Mit Poet X hat Elizabeth Acevedo das Genre des Coming-of-Age-Romans neu erfunden, zumindest formal. In Form von Gedichten erzählt sie die Geschichte der 16-jährigen Xiomara, die mit Hilfe des Schreibens ihr Erwachsenwerden reflektiert. Für sie ist das Schreiben eine Art Zufluchtsort, in dem sie ihre Persönlichkeit frei entfalten und ihren Emotionen freien Lauf lassen kann. Warum schreibst du?
Ich denke, dass jeder Mensch in seinem Leben eine Art Ventil braucht, um sich ausdrücken zu können. Sei es die Musik oder der Sport oder eben das Schreiben. Ich habe es schon immer gemocht, Geschichten zu erzählen, Theater zu spielen, kreativ zu sein, und wurde irgendwann an das Schreiben herangeführt. Es ist etwas, durch das ich gelernt habe, mich selbst ausdrücken zu können, und das mir viel Kraft gibt. Ein Zufluchtsort, ein bisschen Heimat in mir. Das ist schön und wichtig!
Das Performen der eigenen Texte ist für Xiomara ein ebenso wichtiger Teil ihrer Identitätssuche und ihr erster Auftritt vor Publikum Höhepunkt des Buches. Als Poetry-Slammerin trägst du genau wie die Hauptfigur eigene Texte vor. Erinnerst du dich noch an deinen ersten Auftritt bei einem Poetry-Slam?
Ja, das war 2013 in Kassel. Nachdem die schriftlichen Abiturklausuren durch waren, habe ich in der Schule an einem Poetry-Slam-Workshop, außerhalb der Schulzeiten, teilgenommen. Und das nicht mal freiwillig. Es war eher eine „Strafe“ oder pädagogische Maßnahme, da ich beim Schwänzen erwischt wurde. Dennoch hatte ich unfassbar Spaß und irgendwas in mir hat zu brennen begonnen.
Über den Workshop hatte ich mich für die hessischen U20-Poetry-Slam-Meisterschaften qualifiziert. Das war sehr aufregend, weil ich bis dato das Format nicht kannte. Vor Ort, bei dem Auftritt, war es natürlich absurd, damit vor Menschen zu treten und zu realisieren, was gerade Schönes um mich geschieht. Spannend war ebenfalls, dass ich den „Wettstreit“ gar nicht als Wettstreit wahrnahm, sondern mich einfach freute, meine Gedanken auf einer Bühne teilen zu können und Gehör zu finden. Natürlich bin ich in der Vorrunde rausgeflogen. Aber geschadet hat das nicht, ganz im Gegenteil. Es war gut so, wie es war.
Welche Rolle spielte das Vortragen von Texten für dich und inwiefern unterscheidet es sich vom Dichten und Übersetzen?
Das Vortragen von Texten hat etwas sehr Schönes und Befreiendes. Man hat die Möglichkeit, Menschen kurz auf eine Reise einzuladen. Jedoch ist es viel schnelllebiger. Dem gesprochenen Wort wird mehr verziehen als dem geschriebenen. Es kann sich im Raum entfalten, weicht allerdings mit der Zeit wieder. Dadurch eröffnen sich einerseits spielerische Freiräume, andererseits kann sich verständlicherweise wohl kaum ein Mensch nach einem Poetry-Slam an alle Texte im Einzelnen erinnern. Das kann von Vor‑, aber auch von Nachteil sein. Was bleibt, ist eher ein Gefühl oder Gespür für den Text.
Bei dem geschriebenen Wort ist die Beständigkeit eine ganz andere Frage, die Vor- und Nachteile mit sich bringt. Es eröffnet langfristigere Möglichkeiten und steht losgelöster von der Person, die den Text verfasst hat. Er ist nicht mehr so leicht veränderbar und steht für sich. Allerdings hat auch das etwas Befreiendes. Der Rahmen ist nur ein anderer. Jedoch finde ich, dass sich diese Möglichkeiten gegenseitig nicht ausschließen sollten, sondern durchaus auch ergänzen können.
