Über Manga gibt es mehr Vorurteile als ich Finger und Zehen habe: voll mit Sex und Gewalt, anspruchslos und oberflächlich, grausam und verwirrend, äußerst simpel gezeichnet, gleichzeitig kindisch … Dabei handelt es sich bei dem Begriff, der ursprünglich „ziellose Bilder“ bedeutete, spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts schlicht um die japanische Bezeichnung für Comics jeglicher Couleur.
Die japanische Spielart zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass die Seiten fast durchgängig schwarz-weiß gehalten sind. Seitenaufbau und Erzählstil erscheinen im Vergleich zu europäischen und US-amerikanischen Comics oft dynamischer, da es die größere Seitenanzahl von Manga-Taschenbüchern erlaubt, den Text insgesamt mehr zu verteilen und so entstehende Freiräume z.B. für Closeups oder ausufernde Action-Szenen zu verwenden.
In Japan werden Manga zunächst kapitel- bzw. geschichtenweise in telefonbuchdicken Magazinen veröffentlicht. Erst wenn genug Material zusammengekommen ist, werden diese in ca. 200 Seiten starken Taschenbüchern zusammengefasst, die wie alle japanischen Bücher „von hinten nach vorne“ gelesen werden.
Die Wahrheit über Manga ist also schlicht und ergreifend, dass diese so vielfältig sind wie deutsche Prosaliteratur. Manches mag einfach und anspruchslos sein, vieles ist aber gerade auch aus Übersetzerinnen-Sicht sehr komplex und anspruchsvoll. Hierzu zähle ich eines meiner aktuellen Projekte, die Serie Das Land der Juwelen von Haruko Ichikawa.
Ichikawa, geboren 1980, zählt zu den Ausnahmeerscheinungen im Bereich Manga. Während die meisten japanischen Manga-Schaffenden schon in der Schule anfangen zu zeichnen oder sogar zu veröffentlichen, liest Ichikawa lediglich und auch nur vereinzelte Titel. Erst als sie schon als Designerin arbeitet, beginnt in ihr der Wunsch zu reifen, eigene Geschichten zu Papier zu bringen. 2006 erscheint ihr erster Kurz-Manga Mushi to uta („Das Insekt und das Lied“, derzeit unübersetzt) im Manga-Magazin Gekkan Afternoon, es folgen weitere Kurzgeschichten. Seit 2012 läuft im selben Magazin ihre erste Serie, Das Land der Juwelen (japanisch Hōseki no kuni), die es bisher auf neun Sammelbände gebracht hat und auch als Anime (Zeichentrick)-Fernsehserie adaptiert wurde.
Das Land der Juwelen lässt sich am ehesten als Fantasy-Coming-of-Age-Geschichte beschreiben in deren Mittelpunkt das Juwel Phosphophyllit (genannt Phos) steht. Der erste Band bietet in erster Linie einen Überblick über die Welt und ihre Figuren, die eigentliche Geschichte geht erst in Band 2 los, um in Band 3 einen ersten dramatischen Höhepunkt zu erreichen. Das Land der Juwelen spielt auf einem Planeten, auf dem es nach mehreren Kometeneinschlägen nur noch einen einzigen Kontinent gibt. Dieser wird von lebenden Juwelen in Menschenform bewohnt, die dort nicht nur verschiedenen Arbeiten nachgehen, sondern sich vor allem der Angriffe des mysteriösen Mondvolks erwehren müssen. Das Mondvolk ist von der Schönheit der Juwelen fasziniert und entführt diese, um sie zu Schmuck und Waffen zu verarbeiten.
Setting und Handlung von Das Land der Juwelen stechen aus der Masse der Manga heraus. Vielleicht sind sie aber sogar etwas zu ungewöhnlich, denn anders als bei anderen Titeln zögerten hier die ausländischen Lizenznehmer recht lange. Die erste Übersetzung, ins Französische (L’Ère des Cristaux, Übersetzung Anne-Sophie Thévenon) erschien erst ab 2016, ab 2017 dann die englische Fassung (Land of the Lustrous, Übersetzung Alethea und Athena Nibley) und seit 2018 schließlich die deutsche Version.
