Ibiza
Ibiza! Da denkt man an türkises Meer, an Beachclubs, Discos und Partys. „Whoah! We’re going to Ibiza, Whoah! We’re gonna have a party“, sangen die Vengaboys 1999 in ihrem Partyhit, der kürzlich in Österreich erneut die Charts stürmte. Doch es gibt natürlich noch ein anderes Ibiza – ein Ibiza, in dem alltägliche Dinge passieren, in dem der Protagonist von Vicente Valeros Roman Übergänge auf dem Weg zur Beerdigung seines ehemals besten Freundes in den engen Gassen der Altstadt nach einem Parkplatz sucht.
Ausgangspunkt des kurzen und kurzweiligen Romans ist eben diese Trauerfeier. Da treffen sich drei Männer Anfang dreißig wieder – sie waren einmal unzertrennliche Freunde, der Verstorbene war seiner Zeit der vierte im Bunde – und schwelgen in Erinnerungen; an die Zeit auf der Klosterschule, an den Vorfall mit den Pornoheften, an Francos Tod und alles, was danach kam. Dabei kommt viel Unverarbeitetes an die Oberfläche, denn der Erzähler weiß genau: „Öffnet man einmal das Schleusentor der Erinnerung, bricht sich eine Bilderflut Bahn, in der man nur allzu leicht ertrinken kann.“
Übergänge gibt es in dem Roman erwartungsgemäß viele. Den Übergang von Diktatur zu Demokratie, von insularer Isoliertheit zu Massentourismus, von Kindheit und Jugend zum Erwachsensein. Bemerkenswert ist, dass Vicente Valero sich selbst als ein Meister der Übergänge herausstellt. Hürdenlos schafft er Übergänge von Zeitebene zu Zeitebene, von Gedankengang zu Gedankengang, von Satz zu Satz. Auch bei der Übertragung ins Deutsche war mit Peter Kultzen ein Profi am Werk. Gekonnt fängt Kultzen Valeros rhythmischen, leicht melancholischen Gedankenstrom ein und verwandelt ihn in einen ebenso fließenden, aber nie platt geglätteten deutschen Text, anhand dessen man sich fragt, wer je behauptet hat, Deutsch sei eine sperrige Sprache. -FM
Vicente Valero/Peter Kultzen: Übergänge (Im spanischen Original: Las Transiciones). Berenberg 2019, 88 Seiten, 22 Euro
Karibik
Selbst am gastfreundlichsten Ort der Welt werden Einheimische immer wieder die Augen verdrehen, wenn Touristen in Massen ihr Land einnehmen. Sie wissen genau, die Touristen kommen und gehen, und werden doch nie verstehen, wie das Leben in einem Urlaubsparadies wirklich ist. In Nur eine kleine Insel nimmt die 1949 auf der Karibikinsel Antigua geborene Autorin Jamaica Kincaid ihre (westlichen) Leserinnen und Leser an der Hand, und zeigt (manchmal etwas widerwillig), in Form einer Erzählung in zweiter Person, das wahre Antigua.
Das Buch erschien 1988 auf Englisch und zwei Jahre darauf in der Übersetzung von Ilona Lauscher auf Deutsch. In einer Mischung aus Stolz und Selbstironie zeichnet die Autorin ein Bild des Lebens auf einer Karibikinsel in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Ihre Erzählung ist manchmal lustig, manchmal informativ, manchmal todernst und die Kritik an Kolonialismus und Kapitalismus, die auf jeder Seite mitschwingt, richtet sich stellenweise an die direkt angesprochenen Leser: „Was Sie hinsichtlich Ihres Touristendaseins schon immer befürchtet haben, stimmt genau: Ein Tourist ist ein hässlicher Mensch.“
Jamaica Kincaid zeigt die Wunden des Kolonialismus und die Schwierigkeiten, nach Erlangen der Unabhängigkeit von England ein Selbstbild zu erschaffen. Die Schönheit der Insel, das in der Sonne glitzernde Meer und die Palmenstrände der Karibik, stehen dabei in direktem Kontrast zu der Hässlichkeit von ungerechten Machtverhältnissen und Ausbeutung.
