Lydia Davis gilt als Meisterin der Kurz- und Kürzestgeschichte. Als Autorin mit scharfem Blick für den Alltag samt seiner banalen wie absurden Seiten, und vor allem mit einem Auge für die wilden, manchmal neurotischen Blüten, die die menschliche (Selbst)Reflexion gelegentlich hervorbringt.
Mich als leidenschaftliche Leserin wie als Autorin fasziniert die Präzision von Davis‘ Beobachtungen und mehr noch deren sprachlicher Wiedergabe. Denn das Wie des Erzählens ist hier stets genauso bewusst gewählt wie der Inhalt: Ganz egal, ob es um Alltagsbeobachtungen etwa von Kühen vor dem Fenster oder Müllwagen auf der Straße geht, Träume skizziert oder Leser- und Kundenbriefe präsentiert werden, ob es sich um längere Geschichten wie etwa Die Seehunde handelt oder um Szenen aus dem Leben Flauberts, den sie seit vielen Jahren selbst mit großem Erfolg übersetzt – das hervorstechende Merkmal liegt in meinen Augen stets im Bemühen, ohne Umschweife, ohne Arabesken, Ausschmückungen oder irgendwelche Plotkunststückchen den Kern dessen freizulegen, was zu erzählen ist. Sprache wird in Davis kundigen Händen zum chirurgischen Präzisionswerkzeug.
Wie lassen sich solche Miniaturen übersetzen? Ist es möglich, die kurzen und kürzesten Geschichten aus Can’t and Won’t (Farrar, Strauss and Giroux 2014), von denen so manche nur in einem einzigen Satz erzählt wird, adäquat im Deutschen wiederzugeben? Klaus Hoffer hat sich mit Kanns nicht und wills nicht, 2014 erschienen im österreichischen Droschl Verlag, schon zum wiederholten Mal auf dieses Wagnis eingelassen.
Licht, hell und klar, so wirken die Geschichten von Lydia Davis auf mich. Eine Sammlung wie Can’t and Won’t zu lesen, ist wie einen Strandspaziergang mit offenen Augen zu machen und dabei statt Strand- und Treibgut, Muscheln, Steinen und Seesternen eben Davis’ Gedanken und Texten zu begegnen. Oder auch wie der Besuch einer Ausstellung im Museum, bei dem jedes einzelne Stück genügend Raum zur Entfaltung der eigenen Wirkung hat und der Besucher die Gelegenheit, all dies im eigenen Tempo zu erkunden. Erfrischend, belebend, anregend, so wirkt das auf mich.
Das ist im Wesentlichen auch mein Gesamteindruck der Übersetzung von Klaus Hoffer. Der ganz eigene Reiz der Geschichten und Beobachtungen samt der bemerkenswerten Präzision der Sprache bleibt für mich in der Übersetzung erhalten. Nicht in allen Geschichten und an jeder Stelle in gleichem Maße, aber aufs Ganze bezogen allemal.
Dabei ist die Übersetzung der ersten Geschichte, auf die ich näher eingehen möchte – Die Magie der Eisenbahn (The Magic of the Train) – sowohl ein gutes Beispiel für Davis’ Erzähl- als auch für Hoffers Übersetzungskunst. Der Zauber dieser Geschichte liegt darin, wie ihre Form – zwei lange Sätze, in denen einmal beschrieben wird, wie sich zwei Frauen vom betrachtend-erzählenden „Wir“ auf ihrem Weg durch den Zug entfernen, wobei sie von hinten betrachtet jung bis sehr jung scheinen, um dann zu den Betrachtern zurückzukehren und von vorn wie von Zauberhand um zwanzig Jahre gealtert auszusehen – ihren Inhalt perfekt spiegelt. Dabei spielt nicht nur die Länge der beiden Sätze eine Rolle, sondern vor allem deren aufzählender, geradliniger Charakter:
We can see by the way they look from behind, as we watch them walk away from us down the train car, past the open doors of the toilets, through the sliding doors at the end, into some other part of the train, […]
Schnurgerade ist der Weg der beiden Frauen, hier im ersten Teil bei Davis noch schlicht „they“, schnurgerade wie der Gang in einem Eisenbahnwaggon, in dem man nur hintereinander geradeaus gehen kann – und genauso wie an einer Schnur aufgereiht sind die Beobachtungen, die diesen Weg schildern. Die Erzählung gestaltet sich auch in Hoffers Übersetzung so gradlinig wie eindeutig fort vom Betrachter:
Daran, wie sie von hinten aussehen, als wir sie dabei beobachten, wie sie von uns weg- und an dem Eisenbahnwaggon entlanggehen, vorbei an den offenen Türen der Toiletten, durch die Schiebetüren am Ende und in einen anderen Teil des Zuges, […]
Die Bilder im Kopf, der Sog der Erzählweise, all das bleibt in der Übersetzung nahezu perfekt erhalten. Allerdings gerate ich beim Lesen das erste Mal ins Stolpern, denn bei Hoffer ist die Rede von „an dem Eisenbahnwaggon entlanggehen“, obwohl die beiden Frauen doch in demselben unterwegs sind. Während dies noch ein Tipp- oder Satzfehler sein könnte, ist die Richtungsangabe im zweiten Satz schlicht falsch: „But when they come back the other way toward us, after a little while, from their excursion to some strange and magical part of it up ahead …“ ist eben nicht „von ihrem Ausflug durch den Zug bis zu einem eigentümlichen und magischen Teilstück weiter oben …“, denn es handelt sich ja nicht um einen mehrstöckigen Zug, so dass es nur ‚weiter vorn‘ heißen kann.