Zur Popularität im Ausland beigetragen haben dürfte die Art, wie dieser Manga mit Geschlecht umgeht. Optisch wirken alle Figuren zunächst androgyn, ohne auffallende Brüste oder Hüften, aber (mangatypisch) mit großen Augen, kleinen Mündern und (meist) Langhaarfrisuren ausgestattet. Bei den Personalpronomen ist die Sache hingegen zumindest augenscheinlich eindeutiger. Das Japanische kennt eine ganze Reihe an Wörtern, die äquivalent zu „ich“ sind und diese sind in aller Regel geschlechtlich markiert. In Das Land der Juwelen treffen wir auf boku und ore, die eindeutig zum männlichen Register gehören, ersteres eher für jüngere, zweiteres eher für ältere Männer. Gleiches gilt für die Äquivalente für „du“: hier kommen vor allem kimi und omae zum Einsatz, auch diese gehören zum männlichen Register. Wenn die Juwelen übereinander sprechen, benutzen sie zumeist kare, was als Äquivalent zum Deutschen „er“ gilt.
Die geschlechtlichen Konnotationen der Pronomen der ersten und zweiten Person Singular, dessen sind sich Japanisch-Übersetzerinnen und ‑Übersetzer schmerzlich bewusst, lassen sich nicht ins Deutsche retten. Aber was ist mit der dritten Person Singular? Naheliegend wäre es, die Juwelen trotz ihrer androgynen Gestalt als Männer zu interpretieren und durchgängig von „er“ zu sprechen. Jedoch sagt die Autorin Haruko Ichikawa explizit, dass die Figuren kein Geschlecht haben und so wurde für die US-amerikanische Fassung beschlossen, für die dritte Person Singular das geschlechtsneutrale Pronomen they zu verwenden –die französische Übersetzung verwendet derweil das Pronomen il („er“).
Für die deutsche Fassung stellte das den Verlag Manga Cult mit seiner Redakteurin Lea Heidenreich und mich als Übersetzerin vor einige Herausforderungen. (Wobei wir uns noch glücklich schätzen dürfen, dass im Deutschen nur die dritte Person Singular eindeutig geschlechtlich festgelegt ist, Verbindungen hingegen aber zum Beispiel grundsätzlich neutral sind.)
Das junge, internetaffine Publikum von Manga und Anime in Deutschland weiß, welche Manga und Anime in den USA veröffentlicht werden. Folglich mussten wir davon ausgehen, dass die dortige Verwendung des Pronomens they für die Juwelen bekannt war. Insofern schied für die deutsche Fassung die Verwendung der Pronomen „er“ bzw. „sie“ von vorneherein aus. Die Möglichkeit der Übersetzung mit „es“ verwarfen wir ebenfalls, da die menschlich agierenden Juwelen so wie reine Sachen erschienen wären und zusätzlich auch Bezüge im Satz hätten unklar werden können: Da im Manga Sätze gerne mal einfach abgebrochen werden, wäre zum Beispiel eine Zeile wie „Es ist nicht sicher …“ unfreiwillig doppeldeutig geworden.
Da ein völliger Verzicht auf Pronomen nicht praktikabel war und ein ständiger Rückgriff auf die Namen der Figuren aus Platz- und Ästhetikgründen ebenfalls unmöglich schien, musste also ein geschlechtsneutrales Pronomen her. Nun hat man sich im Deutschen, anders als z.B. im Englischen oder Schwedischen, noch auf kein universelles geschlechtsneutrales Pronomen geeinigt, noch nicht einmal innerhalb der Community der nichtbinären Personen, wie persönliche Gespräche ergaben. Unsere Recherche endete mit einer langen Liste an Möglichkeiten für meine Übersetzung, u.a.:
- hen / hän
- nin
- sier
- sir
- xier
„Hen“ bzw. „hän“ schieden für mich gleich zu Beginn aus, da hen auf Japanisch „seltsam, merkwürdig“ bzw. „pervers“ bedeutet, unserer Intention als völlig entgegenlief. An den Vorschlägen „nin“, „sier“ und „sir“ (letzteres ein Vorschlag der Duden-Redaktionsleiterin) fand ich aus sprachlicher Sicht problematisch, dass sie nicht oder nur ansatzweise dekliniert werden:
Nin nimmt nimse Jacke und steigt in nims Auto.