Die Mischung aus umgangssprachlichem Reiseleitersprech, vorwurfsvoller direkter Anrede und sachlich ernstem Ton ist in der deutschen Übersetzung schön übertragen. Wer Freude an Übersetzungsvergleichen hat, dem sei die 11. Ausgabe des Magazins alba empfohlen. Dort liegt eine etwas gekürzte Fassung des ersten Kapitels in einer neuen, alleine schon durch die unterschiedliche Anrede anders klingenden (im Gegensatz zur älteren Übersetzung wird geduzt) und nicht minder gelungenen Übersetzung von Karina Theurer vor. -FM
Jamaica Kincaid/Ilona Lauscher: Nur eine kleine Insel (Im englischen Original: A Small Place). Deutsche Verlags-Anstalt 1990, 78 Seiten, antiquarisch erhältlich
Rio de Janeiro
Clarice Lispector, hochgebildet und bestechend glamourös, galt schon zu Lebzeiten als Legende und Grand Dame der brasilianischen Literatur. Geboren in der Ukraine, floh sie als Kind mit ihrer jüdischen Familie nach Südamerika. Mit 23 Jahren veröffentlichte Lispector ihren ersten Roman und läutete unter großem Applaus ihre Schriftstellerinnenkarriere ein. Nebenbei arbeitete sie als Modejournalistin und bereiste mit ihrem Diplomatengatten die Welt. Der große Augenblick ist der letzte Roman dieser großen Autorin und vereint in sich die klassischen Elemente des lispectorschen Erzählens – eine expressive Sprache, komplexe Figuren und eine mysteriöse Erzählstimme.
Im Zentrum dieser Erzählung steht eine junge, unscheinbare Frau, aus dem Nordosten Brasiliens kommend, deren Gesicht vor allem als Projektionsfläche des männlichen Erzählers dient: „In einer Straße von Rio de Janeiro sah ich aus dem Augenwinkel das Gefühl des Verlorenseins im Gesicht einer jungen Frau“. Die junge Frau hat nichts – keine Familie, keinen Besitz, kein interessantes Innenleben und auch keine äußerlichen Vorteile, die ihren Wert in den Augen der Männer und des Erzählers steigern könnten.
Dass daraus eine Geschichte entsteht und man diese sogar lesen möchte, liegt vor allem an dem mal lakonischen, mal komischen Tonfall, der von dem Übersetzer Luis Ruby sehr gelungen ins Deutsche übertragen wurde. Die Sätze leben von ihrer Kürze und dem Kontrast aus schlichtem Satzbau und vielschichtigen Gedankengängen. Im Grunde handelt es sich nicht um Sätze, sondern aneinandergereihte Aphorismen, für die jedes Wort zu viel tödlich sein kann. Mittels Sparsamkeit und originellen Wortbausteinen zieht Ruby seine Leserschaft in den Sog von Lispectors Schreiben und eröffnet so eine Welt der Schönheit, Ironie und sprachlichen Eleganz: „Wenn diese Geschichte nicht existiert, dann wird sie existieren. Denken ist ein Akt. Fühlen ist ein Fakt.“ -JR
Clarice Lispector/Luis Ruby: Der große Augenblick. (Im brasilianischen Portugiesisch: A Hora da Estrela). Schöffling & Co 2016, 128 Seiten, 18,95 Euro
Tonga
Übersetzte Literatur vermag, was keine Weltreise kann: Die Welt mit den Augen des anderen zu sehen und aus dessen Perspektive über sich selbst zu lachen. Mit Epeli Hau’ofas im wahrsten Sinne des Wortes pazifischen – friedlichen, heiteren – Satiren geht das besonders gut. Als europäischer Leser braucht man vielleicht ein wenig Zeit, um sich an den unprätentiösen Tonfall Hau’ofas und seiner vier Übersetzerinnen (aus dem Englischen) zu gewöhnen. Aber die Kurzgeschichten rund um die fiktive südpazifische Insel Tuka mit ihren kleinen und großen Dramen rund um Hähnchenzüchter, Sektenführer, Entwicklungshelfer und Kolonialbeamte treiben einem schnell jede Haarspalterei aus und jenes „pazifische Lachen“ aufs Gesicht, das die Übersetzerin Ina Boesch in ihrem instruktiven Nachwort beschreibt. Oder, um es mit Hau’ofas/von Gizyckis Worten zu sagen: „Wahrheit, das ist ausländisches Denken“.
Die deutschen Übersetzungen, die vier verschiedene Personen verfasst haben – warum, bleibt unklar –, lassen Hau’ofas heiter-schwebenden Humor durchscheinen, sind aber sprachlich leider von eher durchwachsener Qualität. Das ist vor allem deshalb schade, weil schon Hau’ofas in englischer Sprache verfasste Original eine Art Übersetzung war – schließlich ist Tongaisch die Amtssprache dieser Pazifikinsel. In ihrem Nachwort schreibt Übersetzerin Boesch:
Vierjahre [sic!] lang hat Hau’ofa an den Texten gearbeitet und gefeilt, er hat seinen ganzen Witz eingesetzt, um die Wortspiele, die in Tonga so wichtig sind, adäquat ins Englische zu übertragen.
