
1. Übersetzte Literatur ist die spannendste Literatur.
Die landläufige Missachtung der übersetzerischen Kunst können wir nach einem Jahr TraLaLit nicht mehr nachvollziehen und ehrlich gesagt auch nicht ernst nehmen. Wie langweilig liest sich doch im Vergleich ein deutsches Original, das nur einen Urheber oder eine Urheberin hat. Das Indirekte, das Doppelbödige, das Spracharbeiterische einer Übersetzung bereitet uns einen Genuss, den wir in nicht übersetzten Werken langsam zu vermissen beginnen.
2. Jeder Text ist übersetzbar.
Zum Glück hat sich bisher jeder als „unübersetzbar“ geltende Text als übersetzbar erwiesen – andernfalls hätten wir so einige Höhepunkte der Literaturgeschichte verpasst. Seltsam nur, dass in vielen Rezensionen immer noch der Satz „der Text galt als unübersetzbar“ zu finden ist. So sehr es uns freut, dass Übersetzerinnen und Übersetzer ein ums andere Mal Texte vor der vermeintlichen Unübersetzbarkeit retten – diese Floskel ist gehaltlos und nervt. Also: Weg damit!
3. Qualität setzt sich nicht durch.
Wir sind ehrlich: Diese These ist provokant. Aber der gegenteiligen These („Qualität setzt sich durch“), die der versierte und verdiente Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel kürzlich in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur aufstellte, können wir dann doch nicht voll zustimmen. Für die Sphären der hohen Literatur mag diese Behauptung weitestgehend zutreffen. Wer sich aber in die Tiefen und Weiten der Ebene begibt, der wird viel Stümperhaftes finden. In Ermangelung öffentlicher Übersetzungswettbewerbe, öffentlicher Übersetzungsdebatten oder öffentlicher Übersetzungskritik bestimmen allzu oft außerliterarische Kriterien über die Auftragsvergabe.
4. Wir brauchen mehr Kritik.
Wir bei TraLaLit sind angetreten, ein kritisches Auge auf das Geschehen in der Übersetzerwelt zu werfen – im Sinne der Forderung, die kein Geringerer als Marcel Reich-Ranicki schon 1965 erhob:
Die Kritik sollte, meine ich, zu erreichen versuchen, daß die interessierten Kreise – wozu natürlich auch ein Teil des Publikums gehört – zwischen vorzüglichen, nur brauchbaren und schlechten Übersetzungen unterscheiden. Dies könnte wiederum die Verleger davon überzeugen, daß es sich lohnt, in die Übersetzungen mehr Geld zu investieren und nicht nur mit den Routine-Übersetzern zu arbeiten.
Kritik in diesem ursprünglichen, Reich-Ranicki’schen Sinne des Wortes, als Unterscheidung derer, die unsere Aufmerksamkeit wert sind, vom Rest, ist bisher bei TraLaLit zu kurz gekommen. Wir nehmen uns daher vor, mehr Kritik zu wagen.
5. Übersetzungen sind Literatur, Übersetzungskritik ist Literaturkritik.
Dabei darf aber nicht aus dem Blick geraten, dass das Übersetzen eigentlich kein Nerd-Thema ist: Schließlich lesen alle, die lesen, andauernd Übersetzungen. Noch mehr als bisher müssen wir uns daher vornehmen, einerseits sprachliche Glanzstunden zu feiern und andererseits die literarische Relevanz übersetzerischer Fehlgriffe aufzuzeigen. Auf diese Weise kann Übersetzungskritik auch der kriselnden Literaturkritik eine neue Perspektive aufzeigen und sie aus dem zuletzt von der ZEIT-Feuilletonistin Iris Radisch beklagten „inflationären Inhaltismus“ befreien. „Man muss erklären“, so Radischs Forderung, der wir uns vorbehaltlos anschließen, „was an dem Buch besonders ist. Ob es ein Kunstwerk ist und weshalb es ein Kunstwerk ist.“
6. Nein, die Verhältnisse sind nicht schuld.
Wir wissen es selbst nur allzu gut: Das Übersetzen ist schlecht bezahlt und noch schlechter anerkannt. Halb informierte Verlagslektorate re(di)gieren einem in das mühsam Erarbeite hinein und Kritiker picken am Ende die zwei Sätze heraus, über die man mit dem Verlag am heftigsten verhandelt hat. Ungerecht! Ungerecht? Diese Rechtfertigungsleier mancher Übersetzerinnen und Übersetzer steht nicht nur einer kraftvollen Übersetzungskritik im Weg – sie verhindert auch, dass das Übersetzen als künstlerische Disziplin irgendwann zu ihrem Recht kommt. Von den Autorinnen und Autoren, denen es oft ökonomisch kaum besser geht, hört man solche Ausflüchte mit gutem Grund nur äußerst selten. Wer sich vorauseilend immerfort selbst von seinem literarischen Werk distanziert, den nimmt am Ende niemand mehr ernst.