Wenn ich selber auf eine Bühne gehe oder Texte schriftlich veröffentliche, sehe ich das jedes Mal als eine Möglichkeit, jemandem ein Geschenk überreichen zu können, auch wenn der Rahmen immer anders ist. Wie und ob das Geschenk jedoch angenommen und geöffnet wird, ist jedem dabei selbst überlassen.
Und wie kam es dazu, dass du das Buch übersetzt hast?
Der Rowohlt-Verlag kam tatsächlich auf mich zu. Ich war selbst überrascht. So wie ich es verstanden hatte, haben sie explizit nach einer Slam-Poetin gesucht. Dementsprechend haben sie Recherche betrieben und nach weiteren Schnittstellen geschaut, die ihren Vorstellungen entsprechen. Umso mehr habe ich mich natürlich sowohl gefreut als auch geehrt gefühlt, dass sie dabei im Internet auf mich gestoßen sind!
Elizabeth Acevedo ist selbst auch als Poetry-Slammerin bekannt und hat eine Figur geschaffen, die dieselbe Leidenschaft entwickelt. Das Besondere am Poetry-Slammen ist ja die Mimik und Gestik der Vortragenden und das Zusammenspiel mit dem Publikum. Können solche Poetry-Slam-Texte also überhaupt auf dem Papier funktionieren?
Lange Zeit dachte ich: Nee, das funktioniert nicht. Weswegen ich mich auch vorerst weigerte, ein eigenes Buch meiner Gedichte zu veröffentlichen. Doch dann hat sich meine Meinung dazu gewandelt, sonst wäre es auch komisch, ein Buch von einer Slammerin zu übersetzen. Das eine schließt das andere letztendlich nicht aus und kann sich bestenfalls positiv ergänzen.
Gab es einen konkreten Auslöser für diesen Meinungswandel?
Nein, es war mehr ein schleichender Prozess. Als letztes Jahr ein Verlag konkret auf mich zukam, habe ich mich das erste Mal aktiv mit der Frage beschäftigt und gespürt, dass ich die Vorstellung mag. Gerade den neuen Rahmen, den so eine Veröffentlichung mit sich bringt. Das war eine positive neue und schöne Herausforderung.
Hattest du beim Übersetzen den Aspekt der Performance im Kopf?
Ein guter Text, ein gutes Gedicht, ein gutes Buch sollte meiner Meinung nach für sich stehen können. Performance ist ein weiteres ergänzendes Element, das einen Einfluss hat. Vor allem der Aspekt, wer einen Text wie und in welchem Kontext veröffentlicht. Das kann und sollte man nicht ausblenden, sondern bedenken. Und das habe ich getan.
Xiomara ist eine unheimlich charismatische Figur, sehr schlagfertig und voller Lebensdrang. Gleichzeitig ist sie auch unsicher und frustriert, oft auch wütend. Der Text lebt von ihrer Stimme. Wie würdest du diese beschreiben? Und wie findet man so eine Stimme im Deutschen?
Ihre Worte sind klar, direkt, deutlich und messerscharf und zugleich so voller Wärme. Ein diffuses Licht, das sich bricht und mal weichere, mal härtere Schlagschatten hinterlässt. Ich mag das sehr! Daran habe ich mich orientiert und versucht, im Deutschen die Worte dafür zu finden, die das am besten spiegeln und wiedergeben, auch wenn mir natürlich bewusst ist, dass ihre Stimme und Art einmalig ist und bleibt.
Warst du als Dichterin versucht, dem Buch deine eigene Stimme überzustülpen?
Natürlich geschieht beim Lesen und Übersetzen des Buches was mit mir selbst. Meine Persönlichkeit steckt in dem Text irgendwo schon auch mit drin. Allerdings habe ich versucht, so gut wie möglich Grenzen zu setzen. Wenn ich das Gefühl hatte, dass ich etwas gern anders gemacht hätte als die Autorin, habe ich eine Pause eingelegt und die Gedanken und Ideen, die mir bei der Arbeit an dem Text kamen, für mich selbst ausgeführt. Ich hatte dabei nicht das Ziel, irgendetwas davon zu veröffentlichen. Ich habe das wirklich nur für mich gemacht und bin dann später wieder zum Text zurückgekehrt.
