Die Schön­heit dahinter

Klaus Hoffer bringt die skizzenhaften Erzählungen der US-Amerikanerin Lydia Davis auf eigenwillige, ja riskante Art und Weise ins Deutsche. Dabei gelingt vieles, aber nicht alles. Von

Der niederländische Künstler Theo van Doesburg erfasste in seinen Skizzen und Studien im Jahr 1918 genau die Anatomie der Kuh. Quelle: Wikimedia Commons

Lydia Davis gilt als Meis­te­rin der Kurz- und Kür­zest­ge­schich­te. Als Autorin mit schar­fem Blick für den All­tag samt sei­ner bana­len wie absur­den Sei­ten, und vor allem mit einem Auge für die wil­den, manch­mal neu­ro­ti­schen Blü­ten, die die mensch­li­che (Selbst)Reflexion gele­gent­lich hervorbringt.

Mich als lei­den­schaft­li­che Lese­rin wie als Autorin fas­zi­niert die Prä­zi­si­on von Davis‘ Beob­ach­tun­gen und mehr noch deren sprach­li­cher Wie­der­ga­be. Denn das Wie des Erzäh­lens ist hier stets genau­so bewusst gewählt wie der Inhalt: Ganz egal, ob es um All­tags­be­ob­ach­tun­gen etwa von Kühen vor dem Fens­ter oder Müll­wa­gen auf der Stra­ße geht, Träu­me skiz­ziert oder Leser- und Kun­den­brie­fe prä­sen­tiert wer­den, ob es sich um län­ge­re Geschich­ten wie etwa Die See­hun­de han­delt oder um Sze­nen aus dem Leben Flau­berts, den sie seit vie­len Jah­ren selbst mit gro­ßem Erfolg über­setzt – das her­vor­ste­chen­de Merk­mal liegt in mei­nen Augen stets im Bemü­hen, ohne Umschwei­fe, ohne Ara­bes­ken, Aus­schmü­ckun­gen oder irgend­wel­che Plot­kunst­stück­chen den Kern des­sen frei­zu­le­gen, was zu erzäh­len ist. Spra­che wird in Davis kun­di­gen Hän­den zum chir­ur­gi­schen Präzisionswerkzeug.

Wie las­sen sich sol­che Minia­tu­ren über­set­zen? Ist es mög­lich, die kur­zen und kür­zes­ten Geschich­ten aus Can’t and Won’t (Farr­ar, Strauss and Giroux 2014), von denen so man­che nur in einem ein­zi­gen Satz erzählt wird, adäquat im Deut­schen wie­der­zu­ge­ben? Klaus Hof­fer hat sich mit Kanns nicht und wills nicht, 2014 erschie­nen im öster­rei­chi­schen Dro­schl Ver­lag, schon zum wie­der­hol­ten Mal auf die­ses Wag­nis eingelassen.

Licht, hell und klar, so wir­ken die Geschich­ten von Lydia Davis auf mich. Eine Samm­lung wie Can’t and Won’t zu lesen, ist wie einen Strand­spa­zier­gang mit offe­nen Augen zu machen und dabei statt Strand- und Treib­gut, Muscheln, Stei­nen und See­ster­nen eben Davis’ Gedan­ken und Tex­ten zu begeg­nen. Oder auch wie der Besuch einer Aus­stel­lung im Muse­um, bei dem jedes ein­zel­ne Stück genü­gend Raum zur Ent­fal­tung der eige­nen Wir­kung hat und der Besu­cher die Gele­gen­heit, all dies im eige­nen Tem­po zu erkun­den. Erfri­schend, bele­bend, anre­gend, so wirkt das auf mich.

Das ist im Wesent­li­chen auch mein Gesamt­ein­druck der Über­set­zung von Klaus Hof­fer. Der ganz eige­ne Reiz der Geschich­ten und Beob­ach­tun­gen samt der bemer­kens­wer­ten Prä­zi­si­on der Spra­che bleibt für mich in der Über­set­zung erhal­ten. Nicht in allen Geschich­ten und an jeder Stel­le in glei­chem Maße, aber aufs Gan­ze bezo­gen allemal.

