Wann ist dir Zazie zum ersten Mal begegnet?
Wie fast allen Romanistikstudenten im Studium, in den Achtzigerjahren. Beim ersten Lesen war ich teils amüsiert, teils überfordert und habe mich gefragt, ob ich kleiner Französischstudent wohl alles kapiere, was da sprachlich passiert. Schon damals fand ich das aber sehr spannend, weil es kaum Autoren gibt, die so schreiben.
Das französische Original ist 1959 erschienen; ein Jahr später veröffentlichte der Suhrkamp Verlag schon die erste Übersetzung aus der Feder von Eugen Helmlé. Wann hast du die kennen gelernt?
Die hatte ich während des Studiums natürlich auch. Ich habe nur eine diffuse Erinnerung daran, aber ich weiß noch, dass sie mir schon damals – ohne das genauer analysiert zu haben – ein bisschen staubig vorkam.
Aber damals hast du noch nicht daran gedacht, diesen Text ins Deutsche zu übersetzen.
Nein, um Gottes Willen.
Queneau zu übersetzen galt lange als unmöglich. Helmlés Übersetzung war trotzdem, oder gerade deshalb, von Anfang an äußerst umstritten. Es gab heftige Verrisse. Noch 1994 hat die Düsseldorfer Romanistin und Übersetzungswissenschaftlerin Mona Wodsak in einem langen und sehr detaillierten Aufsatz1 dargelegt, wo die Schwächen dieser Fassung liegen, und für eine Neuübersetzung plädiert. Warum hat es dennoch so lange gedauert?
Es liegt in der Natur der Sache, dass man solche Werke nur Übersetzern geben kann, die das als ihr Vergnügen, ihre Mission, ihren Auftrag empfinden und Lust dazu haben. Und außerdem hat sich dieses Buch von der Backlist ja kontinuierlich weiter verkauft. Da gibt es aus Verlagssicht erstmal wenig Anlass, daran etwas zu ändern, es sei denn, durch eine editorische Entscheidung. Die Neuübersetzung von Zazie ergab sich denn auch aus dem Vorgängerprojekt: den Stilübungen, die ich gemeinsam mit Hinrich Schmidt-Henkel übersetzt hatte.
Hast du denn vom Verlag einen inhaltlichen „Auftrag“ bekommen?
Ich habe zusammen mit dem Lektor Frank Wegner Original und erste Übersetzung noch einmal genau angeschaut, um für uns klarzustellen, ob es eine Neuübersetzung braucht. Die Antwort war ein entschiedenes Ja.
Was waren da die entscheidenden Argumente?
An Stellen, wo es um die psychologische Plausibilität von Sprechweisen sowohl der Figuren als auch der Erzählerstimme geht, bleibt Helmlé nah am Original. Das liest sich dann oft steif oder umständlich, was an vielen Stellen einfach die Wirkung mindert. Man merkt, dass der Text witzig oder ironisch sein will, das Original winkt einem verstohlen zu, aber die Übersetzung bringt diese Absicht nicht direkt genug raus – oder nur mit den Mitteln eines älteren Sprachstandes. Zu Helmlés Verteidigung muss man aber auch sagen, dass er mit seinem experimentell-avantgardistischen Ansatz auch ein neues Kapitel für die Rezeption französischsprachiger Literatur in Deutschland aufgeschlagen hat. „Experimentell-avantgardistisch“ heißt ja nun einmal: Weg vom Naturalismus, weg vom Realismus, also weg von genau dem, was ich bei Helmlé heute vermisse. Nur: Queneau macht beides. Er arbeitet sehr sprachspielerisch, darin oft experimentell und für seine Zeit auch avantgardistisch, aber er macht das immer auf einem Nährboden von psychologischer Plausibilität. Das macht es ja so witzig: Figuren, die einem als glaubwürdig präsentiert werden, machen und sagen dann die verrücktesten Dinge. Helmlé hat meinem Gefühl nach diesen Doppelweg nicht verfolgt, sondern sich auf den experimentellen Aspekt konzentriert und vieles mit großer Wörtlichkeit behandelt.
Wer ein Buch übersetzt, der muss ja immer einerseits akribisch recherchieren und andererseits mit großer Sprachfantasie an den Text herangehen. Oft überwiegt einer der beiden Aspekte – bei Zazie mit ihren vielfältigen historischen und literarischen Bezügen ist aber beides gleich wichtig. Haben sich diese beiden Aspekte beim Übersetzen eher befruchtet oder behindert?
