, die von spa­ni­schen Begrif­fen durch­zo­gen sind, und in einem unüber­setz­ten Spa­nisch singen:

© Kim / Avant Verlag

Sol­che sprach­li­chen Anspie­lun­gen sind natür­lich nicht jedem Leser ver­ständ­lich und somit an sich – sofern das ein­zi­ge Kri­te­ri­um für eine gute Über­set­zung die Ver­ständ­lich­ma­chung wäre – kon­tra­pro­duk­tiv. Das Gegen­teil ist jedoch der Fall, denn die Spra­che unter­stützt hier den Inhalt, der von einer nicht-spa­ni­schen Leser­schaft ohne­hin nicht zwangs­läu­fig in sei­ner Fül­le ver­ar­bei­tet wer­den kann – zu viel­fäl­tig sind dafür die Andeu­tun­gen und zu vage die Skiz­zie­run­gen der geschicht­li­chen Ereig­nis­se, deren Auf­ar­bei­tung im kol­lek­ti­ven Gedächt­nis Spa­ni­ens ohne­hin erst in den letz­ten Jahr­zehn­ten statt­ge­fun­den hat.

Und Lite­ra­tur wäre schließ­lich auch kei­ne so reiz­vol­le Kunst­form, wenn man immer alles auf Anhieb ver­ste­hen wür­de und sie immer leicht kon­su­mier­bar wäre. So for­dert eben die­se Gra­phic Novel genau wie ihr Vor­gän­ger, dass ihre Lese­rin­nen und Leser in der spa­ni­schen Geschich­te ver­sin­ken. Dass die­se aber nicht sofort ver­ständ­lich ist und ein tie­fe­res Ein­tau­chen erfor­dert, wird auf der sprach­li­chen Ebe­ne wiedergespiegelt.

Anstatt den frem­den Ursprung zu ver­schlei­ern, beto­nen die unüber­setz­ten Wör­ter, die wie die über­setz­ten Wör­ter glei­cher­ma­ßen Teil des Gesamt­kon­zep­tes der Über­set­zung sind, die Ein­bet­tung des Tex­tes in die spe­zi­fisch spa­ni­sche Geschichts­er­fah­rung. Die­se Kon­tex­tua­li­sie­rung funk­tio­niert also über die Bil­der, die Spra­che, und nicht zuletzt auch über die Über­set­zung, die uns Lese­rin­nen und Leser dar­an erin­nert, dass Tex­te ihre vol­le Wir­kung auch über das Unbe­kann­te ent­fal­ten können.

Anto­nio Altarriba/Kim/André Höche­mer: Der gebro­che­ne Flü­gel (im spa­ni­schen Ori­gi­nal: La ala rota)

Avant 2019 ⋅ 264 Sei­ten ⋅ 25 Euro

www.avant-verlag.de/comic/der_gebrochene_fluegel

Anto­nio Altarriba/Kim/André Höche­mer: Die Kunst zu flie­gen (im spa­ni­schen Ori­gi­nal: El arte de volar)

Avant 2012 ⋅ 208 Sei­ten ⋅ 24,95 Euro

www.avant-verlag.de/comic/die_kunst_zu_fliegen

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