Dabei ist die Über­set­zung der ers­ten Geschich­te, auf die ich näher ein­ge­hen möch­te –  Die Magie der Eisen­bahn (The Magic of the Train) – sowohl ein gutes Bei­spiel für Davis’ Erzähl- als auch für  Hof­fers Über­set­zungs­kunst. Der Zau­ber die­ser Geschich­te liegt dar­in, wie ihre Form – zwei lan­ge Sät­ze, in denen ein­mal beschrie­ben wird, wie sich zwei Frau­en vom betrach­tend-erzäh­len­den „Wir“ auf ihrem Weg durch den Zug ent­fer­nen, wobei sie von hin­ten betrach­tet jung bis sehr jung schei­nen, um dann zu den Betrach­tern zurück­zu­keh­ren und von vorn wie von Zau­ber­hand um zwan­zig Jah­re geal­tert aus­zu­se­hen – ihren Inhalt per­fekt spie­gelt. Dabei spielt nicht nur die Län­ge der bei­den Sät­ze eine Rol­le, son­dern vor allem deren auf­zäh­len­der, gerad­li­ni­ger Charakter:

We can see by the way they look from behind, as we watch them walk away from us down the train car, past the open doors of the toi­lets, through the sli­ding doors at the end, into some other part of the train, […]

Schnur­ge­ra­de ist der Weg der bei­den Frau­en, hier im ers­ten Teil bei Davis noch schlicht „they“, schnur­ge­ra­de wie der Gang in einem Eisen­bahn­wag­gon, in dem man nur hin­ter­ein­an­der gera­de­aus gehen kann – und genau­so wie an einer Schnur auf­ge­reiht sind die Beob­ach­tun­gen, die die­sen Weg schil­dern. Die Erzäh­lung gestal­tet sich auch in Hof­fers Über­set­zung so grad­li­nig wie ein­deu­tig fort vom Betrachter:

Dar­an, wie sie von hin­ten aus­se­hen, als wir sie dabei beob­ach­ten, wie sie von uns weg- und an dem Eisen­bahn­wag­gon ent­lang­ge­hen, vor­bei an den offe­nen Türen der Toi­let­ten, durch die Schie­be­tü­ren am Ende und in einen ande­ren Teil des Zuges, […]

Die Bil­der im Kopf, der Sog der Erzähl­wei­se, all das bleibt in der Über­set­zung nahe­zu per­fekt erhal­ten. Aller­dings gera­te ich beim Lesen das ers­te Mal ins Stol­pern, denn bei Hof­fer ist die Rede von „an dem Eisen­bahn­wag­gon ent­lang­ge­hen“, obwohl die bei­den Frau­en doch in dem­sel­ben unter­wegs sind. Wäh­rend dies noch ein Tipp- oder Satz­feh­ler sein könn­te, ist die Rich­tungs­an­ga­be im zwei­ten Satz schlicht falsch: „But when they come back the other way toward us, after a litt­le while, from their excur­si­on to some stran­ge and magi­cal part of it up ahead …“ ist eben nicht „von ihrem Aus­flug durch den Zug bis zu einem eigen­tüm­li­chen und magi­schen Teil­stück wei­ter oben …“, denn es han­delt sich ja nicht um einen mehr­stö­cki­gen Zug, so dass es nur ‚wei­ter vorn‘ hei­ßen kann.

Natür­lich sind das Klei­nig­kei­ten, zumal bei die­ser Geschich­te wie auch bei allen ande­ren der Gesamt­ein­druck, die Atmo­sphä­re und der Ton der Erzäh­lung stets in der Über­set­zung in erstaun­li­chem, ja beein­dru­cken­den Maß erhal­ten blei­ben. Viel­leicht ist es gera­de die­se Bei­na­he-Per­fek­ti­on, die mich um so mehr an ein­zel­nen Wor­ten bzw., wie ich ver­mu­te, einem bestimm­ten Phä­no­men der Wort­wahl hän­gen­blei­ben lässt? In einer ins­ge­samt weni­ger gelun­ge­nen Über­set­zung wäre mir ver­mut­lich nicht auf­ge­fal­len, dass in Die Kühe (The Cows) „Gesichts­win­kel“ als Über­set­zung für „field of visi­on“ aus zwei Grün­den nicht die opti­ma­le Wahl ist: Wäh­rend letz­te­res im Eng­li­schen ein gebräuch­li­cher (Fach-)Begriff ist, ist ers­te­res es im Deut­schen rar und wird zumeist als „Gesichts­punkt“ und nicht im Sin­ne vom hier gemein­ten „Gesichts­feld“, also dem, was ein mensch­li­cher Betrach­ter sehen kann, ohne den Kopf zu bewe­gen, verwendet.

