Viele Grüße, deine Giraffe steht auf dem Cover, darunter ein kleiner Pinguin, der erwartungsvoll einen Brief liest. Das weckt auch beim Leser Erwartungen: Was mag diese beiden Tiere aus Savanne und Antarktis verbinden, und wer pflegt bitte heutzutage noch die aussterbende Tradition des Briefeschreibens? Gleich zwei interessante Ideen für ein Kinderbuch. Nach dem Folgeband Viele Grüße vom Kap der Wale ist mit Viele Grüße von der Seehundinsel soeben der dritte Band der Reihe im Frankfurter Moritz Verlag erschienen.
Viele Grüße, deine Giraffe (jap. 2001/dt. 2017) ist für Leseanfänger gedacht und in Japan Schullektüre. Giraffe schreibt eines Tages vor lauter Langeweile in der öden Savanne einen Brief, adressiert an Unbekannt. Der Postbote Pelikan übergibt ihn seiner Kollegin, Postbotin Robbe, und die wiederum trägt den Brief an Pinguin am Kap der Wale aus. So beginnt die Geschichte einer wunderbaren (Brief-)Freundschaft zwischen Giraffe und Pinguin, die in schön schlichter Sprache erzählt wird.
Im Folgeband Viele Grüße vom Kap der Wale (jap. 2003/dt. 2018) lädt Pinguins Lehrer, Professor Wal, seine Freunde – natürlich per Brief – zu den Olympischen Spielen am Kap der Wale ein (Disziplinen: Wettschwimmen der Robben, Wettrennen der Pinguine und Fontäne-Blasen der Wale). Nach einem etwas schleppenden Anfang nimmt die Erzählung bald Fahrt auf, und die ungewöhnliche Olympiade wird mit Herz und Humor lebendig geschildert.
Im dritten Band Viele Grüße von der Seehundinsel (jap. 2005/dt. 2019) macht sich die ängstliche junge Robbie, die bei Postbotin Robbe in die Lehre geht, für einen Spezialauftrag ganz allein auf den Weg über das weite Meer. Dabei gerät sie allerdings in den „Superstrudel Gurgelgurgel Nr. 1“ und wird an unbekannten Ufern ausgespuckt. Und auch bei ihrer Rettung spielen Briefe wieder eine wichtige Rolle.
Wirklich originell ist die Idee von der Brieffreundschaft zwischen völlig verschiedenen Tieren natürlich nur im ersten Band, aber lesen lassen sich alle drei Bücher wunderbar. Jedes steht unter einem anderen Motto: Bei der Giraffe geht es um eine ungleiche Freundschaft, beim Kap der Wale um Fairplay und den olympischen Gedanken, dass Dabeisein alles ist, bei der Seehundinsel um die Überwindung der Furcht vor dem Fremden.
Viele Grüße, deine Giraffe wurde mit dem Leipziger Lesekompass 2017 und dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2018 ausgezeichnet. Das ist sicher dem stimmigen Zusammenspiel von Wort und Bild zu verdanken. So ist es zum Beispiel eine gelungene Idee, die Briefe handschriftlich einzufügen: Giraffe krakelt in bemühten Großbuchstaben, Pinguin zeigt seine ordentlichste Schülerschönschrift auf liniertem Papier, und der Walprofessor verfasst seine Briefe in so präzisen wie schwungvollen Buchstaben. Und auch sonst unterstreichen und ergänzen Jörg Mühles Illustrationen den Text von Megumi Iwasa/Ursula Gräfe auf witzige und sympathische Weise. Es hat sich gelohnt, dass der Verlag für die deutsche Ausgabe nicht einfach die Originalillustrationen übernommen hat. Diese sind ebenfalls reizvoll, aber sehr reduziert und mit schnellem Strich gezeichnet, ein Stil, der für deutschsprachige Kinderbücher ungewohnt und ungewöhnlich wäre. Um die Chancen auf dem deutschen Buchmarkt zu erhöhen, ersetzte sie der Verlag mit Mühles Bildern, die sicherlich bei Kindern ebenso gut ankommen wie bei Erwachsenen. Dass nicht nur der Text, sondern auch die Bilder „übersetzt“ werden, ist bei Kinderbüchern kein Einzelfall und zeigt, wie stark sich Lese- und Sehgewohnheiten von Land zu Land (und von Kultur zu Kultur) unterscheiden können.
