Denk ich an Wol­fen­büt­tel in der Nacht …

Jedes Jahr im Frühsommer kommen in Wolfenbüttel deutschsprachige Übersetzerinnen und Übersetzer zusammen, um über ihr Handwerk zu sprechen. In diesem Jahr waren sieben Gäste aus Frankreich mit dabei. Eine Besucherin erzählt, was sie beim Familientreffen der Szene erlebt hat. Von

Beim abendlichen Lesefest ist der Geist Wolfenbüttels besonders zu spüren. Foto: Ebba Drolshagen
Aus dem Fran­zö­si­schen über­setzt von Chris­ta Mar­tin.
Voir aus­si le tex­te ori­gi­nal ici.

So bedau­er­lich es ist: Bis vor eini­gen Mona­ten war mir nicht ein­mal die Exis­tenz der Stadt Wol­fen­büt­tel bekannt. Ich wun­de­re mich heu­te, dass ich mir nie Les­sings Wohn­ort vor­ge­stellt, nie von der Her­zog-August-Biblio­thek gehört hat­te. Da hat­te ich doch tat­säch­lich die­ses Post­kar­ten­deutsch­land bis­her links lie­gen gelas­sen, die­ses Gewirr von Gäss­chen, in denen man ziel­los umher­schlen­dert und sich als Zuschau­er eines Schau­spiels aus einer ande­ren Zeit fühlt – wie in einer Film­ku­lis­se in Lebens­grö­ße, dem pas­sen­den Rah­men für eine deut­sche Anti-Geschich­te, als hät­te der Zwei­te Welt­krieg gar nicht stattgefunden.

Gewiss, wie fast jeder kann­te ich den berühm­ten Jäger­meis­ter, hat­te mich aber nie gefragt, wo er her­ge­stellt wird. Nun lie­ße sich mei­ne Unkennt­nis damit erklä­ren, dass ich weit weg in der Pro­vinz lebe – immer­hin muss­te ich etwa 1.500 km von mei­nem Geburts­ort Bor­deaux bis hier­her zurück­le­gen. Ein biss­chen bedenk­lich ist es aber schon, dass die Über­set­ze­rin, die zu sein ich behaup­te, in den ver­gan­ge­nen fünf­zehn Jah­ren noch nie Wind bekom­men hat­te von die­sen Wol­fen­büt­te­ler Gesprächen.

In dem phan­tas­ti­schen Rat­haus­saal oder in Schü­ne­manns Müh­le, einem rät­sel­haf­ten Laby­rinth aus Stein über Was­ser, wit­tert mein fabu­lier­freu­di­ger fran­zö­si­scher Geist daher beim 16. Tref­fen der deutsch­spra­chi­gen Lite­ra­tur­über­set­zer einen Hauch Geheim­bund und Zau­ber­trank. Zusam­men mit Rita Bari­che, Ben­ja­min Ber­nard, Éli­sa Crab­eil, Bar­ba­ra Fon­taine, Julie Tirard und Lau­rent Vallan­ce bin ich aus­er­wählt, in den Kreis der Ein­ge­weih­ten ein­tre­ten zu dür­fen. Ich füh­le mich pri­vi­le­giert. Welch ein Glück: Der Zau­ber­stab des Deut­schen Über­set­zer­fonds hat mich berührt und mir ein Elmar-Topho­ven-Sti­pen­di­um zuteil wer­den lassen!

Um die Ehre, die mir mit die­sen drei Tagen inten­si­ven Nach­den­kens zuteil wird, gebüh­rend wür­di­gen zu kön­nen, begin­ne ich den ers­ten Tag mit ein paar Bah­nen im Stadt­bad Oker­aue zu Füßen des gewal­ti­gen ocker­far­be­nen Was­ser­turms. Ich bin nicht die ein­zi­ge, die sich den Spruch „Wer weit rei­sen will, muss sein Reit­tier scho­nen“ zu eigen gemacht hat. Schwim­men ist in mei­nen Augen eine der bes­ten Übun­gen gegen die Hal­tung beim Über­set­zen, neben Yoga natür­lich – da dürf­ten mir die Teilnehmer*innen des Work­shops Yoga – Ein Blick über den Mat­ten­rand bei Bet­ti­na Bach gewiss zustimmen.

