11 The­sen zur Ret­tung der Welt

Heute feiern wir unseren ersten Geburtstag! Grund genug für eine Bilanz zum Übersetzen, zur Buchbranche und zum Stand der Literaturkritik in Deutschland. Von , und

Kandinsky verbindet Partystimmung mit explosiver Formkritik. Composition X, 1939. Bildmaterial: Wikimedia Commons

1. Über­setz­te Lite­ra­tur ist die span­nends­te Literatur.

Die land­läu­fi­ge Miss­ach­tung der über­set­ze­ri­schen Kunst kön­nen wir nach einem Jahr TraLaLit nicht mehr nach­voll­zie­hen und ehr­lich gesagt auch nicht ernst neh­men. Wie lang­wei­lig liest sich doch im Ver­gleich ein deut­sches Ori­gi­nal, das nur einen Urhe­ber oder eine Urhe­be­rin hat. Das Indi­rek­te, das Dop­pel­bö­di­ge, das Sprach­ar­bei­te­ri­sche einer Über­set­zung berei­tet uns einen Genuss, den wir in nicht über­setz­ten Wer­ken lang­sam zu ver­mis­sen beginnen. 

2. Jeder Text ist übersetzbar.

Zum Glück hat sich bis­her jeder als „unüber­setz­bar“ gel­ten­de Text als über­setz­bar erwie­sen – andern­falls hät­ten wir so eini­ge Höhe­punk­te der Lite­ra­tur­ge­schich­te ver­passt. Selt­sam nur, dass in vie­len Rezen­sio­nen immer noch der Satz „der Text galt als unüber­setz­bar“ zu fin­den ist. So sehr es uns freut, dass Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer ein ums ande­re Mal Tex­te vor der ver­meint­li­chen Unüber­setz­bar­keit ret­ten – die­se Flos­kel ist gehalt­los und nervt. Also: Weg damit!

3. Qua­li­tät setzt sich nicht durch.

Wir sind ehr­lich: Die­se The­se ist pro­vo­kant. Aber der gegen­tei­li­gen The­se („Qua­li­tät setzt sich durch“), die der ver­sier­te und ver­dien­te Über­set­zer Hin­rich Schmidt-Hen­kel kürz­lich in einem Inter­view mit Deutsch­land­funk Kul­tur auf­stell­te, kön­nen wir dann doch nicht voll zustim­men. Für die Sphä­ren der hohen Lite­ra­tur mag die­se Behaup­tung wei­test­ge­hend zutref­fen. Wer sich aber in die Tie­fen und Wei­ten der Ebe­ne begibt, der wird viel Stüm­per­haf­tes fin­den. In Erman­ge­lung öffent­li­cher Über­set­zungs­wett­be­wer­be, öffent­li­cher Über­set­zungs­de­bat­ten oder öffent­li­cher Über­set­zungs­kri­tik bestim­men all­zu oft außer­li­te­ra­ri­sche Kri­te­ri­en über die Auftragsvergabe.

4. Wir brau­chen mehr Kritik.

Wir bei TraLaLit sind ange­tre­ten, ein kri­ti­sches Auge auf das Gesche­hen in der Über­setz­er­welt zu wer­fen – im Sin­ne der For­de­rung, die kein Gerin­ge­rer als Mar­cel Reich-Rani­cki schon 1965 erhob:

Die Kri­tik soll­te, mei­ne ich, zu errei­chen ver­su­chen, daß die inter­es­sier­ten Krei­se – wozu natür­lich auch ein Teil des Publi­kums gehört – zwi­schen vor­züg­li­chen, nur brauch­ba­ren und schlech­ten Über­set­zun­gen unter­schei­den. Dies könn­te wie­der­um die Ver­le­ger davon über­zeu­gen, daß es sich lohnt, in die Über­set­zun­gen mehr Geld zu inves­tie­ren und nicht nur mit den Rou­ti­ne-Über­set­zern zu arbeiten.