Hast du nin gesehen? Nims Auto ist rot.
Nominativ oder Akkusativ machen hier also für die Wortform des Possessivpronomens keinen Unterschied. In einem Text, der auch vollständig deklinierte Pronomen wie „sie“ enthält, schien mir das ungünstig. Das neue Pronomen sollte sich nicht zu stark von den bekannten unterscheiden.
Bei den Alternativen „sier“ und „sir“ besteht noch zusätzlich das Problem, dass es keine eindeutigen Regeln für ihre Deklination bzw. für ihre Verwendung als Possessivpronomen gibt.
Somit blieb noch die Variante „xier“. „Xier“ wurde ursprünglich von Anna Heger entwickelt. Diese ist unter anderen als Comickünstlerin tätig, weswegen die Verwendung des Pronomens in einem Comic schon mal einen gewissen Charme hatte. „Xier“ ist außerdem fast die einzige Option in der Liste, die über eine komplette Deklination verfügt, und das sowohl als Pronomen als auch als Possessivpronomen. Diese ist angelehnt an die Deklination von „er“, was zwar teils kritisiert wird, gleichzeitig aber auch bedeutet, dass das Wort vom Publikum leichter als Pronomen erkannt werden kann. Last but not least sprach auch der ästhetische Aspekt für „xier“: Das Land der Juwelen zeichnet sich durch einen feinen, aber kantigen Strich aus und wie es die Natur von Juwelen ist, zerbrechen diese auch häufig. Insofern schien mir das „x“ sehr passend für den Charakter des Werkes als Ganzes.
Die Kombination „ie“ habe ich außerdem für den bestimmten Artikel übernommen, statt „Du bist der / die Gebildetste hier!“ schreibe ich also:
Die gesamte Idee fand Anklang bei der Redaktion von Manga Cult und erhielt auch das Okay vom Lizenzgeber aus Japan. Beim Übersetzen des Comics zeigte sich indes schnell, dass die Verwendung von „xier“ viele Probleme löste, aber bei weitem nicht alle. Ein Satz wie
[D]a sie nicht weiß, wie sie an eine [zündende Idee] kommt, zermartert sie sich das Hirn.
lässt mich beim Lesen nicht weiter stolpern. Anders jedoch die Umformulierung:
Das ist auf den ersten Blick etwas ungewohnt. Ich versuche daher soweit möglich, eine Häufung von „xier“ zu vermeiden.
Aber die Geschlechtslosigkeit endet ja nicht bei Personalpronomen. Ein weiteres gewichtiges Problem sind Berufsbezeichnungen. Im Japanischen ist dies nicht weiter von Belang, da hier alle Nomen und damit auch (fast) alle Berufsbezeichnungen per se geschlechtsneutral sind. Im Deutschen ist das anders. In Das Land der Juwelen treffen wir zum Beispiel auf Rutil, dier im medizinischen Bereich tätig ist. Da die Bezeichnungen „Arzt“ oder „Ärztin“ ausscheiden, musste ich nach anderen Möglichkeiten suchen. Meist verwende ich „ärztliches Personal“, wie es die Webseite Geschickt Gendern vorschlägt, hundertprozentig zufrieden bin ich damit aber auch nicht. Gerade bei Berufs- bzw. Rollenbezeichnungen musste ich mich das eine oder andere Mal auch geschlagen geben. In Band 1 beispielsweise bezeichnet Phos Rutil als yabu, einen „Kurpfuscher“, „Scharlatan“ oder „Quacksalber“ – was aber alles männliche Bezeichnungen sind. Der Duden kennt explizit auch die „Kurpfuscherin“, die „Scharlatanin“ und die „Quacksalberin“. Ein Umgehen des Wortes mit Formulierungen wie „Du hast ja keine Ahnung von deinem Beruf“ o.ä. war aufgrund der Größe der Sprechblase nicht möglich und so blieb letzten Endes dann doch „Quacksalber“ stehen (siehe oben).