Diese beiden Aspekte waren in verschiedenen Stadien des Übersetzungsprozesses unterschiedlich präsent. Ich habe mit einer ersten Fassung begonnen, in der schon viel recherchiert und viel Spielerisches versucht war. Bei diesem vielschichtigen Buch war mir aber klar, dass ich einen französischen Muttersprachler als Gegenleser brauche. Den hatte ich in der Person von Alexandre Pateau, einem sehr guten Übersetzer aus dem Deutschen ins Französische, der genau liest und Spaß an Queneaus Anspielungsreichtum hat. Der hat mich auf vieles hingewiesen. Ich musste dann abwägen, welche Spielereien unbedingt hinein mussten, weil vermutlich Queneau beim Schreiben diebisch gekichert hat, und welche vielleicht nur eine fünfte Konnotation waren, die mitschwingen kann, aber nicht muss. Der Blick von außen war wichtig. Bei diesem Werk kann man einfach nicht mit der Hybris antreten, zu sagen, dass man das ganz alleine kann.
Im Hausblog des Suhrkamp Verlags hast Du einen kleinen Einblick in den Arbeitsprozess gegeben und eine Wortspielerei veröffentlicht, die der Überarbeitung irgendwann zum Opfer gefallen ist. Hättest du noch viel freier sein können oder hast du die Heckenschere schon im Kopf angesetzt?
Ich habe meine Fantasie erst einmal nicht beschnitten, weil Queneau das auch nicht tut. Ich bin sowieso der Ansicht, dass erst das Lektorat dazu da ist, die „Lektoratsfassung“ herzustellen – das schon vorher zu machen ist wie Autofahren mit angezogener Handbremse. Wenn ein Text mich inspiriert, dann habe ich natürlich manchmal mehr Ideen, als das Original zwingend erforderlich macht. Zu meinem Ethos als Übersetzer gehört aber auch immer die Selbstbefragung: Ist diese Idee wirklich zwingend? Kann ich die vertreten? Oder ist das nicht nur eine kleine Praline, die mir halt eingefallen ist, die ich mir aber doch besser verkneifen sollte? Das habe ich mit großer Strenge durchgezogen – allerdings in einem späten Stadium. Ich habe noch in den Fahnen so einen „Darling“ gekillt.
Was denn?
Zazies erster Satz auf dem Bahnsteig lautet: „Chsuis Zazie, jparie que tu es mon tonton Gabriel.“ Darin steckt der dreifache Reim „chsuis“ – „Zazie“ – „jparie“. Das ist natürlich auffällig, und wenn man Queneau übersetzt und schon alle Wortspiel-Antennen ausgefahren hat, umso mehr. Irgendwann hatte ich einmal die Idee, dass Zazie alle Leute mit einem gereimten Standardspruch begrüßt: „Ich bin Zazie, und wer sind Sie?“ Und dann würde sie hier fortfahren mit „Wetten, du bist …“ – um durch das Du klar zu machen, dass das nur ein Standardspruch von ihr ist, der nichts mit ihrem Onkel zu tun hat. Wenn man dieses Reimspiel für absolut zwingend erklären könnte, wäre es eigentlich ganz lustig gewesen. Aber natürlich steht rein gar nichts à la „Wer sind Sie?“ im Original. Das ging mir dann zu weit. Obwohl es im Geiste von Zazie und vielleicht auch im Geiste von Queneau gewesen wäre, habe ich mich letztlich dagegen entschieden.
Kommen wir noch einmal zur Frage nach den übersetzerischen Prinzipien. Eva Ruth Wemme hat uns nach ihrer Auszeichnung mit dem Preis der Leipziger Buchmesse im Interview gesagt: „Es ist mein Credo, dass das Rumänische ein bisschen durchschimmern soll. Ein übersetzter Text muss transparent sein.“ Ich habe dich immer so verstanden, dass du eher darauf hinauswillst, etwas zu produzieren, das auch von einem deutschen Autor hätte stammen können. Stimmt das?
Ich finde schon, dass eine Übersetzung von ihrem literarischen Kaliber her gleichwertig sein, das heißt idealerweise als ein gleichrangiges deutschsprachiges literarisches Werk antreten können muss. Das bedeutet aber nicht, dass man nicht trotzdem merken dürfte, dass es eine Übersetzung ist. Das schließt sich nicht aus. Und „merken“ verstehe ich nicht in dem Sinne mancher Übersetzungskritiken, die sprachliche Störfaktoren, Interferenzen meinen. Es ist ja auch eine Qualität, dass man merkt: Dieses Werk kommt aus einer anderen Kultur, einer anderen Mentalität. Die wiederum einzudeutschen fände ich total falsch. Es gibt außerdem bestimmte Charakteristika anderer Sprachen, die man im Deutschen stärker betonen kann, ohne dass es deswegen komisches Deutsch würde. Man hat ja im Deutschen – zum Beispiel beim Umgang mit Metaphern oder Satzbau und Rhythmus – viele Gestaltungsmöglichkeiten. Da kann man durchaus vom Original inspirierte Lösungen wählen, die vom Standarddeutschen nicht immer benutzt würden, die aber auch nicht falsch sind. Und damit das Deutsche vielschichtiger machen – statt dass Übersetzungen, wie David Bellos konstatiert, sprachlich immer mainstreamiger, durchschnittlicher ausfallen als ihre Originale. Oder man dehnt die Sprache noch ein kleines bisschen über das Gängige hinaus – diese Position vertritt zum Beispiel, natürlich nur dort, wo das Original es verlangt, die Kollegin Miriam Mandelkow mit sehr spannenden Übersetzungslösungen.