Man mag das für Erb­sen­zäh­le­rei hal­ten, aber Lydia Davis ist selbst ja auch Über­set­ze­rin. Natür­lich hat man beim Über­set­zen immer wie­der damit zu kämp­fen, dass ver­schie­de­ne Spra­chen nicht ein­fach unter­schied­li­che Wör­ter für das­sel­be Phä­no­men in der Welt drau­ßen bereit­stel­len, son­dern jede Spra­che mit ihren Begriff­lich­kei­ten und Struk­tu­ren „die Welt da drau­ßen“ auf eige­ne Art ord­net. Hin­zu kommt, wie Davis selbst gele­gent­lich aus­führt, dass in den ver­schie­de­nen Sprach- und Kul­tur­räu­men ähn­li­che Begrif­fe unter­schied­li­che Asso­zia­tio­nen her­vor­ru­fen. Man neh­me etwa das Wort „Bau­ern­hof“ und ver­glei­che die Bil­der, die es im Kopf ent­ste­hen lässt, mit denen, die das fran­zö­si­sche „fer­me“ oder das eng­li­sche „farm“ erzeu­gen (wobei letz­te­re je nach geo­gra­fi­schem Kon­text – USA oder Groß­bri­tan­ni­en – schon sehr unter­schied­lich aus­fal­len). Des­halb erscheint es um so wich­ti­ger, über­all da, wo es nahe­lie­gen­de­re, unmit­tel­ba­re­re Über­set­zungs­mög­lich­kei­ten gibt, die­se auch zu verwenden.

Genau das pas­siert in Der Brief an die Stif­tung (The Let­ter to the Foun­da­ti­on) nicht. In die­ser Geschich­te müht sich eine Schrift­stel­le­rin, die ein Sti­pen­di­um erhal­ten hat,  in ihrem Jah­re ver­spä­te­ten Dan­kes­brief so prä­zi­se wie mög­lich zu beschrei­ben, wie sich die­se Zuwen­dung sei­ner­zeit auf ihr Leben aus­ge­wirkt hat. Recht sim­pel scheint das noch zu Anfang (die Tücke der Ange­le­gen­heit offen­bart sich erst im Ver­lauf der Erzäh­lung bzw. des Brie­fes), als sie von der Sekre­tä­rin der Stif­tung ange­ru­fen wird: „She gave me the good news“ – so klar und ein­fach nimmt sich die­ser Vor­gang im Ori­gi­nal aus. Bei Hof­fer dage­gen wird dar­aus: „Sie teil­te mir die Froh­bot­schaft mit.“

Nun kann mit „good news“ im Eng­li­schen durch­aus auch das Evan­ge­li­um als fro­he Bot­schaft bezeich­nen – aber es bleibt eben zugleich die ganz all­täg­li­che gute Nach­richt oder gute Neu­ig­keit. Doch „Froh­bot­schaft“, das in Öster­reich womög­lich etwas gebräuch­li­cher ist als in Deutsch­land, wird wenigs­tens im moder­nen Deutsch so gut wie aus­schließ­lich in theo­lo­gi­schen bzw. reli­giö­sen Kon­tex­ten ver­wen­det. „Fro­he Bot­schaft“ als Über­set­zung hät­te für mich noch gepasst (samt christ­li­chem Anklang), aber „Froh­bot­schaft“ schießt ein­deu­tig übers Ziel hinaus.

Wäh­rend Davis also einen all­täg­li­chen Begriff mit vie­len poten­zi­el­len Bedeu­tungs­nu­an­cen wählt und so mit einem simp­len, aber prä­zi­se gewähl­ten Mit­tel einen beson­de­ren Reso­nanz­raum für ver­schie­de­ne Asso­zia­tio­nen öff­net, geht Hof­fer ohne Not den umge­kehr­ten Weg. Es scheint zumin­dest so, als habe er stel­len­wei­se die Ten­denz, bei der Suche nach beson­ders tref­fen­den Begrif­fen sich für den „beson­de­re­r­en“ zu ent­schei­den. Über das War­um kann man nur spe­ku­lie­ren, aber die Erfah­rung lehrt: Manch­mal führt das Bemü­hen, etwas beson­ders gut zu machen, halt nicht zu einem bes­se­ren, son­dern nur einem bemüh­te­ren Ergebnis.

Aber am Ende über­wiegt ein­deu­tig mei­ne Bewun­de­rung für Hof­fers tref­fen­de Über­set­zung von Davis’ her­aus­ra­gen­der Kurz­ge­schich­ten­samm­lung. Und dank sei­nes Kanns nicht und wills nicht kann ich mei­ne Lieb­lings­au­torin Lydia Davis nun end­lich auch mei­ner Mut­ter zugäng­lich machen, ohne ihr das Buch mit der ein­schrän­ken­de Ein­lei­tung „es ist lei­der nur die Über­set­zung und nicht das Ori­gi­nal“ zu über­rei­chen. Denn alles in allem kann Hof­fers Buch ganz wun­der­bar für sich ste­hen und spricht dabei zugleich beredt fürs Ori­gi­nal wie für die Kunst des Übersetzens.

Lydia Davis/Klaus Hof­fer: Kanns nicht und wills nicht (im ame­ri­ka­nisch-eng­li­schen Ori­gi­nal: Can’t and Won’t)

Dro­schl 2014 ⋅ 304 Sei­ten ⋅ 23 Euro

www.droschl.com/buch/kanns-nicht-und-wills-nicht/

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