In der Jurybegründung zur Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreis heißt es:
Gute Erstlesebücher zu finden, ist schwer. Die Notwendigkeit, sprachliche Komplexität zu reduzieren, führt oft zu einer geringen Literarizität. Viele Grüße, Deine Giraffe bildet hier eine Ausnahme. Megumi Iwasa gelingt ein sprachlich einfacher Text, der literarisch gestaltet ist. Diese Wirkung ist auch der Übersetzung von Ursula Gräfe zu verdanken.
Trotz dieser Leistung finden sich leider weder im Buch selbst noch auf der Internetseite des Verlags – anders als zu Autorin und Illustrator – Informationen zu Gräfe. Dabei ist sie als Übersetzerin des japanischen Bestsellerautors Haruki Murakami und des Nobelpreisträgers Kenzaburō Ōe wahrlich keine Unbekannte. Ihren Übersetzungsprozess beschreibt Gräfe in einem Interview folgendermaßen:
Ein Übersetzer kann sich niemals in dem Maß der Inspiration überlassen wie ein Autor. Meine Aufgabe ist es, einen schon erdachten Text und seinen Tonfall in meine Muttersprache zu bringen. Aber diese Umwandlung findet bei mir, glaube ich, vorwiegend intuitiv statt. Konkret: Die Rohübersetzung mache ich spontan und wie der Wind. So komme ich in Fluss. Für den Feinschliff – Korrektheit plus klingende und schöne Sprache – brauche ich dann ewig.
Getreu ihrer Methode gelingt es Gräfe auch hier, in „klingender und schöner Sprache“ zu schreiben. Ganz am Anfang wirken die Sätze vielleicht noch etwas abgehackt:
Giraffe lebte in der südafrikanischen Savanne.
Leider war ihr furchtbar langweilig.
Auch an diesem Tag war der Himmel wieder strahlend blau.Nur in der Ferne schwebten wie hingetupft ein paar Wölkchen.
Doch gerade daran, wie hier jeder Satz für sich steht, spürt man, wie Giraffe allein und gelangweilt in der immergleichen Umgebung herumsitzt und ihr vereinzelte Gedankenfetzen durch den Kopf ziehen. Und schon am letzten Satz erkennt man die Literarizität, die das Buch so lesenswert macht, ohne die jungen Leserinnen und Leser zu überfordern. Erzählt wird in einfachen, kurzen Sätzen und kindgerechter Sprache, abwechslungsreiche Lexik und idiomatische Wendungen sorgen für Lesespaß. Und bald gerät auch die Handlung und damit die Sprache „in Fluss“. So entsteht Situationskomik, wenn die Tiere bluffen, um sich vor den anderen keine Blöße zu geben – wie etwa der Walprofessor auf Pinguins Frage, was und wo denn bitteschön ein Hals sei:
„Herr Professor, wo ist denn Ihr Hals?“
„Eine sehr gute Frage, Pinguin. Das ist deine nächste Aufgabe. Die wollte ich dir schon länger stellen.“
In Wirklichkeit hatte der Professor keine Ahnung, wo sein Hals war.
(…) Pinguin betrachtete nachdenklich sein Spiegelbild im Wasser.
„Wo ist eigentlich mein Hals, Herr Professor?“, fragte er.
Natürlich hatte der Professor keine Ahnung.
„Das ist deine Hausaufgabe“, verkündete er. „Der Unterricht ist für heute beendet.“
Alter Lehrertrick: Sicheres Auftreten bei völliger Ahnungslosigkeit, und knifflige Fragen, auf die man selbst keine Antwort weiß, einfach als Hausarbeit aufgeben. Das scheint in Japan genauso gut zu funktionieren wie in Deutschland. Der Übersetzung gelingt es hier und an anderen Stellen, einen humorvollen Ton anzuschlagen, der auch Erwachsene zum Schmunzeln bringt.