Frisch und mun­ter tref­fe ich danach Marie Schö­ck, unse­re gute Fee vom Deut­schen Über­set­zer­fonds, und Patri­cia Klo­bu­sicz­ky, die ener­gi­sche und bril­lan­te Vor­sit­zen­de des VdÜ, sowie das ideen­rei­che Wol­fen­büt­tel-Team mit Doro­thea Trau­pe und Jan Schön­herr. Unse­re letz­te Begeg­nung mit Doro­thea und Jan liegt sechs Mona­te zurück: in ande­ren Gäss­chen und einer ande­ren Zeit, in Arles im Süd­os­ten Frank­reich, wo die 35. Tagung der Lite­ra­tur­über­set­zer stattfand.

Bei­de Ver­an­stal­tun­gen haben zahl­rei­che Gemein­sam­kei­ten. Bei­de Städ­te lie­gen abseits der Metro­po­len, besit­zen ein emble­ma­ti­sches Kul­tur­er­be und sind so über­schau­bar, dass man alles bequem zu Fuß erreicht und selbst dann eini­ger­ma­ßen pünkt­lich kommt, wenn man sich Zeit nimmt und trö­delt. Hier wie dort begeg­net uns nicht sel­ten beim Früh­stück oder an einer Stra­ßen­ecke ein ver­trau­tes Gesicht, dazu das bekann­te Namens­schild­chen mit dem Logo von ATLAS oder VdÜ. Hier wie dort schlägt das Herz der Stadt im Takt der Über­set­zung (in Wol­fen­büt­tel misch­te sich die­ses Jahr aller­dings das Umta­ta und Tral­la­la von den Büh­nen des Stadt­fes­tes in den Puls­schlag der Übersetzer*innen).

Die Tref­fen in Arles und Wol­fen­büt­tel ergän­zen sich auch in ihrer Unter­schied­lich­keit, wie mir scheint, näm­lich in der The­ma­tik und der Zahl der Besu­cher. In Arles wird jähr­lich ein über­grei­fen­des The­ma für alle Bei­trä­ge gewählt (das vie­le geschickt umge­hen oder abwan­deln), wäh­rend in Wol­fen­büt­tel nur für das Lese­fest ein The­ma vor­ge­ge­ben ist (das eben­falls gele­gent­lich umgan­gen oder abge­wan­delt wird).

Nun zu den Zah­len, denn wir Übersetzer*innen kön­nen auch zäh­len – selbst wenn wir gern einen varia­blen Maß­stab anle­gen, wie Maria Hum­mitzsch, die 2. Vor­sit­zen­de des VdÜ, in ihrem Ein­gangs­vor­trag sehr rich­tig bemerk­te. In Wol­fen­büt­tel waren wir etwas mehr als zwei­hun­dert – bei hun­dert Anmel­dun­gen allein in den ers­ten zehn Minu­ten, die Pro­fis hat­ten schon in den Start­lö­chern gewar­tet –, in Arles beim letz­ten Tref­fen dop­pelt so vie­le. Dort ist man offen­sicht­lich bestrebt, die Ver­an­stal­tung für das Publi­kum zu öff­nen. Die Ver­ei­ni­gung ATLAS als Orga­ni­sa­to­rin hat sich zum Ziel gesetzt, ein mög­lichst gro­ßes Publi­kum für die Pra­xis und die Her­aus­for­de­rung der Über­set­zung zu sen­si­bi­li­sie­ren, wäh­rend man sich im Kreis der Ein­ge­weih­ten in Wol­fen­büt­tel eher bewusst auf den Aus­tausch und die Gesel­lig­keit unter Kol­le­gen konzentriert.