7. Die Verhältnisse sind miserabel.
Lenken wir aber nicht ab: Die Zahlen, die der Verband der Literaturübersetzerinnen und ‑übersetzer VdÜ in deprimierender Regelmäßigkeit veröffentlicht, sind erschütternd. Literaturübersetzerinnen und ‑übersetzer sind das Prekariat des Kulturbetriebs. Die Lücke zwischen der anspruchsvollen, künstlerischen Tätigkeit und der lächerlichen Bezahlung ist ein handfester Skandal. Alle, die in Verlagen und Redaktionen dafür Verantwortung tragen, sind dafür bei jeder Gelegenheit zur Rechenschaft zu ziehen. Vielleicht sollte das organisierte Übersetzergewerbe anfangen, über einen landesweiten Streik nachzudenken.
8. Wir brauchen mehr Streit.
Der Berufsverband VdÜ hat für seine Mitglieder einiges erreicht. Sich zusammenzuschließen und gemeinsam Interessen zu vertreten, ist nach wie vor eine sinnvolle Sache. Allzu oft verhindert die starke Kollegialität aber fruchtbare öffentliche Debatten über das Wesen guter – und schlechter – Übersetzungen. Zarte Pflänzchen solcher Auseinandersetzungen werden nach wie vor beäugt anstatt durch entschlossenen Zu- oder Widerspruch gefördert. Im Interview mit TraLaLit sagte die zweite VdÜ-Vorsitzende Maria Hummitzsch Ende 2018: „Wir sind nur als geschlossene Gruppe stark.“ In mancher Hinsicht mag das zutreffen; langfristig wird die „Gruppe“ aber nur stark sein, wenn sie lernt, sich auch öffentlich zu streiten.
9. Vergesst die Übersetzernennung!
Ja, wir haben die mangelnde Übersetzernennung in den deutschen Medien immer wieder beklagt. Ja, wir haben dafür auch eigens einen Hashtag kreiert, mit dem sich besser ermahnen lässt. Aber machen wir uns nichts vor: Die bloße Nennung des Namens ist das mindeste. Sie allein hat noch keine übersetzungs-unkritische Besprechung vor der Belanglosigkeit gerettet. Für die öffentliche Wahrnehmung der übersetzerischen Zunft wäre es zielführender, wenn sie ihre eigenen Themen besser platzierte, als wenn sie sich immer und immer wieder an Konzepten abarbeitet, die letztlich auf nichts anderes hinauslaufen als leeres Name-Dropping.
10. Übersetzerinnen und Übersetzer sind keine Zootiere.
Wenn Übersetzungen in den Medien oder bei literarischen Veranstaltungen zur Sprache kommen, dann oft mit der gleichen Faszination, mit der einarmige Jongleure oder feuerspuckende Löwen betrachtet, nein: angegafft werden. Anstatt der immer gleichen Frage, „wie es denn sei“, ein Werk aus einer anderen Sprache mit den eigenen Worten wiederzugeben, könnten Medien eigentlich einmal anfangen, mit Übersetzerinnen und Übersetzern über Literatur zu sprechen. Ihnen zu widersprechen. Sie zu kritisieren. Manch einer wird sich wundern, wie viel Übersetzerinnen und Übersetzer zu sagen haben, wenn sie zu anderen Themen als immer nur der eigenen Arbeit zu Wort kommen.
11. Gute Übersetzungen sind ein Rätsel.
Das Übersetzen wird zuweilen als Handwerk beschrieben. Übersetzerinnen und Übersetzer arbeiten schließlich sowohl mit Werkzeugen (also Wörterbüchern) als auch einem Material (dem Text). Überhaupt gelten sie im Literaturbetrieb als die bodenständigste, ja: langweiligste Personengruppe. Machen wir uns aber nichts vor. Übersetzen ist Kunst – und eine verdammt unerklärliche noch dazu. Selbst die, die Tag für Tag grandiose Übersetzungslösungen produzieren, scheitern oft daran, ihr Handeln zu erklären. Stattdessen greifen sie auf Eingebungen, ja: Epiphanien zurück. Wer das für langweilig hält, ist selbst schuld; wer aber der Kunst der Übersetzung einmal verfallen ist, den wird sie – versprochen! – nie wieder loslassen.