Immer lauter sind derzeit die Forderungen nach anderen Perspektiven, anderen Geschichten in Film, Fernsehen und Literatur zu hören. Es geht dabei um Diversität – darum, die Welt in ihrer Vielfalt darzustellen und Stereotype zu unterlaufen. Erschwert wird dieses Unterfangen jedoch durch die Tatsache, dass die Mehrheit der Kulturschaffenden in vielen Ländern aus ähnlichen Milieus kommt und immer noch tendenziell männlich ist. Auch in der Comicbranche hat man es erst in den letzten Jahren geschafft, sich von der Idee zu distanzieren, dass die Zielgruppe dieses Genres nur aus zwangsläufig männlichen „Nerds“ bestünde, die wiederum nur sich selbst gespiegelt sehen will. Man muss nur einen kurzen Blick in die Programme der Verlage werfen, um zu sehen, dass sich viel tut.
Auch der sehr bekannte spanische Autor Antonio Altarriba musste erst lernen, dass die Zeit reif ist für andere Stoffe und Inhalte, und dass diese von seinem Publikum gefordert werden. Auf einer Lesung seiner überaus erfolgreichen Graphic Novel Die Kunst zu fliegen (span. El arte de volar), die semi-autobiografisch und in epischer Länge die Geschichte seines verstorbenen Vaters erzählt, fragte ihn eine junge Frau: „Y su madre?“ – „Und Ihre Mutter?“. Altarribas Antwort war, so viel kann man sich denken, unbefriedigend, sowohl für die Fragende als auch für den Autor selbst, der stets nur den Vater als Protagonisten vor Augen hatte. Seine Mutter war dagegen Teil der „historia oculuta de España“, der „verborgenen Geschichte Spaniens“.
Wir dürfen uns also bei jener unbekannten Frau bedanken, dass es einen Nachfolgeband zu Die Kunst zu fliegen gibt, der nun auch unter dem Titel Der gebrochene Flügel (span. El ala rota) in deutscher Übersetzung erschienen ist. In der wiederholten Zusammenarbeit mit dem spanischen Zeichner Kim ist dabei ein interessantes Experiment entstanden. Denn Altarribas Mutter kommt in Die Kunst zu fliegen nur am Rande vor und verschwindet so schnell, dass sie wohl niemandem besonders in Erinnerung geblieben sein dürfte. Ihrer Geschichte ein ganzes Buch zu widmen, ist ungefähr so, als hätte Goethe seinem Gretchen ein eigenes Drama geschrieben, oder als hätte Batmans Mutter ihr eigenes Comic.
Auf knapp 250 Seiten erzählt Altarriba nun von der traumatischen Geburt seiner Mutter, ihrem gesellschaftlichen Aufstieg vom Dienstmädchen zur Gouvernante und schließlich zur Hausfrau, die bis zum Bankrott der Firma ihres Mannes ein Mittelschichtleben führen darf. Während das Leben ihres Mannes in Die Kunst zu fliegen von Ereignissen geprägt ist, sind es im Leben der Mutter die Männer – vom Vater über den General Juan Bautista bis hin zu ihrem späten Liebhaber – die ihrem Leben und auch der Graphic Novel einen roten Faden geben.
Interessant ist dabei, welche formalen Änderungen dieser Perspektivwechsel zur Folge hat. Während in Die Kunst zu fliegen nämlich aus der Sicht von Altarribas Vater, der seinem Sohn Notizen hinterlassen hatte, erzählt wird, erhält man in Der gebrochene Flügel keinen Zugang zu der Gedankenwelt der Mutter. Die eindringliche Erzählstimme des Vaters wird nicht ersetzt, sondern weggelassen. Es fallen somit auch die umfangreichen erzählerischen Kommentare in den Captions weg, die sicherlich auch zur inhaltlichen und sprachlichen Komplexität von Die Kunst zu fliegen beigetragen haben.
Mit dem Wegfall der doppelten Erzählstruktur konzentriert sich die gesamte erzählerische Fülle in den Sprechblasen. Die Schwierigkeit beim Übersetzen von Comics besteht darin, dass der Platz, den die Übersetzung einnehmen darf, klar vorgegeben ist. Der Zeichner gibt mit seinen Sprechblasen einen konkreten Raum vor, den es zu füllen gilt. André Höchemer, der schon den Vorgänger übersetzte, bekommt es in Der gebrochene Flügel mit einer Wortlastigkeit zu tun, die für das Genre bisweilen untypisch ist. Dennoch dürfte sich Altarriba gut übersetzen lassen. Seine Sätze sind in diesem Band oftmals so kurz und prägnant, dass sie nicht nur in die Sprechblasen passen, sondern sich auch in die tendenziell eher ausschweifendere deutsche Sprache übertragen lassen, ohne dass der Text in den Sprechblasen überquillt. Höchemer übersetzt fast wörtlich:
-Franco no podrá mantenerse en el poder por mucho tiempo…
Alemania está a punto de capitular…
¿Qué parasará entonces con un país identificados con los símbolos fascistas…?