Kri­tik in die­sem ursprüng­li­chen, Reich-Ranicki’schen Sin­ne des Wor­tes, als Unter­schei­dung derer, die unse­re Auf­merk­sam­keit wert sind, vom Rest, ist bis­her bei TraLaLit zu kurz gekom­men. Wir neh­men uns daher vor, mehr Kri­tik zu wagen.

5. Über­set­zun­gen sind Lite­ra­tur, Über­set­zungs­kri­tik ist Literaturkritik.

Dabei darf aber nicht aus dem Blick gera­ten, dass das Über­set­zen eigent­lich kein Nerd-The­ma ist: Schließ­lich lesen alle, die lesen, andau­ernd Über­set­zun­gen. Noch mehr als bis­her müs­sen wir uns daher vor­neh­men, einer­seits sprach­li­che Glanz­stun­den zu fei­ern und ande­rer­seits die lite­ra­ri­sche Rele­vanz über­set­ze­ri­scher Fehl­grif­fe auf­zu­zei­gen. Auf die­se Wei­se kann Über­set­zungs­kri­tik auch der kri­seln­den Lite­ra­tur­kri­tik eine neue Per­spek­ti­ve auf­zei­gen und sie aus dem zuletzt von der ZEIT-Feuil­le­to­nis­tin Iris Radisch beklag­ten „infla­tio­nä­ren Inhal­tis­mus“ befrei­en. „Man muss erklä­ren“, so Radischs For­de­rung, der wir uns vor­be­halt­los anschlie­ßen, „was an dem Buch beson­ders ist. Ob es ein Kunst­werk ist und wes­halb es ein Kunst­werk ist.“

6. Nein, die Ver­hält­nis­se sind nicht schuld.

Wir wis­sen es selbst nur all­zu gut: Das Über­set­zen ist schlecht bezahlt und noch schlech­ter aner­kannt. Halb infor­mier­te Ver­lags­lek­to­ra­te re(di)gieren einem in das müh­sam Erar­bei­te hin­ein und Kri­ti­ker picken am Ende die zwei Sät­ze her­aus, über die man mit dem Ver­lag am hef­tigs­ten ver­han­delt hat. Unge­recht! Unge­recht? Die­se Recht­fer­ti­gungs­lei­er man­cher Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer steht nicht nur einer kraft­vol­len Über­set­zungs­kri­tik im Weg – sie ver­hin­dert auch, dass das Über­set­zen als künst­le­ri­sche Dis­zi­plin irgend­wann zu ihrem Recht kommt. Von den Autorin­nen und Autoren, denen es oft öko­no­misch kaum bes­ser geht, hört man sol­che Aus­flüch­te mit gutem Grund nur äußerst sel­ten. Wer sich vor­aus­ei­lend immer­fort selbst von sei­nem lite­ra­ri­schen Werk distan­ziert, den nimmt am Ende nie­mand mehr ernst.

7. Die Ver­hält­nis­se sind miserabel.

Len­ken wir aber nicht ab: Die Zah­len, die der Ver­band der Lite­ra­tur­über­set­ze­rin­nen und ‑über­set­zer VdÜ in depri­mie­ren­der Regel­mä­ßig­keit ver­öf­fent­licht, sind erschüt­ternd. Lite­ra­tur­über­set­ze­rin­nen und ‑über­set­zer sind das Pre­ka­ri­at des Kul­tur­be­triebs. Die Lücke zwi­schen der anspruchs­vol­len, künst­le­ri­schen Tätig­keit und der lächer­li­chen Bezah­lung ist ein hand­fes­ter Skan­dal. Alle, die in Ver­la­gen und Redak­tio­nen dafür Ver­ant­wor­tung tra­gen, sind dafür bei jeder Gele­gen­heit zur Rechen­schaft zu zie­hen. Viel­leicht soll­te das orga­ni­sier­te Über­set­zer­ge­wer­be anfan­gen, über einen lan­des­wei­ten Streik nachzudenken. 