Auch so simple Begriffe wie „Freunde“ oder „Kameraden“ werden plötzlich zu riesigen Hürden, denn auch hier gibt es keine allgemein anerkannte geschlechtslose Variante. Ich formuliere deshalb meistens „außen drumrum“ oder behelfe mir mit Ausdrücken wie „die unseren“. Die Geschwisterbeziehung der drei Diamanten fällt in meiner Version ebenso fast ein bisschen unter den Tisch, denn auch für Begriffe wie „Bruder“ und „Schwester“ fehlen geschlechtsneutrale Varianten (mit Ausnahme von „Geschwisterchen“, wofür die Figuren aber zu alt aussehen).
Auch Farben können eine Herausforderung darstellen. Die Familie der Diamanten besteht aus Gelber Diamant, Diamant und Bort. Gelber Diamant heißt im japanischen Original Yellow Diamond, wird aber meistens „Yellow“ gerufen. „Gelber“ scheidet als Übersetzung wegen der fehlenden Geschlechtsneutralität aus, „Gelb“ klingt aber nicht nach einem Spitznamen. Letztlich haben wir uns daher für den Spitznamen „Canary“ entschieden, abgeleitet von der Bezeichnung „Canary-Diamant“ für besonders farbintensive gelbe Diamanten.
Ein letzter Punkt sind die Wörter „man“, „jemand“ und „niemand“, die teilweise als männlich konnotierte Begriffe angesehen werden. In Das Land der Juwelen versuche ich daher, sie wo möglich zu vermeiden und direktere Formulierungen mit „du“ oder „wir“ zu verwenden. „Jemand“ ersetze ich meist durch „wer“, was für den Comic durch die Kürze zusätzlich von Vorteil ist, und aus „niemand“ wird meistens „nirgendwer“ – auch wenn der Begriff (noch) nicht im Duden steht. Auch hier muss ich aber vorsichtig sein, Formulierungen wie „Nirgendwer, der so etwas schon einmal erlebt hat“ verbieten sich aufgrund der fehlenden Geschlechtsneutralität wieder.
Dies ist nur ein kurzer Einblick in die Übersetzung dieses wunderbaren Comics. Aber wie kommt meine Übersetzung beim Publikum an? Vor der ersten Ankündigung der Verwendung von „xier“ war ich etwas nervös, auch wenn ich mir sicher war, dass Fans, die bereitwillig japanische Begriffe wie sensei (Lehrer bzw. Respektsperson) lernen und sogar deren wörtliche Übernahme in die deutschen Übersetzungen fordern, mit neuen Pronomen keine großen Probleme haben sollten. Als Hilfestellung findet sich am Ende (fast) jedes Bandes zusätzlich eine Seite mit einer Deklinationstabelle.
Letztlich sollte ich Recht behalten. Die Rückmeldungen im Internet waren und sind zu 90% positiv und auch die meisten Rezensionen berichten, sie hätten mit „xier“ nach dem ersten Eingewöhnen kein Problem gehabt (auch wenn das Pronomen dann leider nicht immer für die Beschreibung des Inhalts verwendet wird). Das Land der Juwelen hat sich in Deutschland inzwischen eine Fangemeinde erarbeitet und so bleibt mir eigentlich nur zu hoffen, dass ich bald auch die Anime-Serie übersetzen darf – natürlich weiter mit „xier“.
Haruko Ichikawa/Verena Maser: Das Land der Juwelen. (Im japanischen Original: 宝石の国.)
Manga Cult 2018ff. ⋅ Bisher 6 Bände à 192 Seiten ⋅ 10 Euro