Ein Beispiel, das auch Mona Wodsak aufzählt, ist die Verdopplung oder Vorwegnahme des Subjekts, der die Asterix-Übersetzerin Gudrun Penndorf mit dem Spruch „Die spinnen, die Römer“ ein Denkmal gesetzt hat. Zazie spricht auch oft so, du hast das aber meistens eliminiert.
Dieses Mittel soll im Französischen entweder eine Betonung anzeigen oder Bezugssicherheit herstellen, weil die Bezüge wegen der mangelnden Deklination der Substantive sonst oft nicht klar wären. Das brauchen wir im (deklinierenden) Deutschen aber in der Regel nicht, um die Bezüge zu sichern, also mache ich es auch nicht. Betonungen kann man im Deutschen anders herstellen, zum Beispiel durch syntaktische Umstellungen. Diese Subjektverdopplungen in Übersetzungen aus dem Französischen sind für mich eher ein Zeichen, dass da jemand zu nah am Original geblieben ist.
Gibt es eine Figur, die dir besonders leicht gefallen ist? Mit der du dich identifizieren kannst?
Nein. Ich fand sie alle amüsant, aber identifiziert habe ich mich mit keiner von ihnen. Aber das muss man auch nicht. Am ehesten habe ich versucht, mich mit diesem liebevollen, spöttischen und süffisanten Erzählerblick zu identifizieren. Denn das ist ja wirklich ein allwissender, ja allmächtiger Erzähler, und du musst dich bei diesem Buch auch als allmächtiger Übersetzer positionieren, sonst brauchst du gar nicht anzufangen.
Du maßt dir ja auch an, mindestens der Hälfte der Figuren neue Namen zu geben. Zazies Mutter beispielsweise, im Original und in Helmlés Übersetzung Madame Lalochère, heißt bei dir jetzt Madame Grossestittes.
Es gibt eine bestimmte Art von Literatur, in der sprechende Namen von einem allmächtigen Autor zur Ironisierung einer Figur eingesetzt werden. Nicht alle sprechenden Namen haben diese Funktion. Aber bei den Werken, wo ich das bisher gemacht habe, nämlich bei Boris Vians Gischt der Tage und eben hier, soll der Leser nun einmal gemeinsam mit dem Autor über diesen sprechenden Namen lachen, weil der die Figur noch einmal charakterisiert. Deshalb ist es mir wichtig, dass die Namen verständlich sind und nicht einfach als irgendein französischer Name gelesen werden. Und so erfinde ich einen deutschen sprechenden Namen (bedeutungsäquivalent zum Original: „les loches“ sind im Argot die „(großen) Titten“) und schreibe ihn so hin, als wäre er mit französischen Akzent gesprochen bzw. französisiert, so dass er weiterhin nach einem französischen Namen aussieht und doch die deutsche Bedeutung trägt: Grossestittes.
Musstest du den Verlag von deinen Namensänderungen überzeugen?
Nein. Frank Wegner hat sich gefreut!
Die Frage, wie viel hinter diesen ganzen Späßen steckt, ist aber durchaus legitim. Der Kritiker Klaus Nüchtern schrieb kürzlich im österreichischen Falter: „Abgesehen einmal davon, dass die Zotig- und Schlüpfrigkeiten, das ganze Getue und Gemutmaße um die ‚Hormosessualität‘ Gabriels heute eher verklemmt als kühn wirken, entpuppt sich auch die sprachliche Kühnheit bei näherem Hinsehen meist als mattes Avantgardistengewitzel.“ Deine Antwort darauf?