8. Wir brau­chen mehr Streit.

Der Berufs­ver­band VdÜ hat für sei­ne Mit­glie­der eini­ges erreicht. Sich zusam­men­zu­schlie­ßen und gemein­sam Inter­es­sen zu ver­tre­ten, ist nach wie vor eine sinn­vol­le Sache. All­zu oft ver­hin­dert die star­ke Kol­le­gia­li­tät aber frucht­ba­re öffent­li­che Debat­ten über das Wesen guter – und schlech­ter – Über­set­zun­gen. Zar­te Pflänz­chen sol­cher Aus­ein­an­der­set­zun­gen wer­den nach wie vor beäugt anstatt durch ent­schlos­se­nen Zu- oder Wider­spruch geför­dert. Im Inter­view mit TraLaLit sag­te die zwei­te VdÜ-Vor­sit­zen­de Maria Hum­mitzsch Ende 2018: „Wir sind nur als geschlos­se­ne Grup­pe stark.“ In man­cher Hin­sicht mag das zutref­fen; lang­fris­tig wird die „Grup­pe“ aber nur stark sein, wenn sie lernt, sich auch öffent­lich zu streiten.

9. Ver­gesst die Übersetzernennung! 

Ja, wir haben die man­geln­de Über­set­zer­nen­nung in den deut­schen Medi­en immer wie­der beklagt. Ja, wir haben dafür auch eigens einen Hash­tag kre­iert, mit dem sich bes­ser ermah­nen lässt. Aber machen wir uns nichts vor: Die blo­ße Nen­nung des Namens ist das min­des­te. Sie allein hat noch kei­ne über­set­zungs-unkri­ti­sche Bespre­chung vor der Belang­lo­sig­keit geret­tet. Für die öffent­li­che Wahr­neh­mung der über­set­ze­ri­schen Zunft wäre es ziel­füh­ren­der, wenn sie ihre eige­nen The­men bes­ser plat­zier­te, als wenn sie sich immer und immer wie­der an Kon­zep­ten abar­bei­tet, die letzt­lich auf nichts ande­res hin­aus­lau­fen als lee­res Name-Dropping.

10. Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer sind kei­ne Zootiere.

Wenn Über­set­zun­gen in den Medi­en oder bei lite­ra­ri­schen Ver­an­stal­tun­gen zur Spra­che kom­men, dann oft mit der glei­chen Fas­zi­na­ti­on, mit der ein­ar­mi­ge Jon­gleu­re oder feu­er­spu­cken­de Löwen betrach­tet, nein: ange­gafft wer­den. Anstatt der immer glei­chen Fra­ge, „wie es denn sei“, ein Werk aus einer ande­ren Spra­che mit den eige­nen Wor­ten wie­der­zu­ge­ben, könn­ten Medi­en eigent­lich ein­mal anfan­gen, mit Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zern über Lite­ra­tur zu spre­chen. Ihnen zu wider­spre­chen. Sie zu kri­ti­sie­ren. Manch einer wird sich wun­dern, wie viel Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer zu sagen haben, wenn sie zu ande­ren The­men als immer nur der eige­nen Arbeit zu Wort kommen.

11. Gute Über­set­zun­gen sind ein Rätsel.

Das Über­set­zen wird zuwei­len als Hand­werk beschrie­ben. Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer arbei­ten schließ­lich sowohl mit Werk­zeu­gen (also Wör­ter­bü­chern) als auch einem Mate­ri­al (dem Text). Über­haupt gel­ten sie im Lite­ra­tur­be­trieb als die boden­stän­digs­te, ja: lang­wei­ligs­te Per­so­nen­grup­pe. Machen wir uns aber nichts vor. Über­set­zen ist Kunst – und eine ver­dammt uner­klär­li­che noch dazu. Selbst die, die Tag für Tag gran­dio­se Über­set­zungs­lö­sun­gen pro­du­zie­ren, schei­tern oft dar­an, ihr Han­deln zu erklä­ren. Statt­des­sen grei­fen sie auf Ein­ge­bun­gen, ja: Epi­pha­ni­en zurück. Wer das für lang­wei­lig hält, ist selbst schuld; wer aber der Kunst der Über­set­zung ein­mal ver­fal­len ist, den wird sie – ver­spro­chen! – nie wie­der loslassen.