Natürlich sind das Kleinigkeiten, zumal bei dieser Geschichte wie auch bei allen anderen der Gesamteindruck, die Atmosphäre und der Ton der Erzählung stets in der Übersetzung in erstaunlichem, ja beeindruckenden Maß erhalten bleiben. Vielleicht ist es gerade diese Beinahe-Perfektion, die mich um so mehr an einzelnen Worten bzw., wie ich vermute, einem bestimmten Phänomen der Wortwahl hängenbleiben lässt? In einer insgesamt weniger gelungenen Übersetzung wäre mir vermutlich nicht aufgefallen, dass in Die Kühe (The Cows) „Gesichtswinkel“ als Übersetzung für „field of vision“ aus zwei Gründen nicht die optimale Wahl ist: Während letzteres im Englischen ein gebräuchlicher (Fach-)Begriff ist, ist ersteres es im Deutschen rar und wird zumeist als „Gesichtspunkt“ und nicht im Sinne vom hier gemeinten „Gesichtsfeld“, also dem, was ein menschlicher Betrachter sehen kann, ohne den Kopf zu bewegen, verwendet.
Man mag das für Erbsenzählerei halten, aber Lydia Davis ist selbst ja auch Übersetzerin. Natürlich hat man beim Übersetzen immer wieder damit zu kämpfen, dass verschiedene Sprachen nicht einfach unterschiedliche Wörter für dasselbe Phänomen in der Welt draußen bereitstellen, sondern jede Sprache mit ihren Begrifflichkeiten und Strukturen „die Welt da draußen“ auf eigene Art ordnet. Hinzu kommt, wie Davis selbst gelegentlich ausführt, dass in den verschiedenen Sprach- und Kulturräumen ähnliche Begriffe unterschiedliche Assoziationen hervorrufen. Man nehme etwa das Wort „Bauernhof“ und vergleiche die Bilder, die es im Kopf entstehen lässt, mit denen, die das französische „ferme“ oder das englische „farm“ erzeugen (wobei letztere je nach geografischem Kontext – USA oder Großbritannien – schon sehr unterschiedlich ausfallen). Deshalb erscheint es um so wichtiger, überall da, wo es naheliegendere, unmittelbarere Übersetzungsmöglichkeiten gibt, diese auch zu verwenden.
Genau das passiert in Der Brief an die Stiftung (The Letter to the Foundation) nicht. In dieser Geschichte müht sich eine Schriftstellerin, die ein Stipendium erhalten hat, in ihrem Jahre verspäteten Dankesbrief so präzise wie möglich zu beschreiben, wie sich diese Zuwendung seinerzeit auf ihr Leben ausgewirkt hat. Recht simpel scheint das noch zu Anfang (die Tücke der Angelegenheit offenbart sich erst im Verlauf der Erzählung bzw. des Briefes), als sie von der Sekretärin der Stiftung angerufen wird: „She gave me the good news“ – so klar und einfach nimmt sich dieser Vorgang im Original aus. Bei Hoffer dagegen wird daraus: „Sie teilte mir die Frohbotschaft mit.“
Nun kann mit „good news“ im Englischen durchaus auch das Evangelium als frohe Botschaft bezeichnen – aber es bleibt eben zugleich die ganz alltägliche gute Nachricht oder gute Neuigkeit. Doch „Frohbotschaft“, das in Österreich womöglich etwas gebräuchlicher ist als in Deutschland, wird wenigstens im modernen Deutsch so gut wie ausschließlich in theologischen bzw. religiösen Kontexten verwendet. „Frohe Botschaft“ als Übersetzung hätte für mich noch gepasst (samt christlichem Anklang), aber „Frohbotschaft“ schießt eindeutig übers Ziel hinaus.
Während Davis also einen alltäglichen Begriff mit vielen potenziellen Bedeutungsnuancen wählt und so mit einem simplen, aber präzise gewählten Mittel einen besonderen Resonanzraum für verschiedene Assoziationen öffnet, geht Hoffer ohne Not den umgekehrten Weg. Es scheint zumindest so, als habe er stellenweise die Tendenz, bei der Suche nach besonders treffenden Begriffen sich für den „besondereren“ zu entscheiden. Über das Warum kann man nur spekulieren, aber die Erfahrung lehrt: Manchmal führt das Bemühen, etwas besonders gut zu machen, halt nicht zu einem besseren, sondern nur einem bemühteren Ergebnis.
Aber am Ende überwiegt eindeutig meine Bewunderung für Hoffers treffende Übersetzung von Davis’ herausragender Kurzgeschichtensammlung. Und dank seines Kanns nicht und wills nicht kann ich meine Lieblingsautorin Lydia Davis nun endlich auch meiner Mutter zugänglich machen, ohne ihr das Buch mit der einschränkende Einleitung „es ist leider nur die Übersetzung und nicht das Original“ zu überreichen. Denn alles in allem kann Hoffers Buch ganz wunderbar für sich stehen und spricht dabei zugleich beredt fürs Original wie für die Kunst des Übersetzens.
Lydia Davis/Klaus Hoffer: Kanns nicht und wills nicht (im amerikanisch-englischen Original: Can’t and Won’t)
Droschl 2014 ⋅ 304 Seiten ⋅ 23 Euro