Hasta los toreros salen al ruedo con el brazo en alto…
Las Potencias aliadas no lo consentirán…Franco wird sich nicht lange an der
Macht halten können. Deutschland
steht kurz vor der Kapitulation, und
was passiert dann mit einem Land
mit faschistischen
Symbolen?
Sogar die Stierkämpfer
betreten die Arena mit
erhobenem Arm. Die alliierten
Mächte werden das nicht dulden.
Dies soll nun aber nicht bedeuten, dass Übersetzern von Graphic Novels keine Freiheiten gegönnt sind. Zwar wird durch die Fesselung an die Sprechblasen eine deutlich stärkere Nähe zum Original kultiviert, als es in anderen Genres der Fall ist, trotzdem lässt auch Höchemer Wörter zuweilen wegfallen oder übersetzt beispielsweise „empiezan a encajar las piezas del puzzle“ relativ frei als „Die Teile fügen sich zu einem Bild zusammen“, und entfernt sich so vom Original. Nicht zuletzt werden manchmal auch Wörter hinzugefügt, die bestimmte inhaltliche Nuancen gekonnt hervorheben. Die Übersetzung von Höchemer ist ein gelungenes Beispiel für alle Skeptiker, dass auch das Hinzufügen von Wörtern im Sinne des Originals sein kann. Hier ein Beispiel:
Im spanischen Original heißt es an dieser Stelle: „Yo soy Doroteo, guapa… puedes contar conmigo para lo que quieras”. Das Wort „Ding“ wird also erst in der Übersetzung hinzugefügt und unterstützt hier die objektifizierende Redeweise und übergriffige Gestikulation des Sprechenden. Übersetzen heißt eben auch Interpretieren und an dieser Stelle der Graphic Novel, in der auch sexuelle Gewalt und sexistische Strukturen dargestellt werden, verstärkt die Interpretation des Übersetzers die Erzählweise des Gesamtwerkes.
Besonders bemerkenswert ist allerdings nicht nur, wie Höchemer übersetzt, sondern auch, was er unübersetzt lässt. Denn auch dies ist eine übersetzerische Entscheidung mit bisweilen gravierenden Auswirkungen auf den Text. In Der gebrochene Flügel wirkt sich dies keineswegs negativ aus – im Gegenteil. Diese Graphic Novel beweist erneut, wie überholt die These ist, dass man einer Übersetzung ihren Status als übersetzten Text im Idealfall nicht anmerken solle. Höchemer hat dies glücklicherweise gar nicht erst versucht. Denn die hier dargestellte Lebensgeschichte der Mutter ist, genau wie die des Vaters, so tief in der spanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts verwurzelt, dass jeder Versuch der sprachlichen Distanzierung von der spanischen Kultur albern erscheint. Bei ihm dürfen Figuren Sätze sagen, die von spanischen Begriffen durchzogen sind, und in einem unübersetzten Spanisch singen:
Solche sprachlichen Anspielungen sind natürlich nicht jedem Leser verständlich und somit an sich – sofern das einzige Kriterium für eine gute Übersetzung die Verständlichmachung wäre – kontraproduktiv. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, denn die Sprache unterstützt hier den Inhalt, der von einer nicht-spanischen Leserschaft ohnehin nicht zwangsläufig in seiner Fülle verarbeitet werden kann – zu vielfältig sind dafür die Andeutungen und zu vage die Skizzierungen der geschichtlichen Ereignisse, deren Aufarbeitung im kollektiven Gedächtnis Spaniens ohnehin erst in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat.
Und Literatur wäre schließlich auch keine so reizvolle Kunstform, wenn man immer alles auf Anhieb verstehen würde und sie immer leicht konsumierbar wäre. So fordert eben diese Graphic Novel genau wie ihr Vorgänger, dass ihre Leserinnen und Leser in der spanischen Geschichte versinken. Dass diese aber nicht sofort verständlich ist und ein tieferes Eintauchen erfordert, wird auf der sprachlichen Ebene wiedergespiegelt.
Anstatt den fremden Ursprung zu verschleiern, betonen die unübersetzten Wörter, die wie die übersetzten Wörter gleichermaßen Teil des Gesamtkonzeptes der Übersetzung sind, die Einbettung des Textes in die spezifisch spanische Geschichtserfahrung. Diese Kontextualisierung funktioniert also über die Bilder, die Sprache, und nicht zuletzt auch über die Übersetzung, die uns Leserinnen und Leser daran erinnert, dass Texte ihre volle Wirkung auch über das Unbekannte entfalten können.
Antonio Altarriba/Kim/André Höchemer: Der gebrochene Flügel (im spanischen Original: La ala rota)
Avant 2019 ⋅ 264 Seiten ⋅ 25 Euro
Antonio Altarriba/Kim/André Höchemer: Die Kunst zu fliegen (im spanischen Original: El arte de volar)
Avant 2012 ⋅ 208 Seiten ⋅ 24,95 Euro