4 Comments

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  1. 2
    Michael Mittelhaus

    Der neun­te Punkt „9. Ver­gesst die Über­set­zer­nen­nung! “ lässt mich als Blog­ger etwas ratlos.
    Gera­de erst habe ich in mei­nen Rezen­sio­nen begon­nen, die Übersetzer(innen) in der Titel­zei­le zu benen­nen (was mir in Blogs nicht gera­de die Regel zu sein scheint). Da sagt Ihr, ver­gesst es? Und sagt nicht, was die Alter­na­ti­ve wäre?
    Euer „Tralalit“ hat mich ermun­tert, die Autor-innen der Über­set­zun­gen nicht nur zu nen­nen, son­dern wenigs­tens zu ver­su­chen, ihre Arbeit mit in die Rezen­si­on einzubeziehen.
    Das ist aber – ins­be­son­de­re bei sprach­mäch­ti­gen Tex­ten – eine ver­dammt anspruchs­vol­le Auf­ga­be, schwe­rer als die Rezen­si­on selbst. Bin ich der Ori­gi­nal­spra­che (Eng­lisch, Dänisch, Norwegisch,Französisch) eini­ger­mas­sen oder wenigs­tens ansatz­wei­se mäch­tig, mag eine „Mit-Rezen­si­on“ der Über­set­zungs­ar­beit noch ange­hen, erscheint mir aber beson­ders anspruchs­voll. Fast unmög­lich, bei Spra­chen, mit denen ich (zu) wenig ver­traut bin.
    Da blie­be dann eine eher „gefühl­te“ Kri­tik, ob einem die über­setz­te Spra­che ange­mes­sen erscheint, aber bringt das wirk­lich etwas?
    Ich blei­be in die­sem Moment etwas rat­los – und bit­te um wei­te­ren Aufschluss.

    • 3
      Felix Pütter

      Lie­ber Herr Mit­tel­haus, wir freu­en uns, wenn Sie Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer auf Ihrem Blog wei­ter­hin nen­nen – ger­ne so pro­mi­nent wie mög­lich. Woge­gen wir uns rich­ten, ist nicht so sehr die Über­set­zer­nen­nung als sol­che, als viel­mehr die über­stei­ger­ten Hoff­nun­gen, die in Krei­sen der Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer selbst zuwei­len mit ihr ver­bun­den sind. Die Nen­nung tut Not, kei­ne Fra­ge. Sie ist aber eben nur eine not­wen­di­ge, bei Wei­tem kei­ne hin­rei­chen­de Bedin­gung für eine Ver­bes­se­rung ihrer Situation. 

      Das, was Sie „gefühl­te“ Kri­tik nen­nen, ist aus unse­rer Sicht der ers­te Schritt, die Über­set­zungs­leis­tung über­all da zu wür­di­gen, wo man tat­säch­lich auf die­se ange­wie­sen ist. Schließ­lich lesen wir alle per­ma­nent das Deutsch derer, deren Namen zu oft unter den Tisch fal­len. War­um also soll­ten wir es nicht kri­ti­sie­ren dürfen?

  2. 4
    Michael Mittelhaus

    Lie­ber Herr Pütter,
    dan­ke für die Ant­wort, die durch­aus wei­ter­hilft. Um ehr­lich zu sein, beim Rezen­sie­ren habe ich oft mei­ner eige­nen „gefühl­ten Kri­tik“ nicht unbe­dingt getraut. Und dann – oft ver­geb­lich – nach „objek­ti­ven“ Begrün­dun­gen gesucht.
    Ihre Ant­wort sehe ich als Ermu­ti­gung, auch den Gefüh­len bei der Buch­kri­tik zu trau­en, auch wenn die­se dann sub­jek­ti­ver erscheint.
    Ich ver­such mal, mich selbst zu beob­ach­ten, wie­viel Gefühl und Sub­jek­ti­vi­tät den Rezen­sio­nen gut tun.
    Bei der Gele­gen­heit einen Dank für eines der span­nends­ten deutsch­spra­chi­gen Lite­ra­tur­blogs, ich lese es sehr ger­ne, so z.B. der Hin­weis auf das Ger­mers­hei­mer Übersetzerlexikon.

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