Wie deut­lich gewor­den sein dürf­te, ist für alle Anwe­sen­den die Über­set­zung eben­so Beruf wie Beru­fung: Enga­ge­ment und Über­zeu­gung. Über die Bezie­hung der Übersetzer*innen zum Text und dar­über hin­aus zu „ihrem“ Autor wird nor­ma­ler­wei­se nur unter Fach­leu­ten gespro­chen, wie über eine scham­haft ver­schwie­ge­ne und ver­klär­te Jugend­lie­be. Doch Nina Geor­ge, der Autorin des Romans Das Laven­del­zim­mer, ist das durch­aus nicht ent­gan­gen. Mit ihrer direk­ten, humor­vol­len Art gewann sie das Publi­kum und wür­dig­te den Mut der Trup­pe, denn wie Sie so rich­tig sag­ten, Madame Geor­ge: „Über­set­zen ist nichts für Feig­lin­ge!“ Wir sind fein­füh­li­ge war­ri­ors unter unse­rer gemein­sa­men Fah­ne. In den Far­ben des VdÜ in Deutsch­land oder des ATLF in Frank­reich und über­all sonst, egal unter wel­chem Namen, stre­ben wir in jedem Win­kel der Euro­päi­schen Uni­on das­sel­be Ziel an.

Die Unter­schie­de und Gemein­sam­kei­ten zwi­schen unse­ren Spra­chen und unse­ren Kul­tu­ren sind in der Tat das Herz­stück unse­res Berufs. Über­set­zen – dar­in sind wir uns alle einig, den­ke ich – soll nicht dar­auf hin­aus­lau­fen, eine Aus­gangs­rea­li­tät in einer Ziel­kul­tur zu assi­mi­lie­ren, son­dern eher, sie dar­in les­bar zu machen und den Zau­ber all ihrer Uneben­hei­ten und Rau­hei­ten zu erhal­ten. Jede Über­set­zung berei­chert die kol­lek­ti­ve Vor­stel­lungs­welt, und uns ste­hen zahl­rei­che Mit­tel zur Ver­fü­gung, um die Leser durch den Text zu geleiten.

Die Zei­chen­set­zung – das haben wir im Work­shop bei Bri­git­te Gro­ße gese­hen – lei­tet das Den­ken, sie gibt dem Atem den Rhyth­mus vor, gewährt Pau­sen und berei­tet dar­auf vor, die größ­ten Stei­gun­gen zu erklim­men. Das Zeit­ge­fü­ge gibt Ori­en­tie­rung, ver­deut­licht uns den Rhyth­mus und ver­leiht dem Text sein Reli­ef. Mit den Mög­lich­kei­ten unse­rer jewei­li­gen Spra­chen las­sen sich die Musik und die Abfol­ge der Bil­der zu neu kom­po­nie­ren. Der Work­shop O Tem­po­ra! bei Tho­mas Bro­vot zeig­te uns, wie vie­le Tech­ni­ken es gibt, um damit zu spie­len. Ein ein­drucks­vol­ler Beweis dafür war die abschlie­ßen­de Lesung. Wie sonst hät­ten die meis­ten von uns, ohne auch nur ein Wort Unga­risch zu ver­ste­hen, den atem­lo­sen Lauf nach­emp­fin­den kön­nen, den Lídia Nádo­ri in ihrer Über­set­zung des Erzähl­bands Die Lie­be unter Ali­ens von Teré­zia Mora wie­der­ge­ge­ben hatte?

Wol­fen­büt­tel, das war auch all das, wovon ich jetzt nicht erzählt habe, die Lesun­gen zum The­ma der vier Jah­res­zei­ten und die vie­len Work­shops, die Dis­kus­sio­nen bei Tisch, man stößt an, schließt Bekannt­schaf­ten, knüpft Net­ze. Und wie­der ein­mal ist man über­zeugt, dass ein ein­zi­ges Leben nie­mals genü­gen wird, unse­ren Appe­tit zu stillen.

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