Hinter dieser Akribie bleiben die vier, die für die Übersetzungen verantwortlich zeichnen, deutlich zurück. Aber da auf Tiko, wie wir aus der Erzählung „Selig sind die Sanftmütigen“ lernen, „alles gleichzeitig möglich und unmöglich ist“, lassen wir uns davon nicht stören, legen das Buch zur Seite und blicken wieder heiter, versonnen, auf den weiten pazifischen Horizont – zumindest in Gedanken. -FP
Epeli Hau’ofa/Ina Boesch/Renate von Gizycki/Irene Knauf/Johano Strasser: Rückkehr durch die Hintertür (Im englischen Original: Tales of the Tikongs). Unionsverlag 2019, 160 Seiten, 11,95 Euro
Bali
Oka Rusminis Familienroman Erdentanz zeigt die beliebte Ferieninsel in einem Licht, in dem es nur wenige der westlichen Weltflüchtlinge sehen wollen, die Jahr für Jahr ihre Strände besuchen. Zu schnell würde es ihnen den Appetit auf paradiesische Romantik oder gar exotisch-erotische Abenteuer verderben.
Rusmini erzählt das gesellschaftliche Auf und Ab einer balinesischen Familie in vier Generationen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Mütter und Töchter, die in langen Dialogen untereinander das aushandeln, was es bedeutet, eine Frau zu sein. Man kann diesen Protagonistinnen trotz des unübersichtlichen Figurentableaus, trotz Birgit Lattenkamps bestenfalls schulaufsatzartig-hölzernen Sprache („Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du Verständnis für mich aufbringen könntest“) und trotz Rusminis Hang zu kitschigen Metaphern („Ihre Sehnsucht nach diesem Mann […] durchströmte alle Flüsse, alle Meere ihres Körpers“) geradezu verfallen – und wird Bali nie wieder mit den gleichen Augen sehen wie zuvor.
Denn aus der Perspektive dieser Frauen mit ihren ganz alltäglichen Sorgen und Träumen entfaltet Rusmini ein weites Gesellschaftspanorama dieser Insel. Sie erzählt von dem brutalen Kastensystem der balinesischen Gesellschaft, das sowohl sozialem Ab- als auch Aufstieg offen feindselig gegenübersteht und sich doch immer weiter perpetuiert. Sie erzählt von Macho-Männern und liebevollen Ehepartnern, von Hausdrachen und von Freundinnen. Sie erzählt von homo- und heterosexueller Liebe in einer homophoben, sexistischen und zugleich auf leidenschaftliches Begehren getrimmten Gesellschaft. Auch wenn die einzelnen Figuren schon sprachlich-übersetzerisch geradezu restringiert wirken, entfaltet sich hinter der einfachen Sprache auf diese Weise ein schillerndes, mitnichten oberflächliches Tiefenporträt der balinesischen Gesellschaft. -FP
Oka Rusmini/Birgit Lattenkamp: Erdentanz (Im indonesischen Original: Tarian Bumi). Horlemann 2007, 192 Seiten, 12,30 Euro
Griechenland
Für ihren Roman Oktopusgarten hat sich Amanda Michalopoulou eine ungewöhnliche Protagonistin ausgedacht: Athina ist nämlich Übersetzerin. Sie spricht nicht nur viel über das Übersetzerinnenleben, sondern übersetzt auch die Debütnovelle ihres Bruders, die wiederum von Michalopoulou in den Roman eingebettet wurde. Das ins Deutsche übersetzte Buch enthält also eine fiktive Übersetzung der übersetzenden Protagonistin. Mehr meta geht wohl nicht.
In der Übersetzung von Birgit Hildebrand schimmert allerdings auch die ganze Tragikomik des Übersetzerinnendaseins durch:
„Die stabile Achse der Gewohnheit – Übersetzung, Orangensaft, Hin- und Herschieben von Lexika – hatte die Ordnung in mein Leben gebracht, die ich mir erhofft hatte; die unauffällige Regelmäßigkeit der Angewohnheiten eines Junggesellen, der jeden Abend seinen Joghurt ißt und in löchrigen Strümpfen schläft. Was absolut fehlte, waren die Menschen.“
So richtig wohl fühlt sich Athina in ihrem Job als Übersetzerin nicht und findet dementsprechend ein anderes Metier: das Kochen. Worte werden durch exotische Zutaten ersetzt, statt mit Satzteilen zu jonglieren probiert sich Athina an der Zubereitung von Oktopussen aus. In der Sprache von Hildebrand ist das sowohl sinnlich als auch ziemlich witzig. Wer hätte gedacht, dass Essen und Übersetzen so viel gemeinsam haben.
Oktopusgarten ist ein kurzweiliger, oft erheiternder und erstaunlich unprätentiöser Familienroman mit einer charismatischen Protagonistin – perfekt also für den Strand. Und während man sich in der Sonne brutzeln lässt, kann man dank dieser Lektüre schon mal vom Abendessen träumen. Bei Michalopoulou und Hildebrand gibt es Pilzsoufflès, Oktopus in Safran und Granatapfel mit Honig. -JR
Amanda Michalopoulou/Birgit Hildebrand: Oktopusgarten (Im griechischen Original: Γιάντες), Rotbuch Verlag 1999, 429 Seiten, 24,54 Euro