Den Verdacht einer gewissen Verklemmtheit hatte ich zu einem gewissen Zeitpunkt selbst auch. Aber dann ist mir aufgefallen, dass eigentlich nur gewisse Figuren, über die Queneau sich sowieso lustig macht, damit ein Problem haben. Die direkt Betroffenen, nämlich Gabriel und Marceline, bleiben da ganz ruhig; sie sagen, nein, ist er nicht, aber sie empören sich nicht ob der Unterstellung, was eigentlich zeittypisch gewesen wäre. Der Grund, warum Zazie sich so sehr für dieses Thema interessiert, ist eher, dass sie merkt, die meisten Erwachsenen drucksen bei dem Thema herum. Sie will es dann, wie immer, genau wissen. Queneau macht sich also über die spießige Bürgerlichkeit seiner Zeit lustig und ist keineswegs selber verklemmt.
Ist Gabriel wirklich so cool? Zazies ständige Nachfragen sind ihm doch ziemlich peinlich.
Das ganze Theater ist ihm peinlich. Er weiß natürlich auch, dass ein Schwuler 1959 nichts zu lachen hat. Aber er begibt sich nicht in die typische Entrüstung des rechtschaffenen Mannes, dem etwas Ehrabschneidendes angedichtet wird. Und auch Gridoux, der Schuster, weist den Polizisten zurecht – nach dem Motto: Hey, der arbeitet halt als Travestiekünstler, was soll das Problem sein?
Nüchtern kritisiert auch, dass du bei der Übersetzung mündlicher Rede Versatzstücke verschiedener Zeitebenen vermischst.
Die Analyse stimmt. Das ist mein Versuch, diesen Zeitabstand zu überbrücken. Ich wollte ja sprachlich weder einen musealen Kostümfilm produzieren noch in der „Cool-krass-geil“-Ecke landen – eine Mischung aus Mündlichkeitssignalen verschiedener Jahrzehnte zwischen damals und heute ergab sich damit geradezu zwangsläufig. Wie auffällig das ist, hängt stark von der Sprachprägung jedes einzelnen Lesers ab. Da kann ich nicht jeden glücklich machen. Wenn es einem auffällt, kann man es auch als Teil eines – hoffentlich amüsanten – Spiels mit Sprache begreifen.
Aber steckt in dem Buch nicht mehr als ein historisches Zeugnis einerseits und ein witziges Sprachspiel andererseits? Die Referenzen beispielsweise auf Proust sind doch kaum zu übersehen.
Diese Bezüge gibt es, aber eher als Angebote. Zum Glück kann man den Roman auch genießen, ohne die alle zu kapieren. Zeitlos ist für mich vor allem Queneaus Respektlosigkeit. Er tritt den Autoritäten permanent vors Schienbein. So etwas ist immer großartig. Und wie er das macht, ist immer noch witzig. Denn selbst wenn heute die Kinder vielleicht frecher reden als sie es damals durften, so dass Zazies Kodderschnauze heute weniger schockierend wirkt, amüsiert einen das in diesem historischen Rahmen ja immer noch. Die Handlung muss man nehmen wie ein Roadmovie. Da geht es ja auch nicht um die einzelnen Stationen, sondern um die Akkumulation von kuriosen Begegnungen und Situationen. Das findet seinen Sinn eher auf einer übergeordneten Ebene – in diesem Fall geht es um das Flanieren durch die Großstadt Paris. Und insofern ist auch dieser Blick auf die Welt der eines neugierigen Flaneurs und nicht ein plot-zielgerichter Blick von A nach B.
Ist das auch dein Blick auf die Welt?
Ja. Zwei Sachen liegen mir nahe: einerseits diese Neugierde auf soziale Szenerien, wenn ich unterwegs bin. Touristengruppen, die Blicke der Einheimischen, Interaktionen an der Supermarktkasse – all das beobachte ich gerne und amüsiere mich drüber. Und zweitens natürlich der Spaß an sprachlichen Vielschichtigkeiten und Elementen. Das habe ich mit Menschen wie Queneau oder auch meinen US-amerikanischen Autoren Lorrie Moore und George Saunders gemeinsam – ich glaube, die bemerken überall Phänomene und Formulierungen mit irgendeiner versteckten zweiten Bedeutungsebene. Den Sprechenden fällt die in der Situation nicht auf – aber den Autoren schon. Und mir eben auch. Ein Hauptvergnügen.
Frank Heibert, geboren 1960 in Essen, lebt in Berlin. Seit 1983 arbeitet er als Literatur- und Theaterübersetzer aus dem Englischen, Französischen, Italienischen und Portugiesischen.
Freies Lektorat; Projektleitung/Moderation von Literaturveranstaltungen; Literaturkritiken; Seminare/Vorträge zu Übersetzungsthemen. Autor. Jazzsänger.
Raymond Queneau/Frank Heibert: Zazie in der Metro. (Im französischen Original: Zazie dans le métro.)
Suhrkamp 2019 ⋅ 240 Seiten ⋅ 22 Euro
www.suhrkamp.de/buecher/zazie_in_der_metro-raymond_queneau_42861.html