Aber versuchst du deine verschiedenen Rollen als Texterin, Slammerin, Übersetzerin bewusst voneinander abzugrenzen?
Ja und wiederum nein. Ich glaube, alles davon bedingt sich wechselseitig und steht in einem dynamischen Prozess. Vorerfahrungen und Skills sind gut und wichtig, um sie auf anderen Ebenen einfließen lassen zu können, sie dafür zu transformieren. Das ist ein ständiger Prozess der Fehlbarkeit, des Reflektierens und Lernens. Dennoch muss man Prioritäten setzen. In der Zeit, wo ich das Buch übersetzt habe, hatte ich zum Beispiel weniger Auftritte und eigene kreative Schreibphasen. Kurz: Es war gut, all meine Skills einfließen zu lassen, diese aber auch klar voneinander abzugrenzen zu können.
Gab es sprachliche Elemente im englischen Original, auf die du im Deutschen verzichtet hast?
Wenn, dann habe ich sie teils verändert beziehungsweise adaptiert, da die englische Sprache natürlich mit anderen Bildern spielt, als es die deutsche tut. Hier stand für mich ebenfalls im Vordergrund, dass es nicht primär darum geht, was sie sagt, sondern wie sie es sagt und wie ich es im Deutschen dafür am geeignetsten transformiere. Würde man Texte eins zu eins übersetzen, wäre das grausam. Sage ich im Deutschen beispielsweise „Das ist unter aller Sau“, kann ich das nicht mit „That’s under all pig“ übersetzen.
An manchen Stellen zerfließen die Gedichte förmlich, zum Beispiel als Xiomaras tief religiöse Mutter ihre Texte findet, die von Jungs und ihrer aufblühenden Sexualität erzählen. Sätze zerfallen und Wörter werden überall auf den Seiten verstreut. Wie geht man damit als Übersetzerin um?
Genauso. Es geht nicht nur darum, was sie sagen will, sondern vielmehr auch darum, wie sie es sagen will. Das ist unabhängig davon, ob man die Mimik und Gestik auf einer Bühne oder die Form eines Textes verwendet. Ich habe mir dafür zuerst überlegt, was sie sagen will, und dann geschaut, wie ich es am besten transformieren kann, damit genau das auch in dieser Form zum Ausdruck kommt. Ziel war es dabei der Form gerecht zu werden, ohne den Inhalt zu verfremden, was ich als sehr spannende Herausforderung gesehen habe. Klar hat man inhaltliche Vorgaben, aber gleichzeitig eben auch viel Raum für Spielereien.
Xiomara stellt gegen Ende des Buches ihre „privaten Regeln des Poetry-Slams“ auf, eine Anspielung auf die relativ strikten Regeln, die bei den meisten Poetry-Slams gelten. Setzt du dir selbst auch Regeln beim Dichten oder Performen?
- Sei da
- Sei offen
- Hab Spaß
- „The points are not the point. The point is poetry“
Leticia Wahl (1993*) aus Kassel ist Autorin, Moderatorin, Musikerin und Reisepoetin, hauptsächlich im Kontext der Slam Poetry. 2017 absolvierte sie ihr Studium in Erziehungs- und Bildungswissenschaften und Psychologie an der Philipps Universität in Marburg. Sie leitet Workshops, organisiert und moderiert Veranstaltungen, macht manchmal gerne Theater und lässt sich auch sonst ganz schöne Dinge einfallen. Letztes Jahr erschien ihr erstes Buch Was dazwischen bleibt.
Elizabeth Acevedo/Leticia Wahl: Poet X.
rororo rotfuchs 2019 ⋅ 368 Seiten ⋅ 15 Euro