In der flüssigen Erzählung fallen einem erbsenzählerischen Leser höchstens eine Handvoll Stellen auf, bei denen man kurz stutzt: Kann man sich „halb kaputt lachen“, wie Giraffe und Pelikan es tun? Laut Duden nicht – aber das kann man natürlich auch als fantasievollen Umgang mit Sprache auffassen. Wenn es an einer Stelle heißt: „… fragte jemand … sagte ein anderer … sagte jemand drittes“, klingt letzteres ein bisschen nach Übersetzersprache, idiomatischer wäre sicherlich „sagte ein dritter“. Und im Kap der Wale „murmelte der Walprofessor schüchtern“, dass der Postbote Pelikan ihn bitte nicht immer mit „Professor“ ansprechen solle, wo er doch längst im Ruhestand sei. Er wolle lieber „Freund Wal“ oder „Waldemar“ genannt werden. Schüchternheit ist nun wirklich kein Charakterzug, den man Professor Wal zuschreiben könnte. Dafür ist er als akademische Autorität viel zu selbstbewusst. Er kann höchstens vorübergehend „verlegen“ sein, weil ihm seine Bitte peinlich ist.
Doch wenn solche Winzigkeiten alles sind, was einem auffällt, spricht das nur für die Stilsicherheit der Übersetzerin. Und dazugelernt habe ich dank ihr auch etwas, nämlich dass der Olympia-Wahlspruch „Citius, altius, fortius“, der im Deutschen meist als „Schneller, höher, weiter“ bekannt ist, korrekterweise „Schneller, höher, stärker“ lauten müsste. Man könnte sagen, eine eingebürgerte Fehlübersetzung, die Ursula Gräfe geraderückt.
Anders als in den ersten beiden Büchern sind im dritten Ausdrücke wie „boah“, „cool“, „geht’s noch?“ oder „Das kannst du nicht bringen“ eingestreut. Nötig gewesen wäre diese Aufpeppung nicht, aber vielleicht passt sich auch die japanische Vorlage hier stärker an die Jugendsprache an.
Gräfe setzt idiomatische Wendungen nicht nur treffend ein, sondern spielt auch mit ihnen. Als sich die Giraffe als Pinguin verkleiden will, mustert Pelikan sie nicht, wie es üblich und erwartbar wäre, „von Kopf bis Fuß“, sondern „vom Kopf bis zu den Füßen und von den Füßen bis zum Kopf“. Ob diese Abwandlung nun vom Original inspiriert ist oder nicht, sie ist hier jedenfalls sehr passend und nötig, denn es geht ja gerade darum, dass die Giraffe vier Füße/Beine (und damit zwei mehr als ein Pinguin) hat. Auch das Wortspiel: „Und der Walprofessor bekam nie wieder eine so sagenhafte Fontäne zustande. Bei ihm war einfach die Luft raus“ funktioniert im Deutschen gut.
Die Namen der Wale (Kubo, Jira, Kusuke, Kujiro usw.) enthalten im Original jeweils ein Segment oder eine Silbe des japanischen Worts für Wal (kujira). Gräfe gelingt es, dieses Wortspiel zu retten, indem sie die Walnamen allesamt auf Wal- beginnen lässt. Der Walprofessor, der im Original den (altertümlich klingenden) Vornamen Kujiemon trägt, wird im Deutschen zu Waldemar, seine Freunde heißen Waldo, Waltraut oder Walter, und mit dem Wal namens Walid leistet die Übersetzung überdies einen kleinen Beitrag zur Integration.
Da es im Japanischen kein grammatisches Genus gibt, ist die Geschlechtszuordnung der Tiere nicht von vornherein festgelegt. Aber es gibt klare Anhaltspunkte, die Aufschluss über das Geschlecht einer Figur geben, sei es durch eine (im Japanischen deutlich als) „männlich“ oder „weiblich“ markierte Sprechweise, sei es durch bestimmte, traditionell eher männlich bzw. weiblich konnotierte Charakereigenschaften. So wird die Postbotin Robbe wie eine große Schwester dargestellt, die andere selbstlos unterstützt (und beim Wettschwimmen zugunsten der schwächeren Robbie auf den eigenen Sieg verzichtet). Pelikan ist eindeutig ein Junge, denn er wird mit Pelikan-kun angesprochen (einer Anredeform für Jungen oder junge Männer); ebenso wie Pinguin, der Briefe von seinem „girlfriend“ (gyarufurendo) erhält. Bei diesen dreien stimmt das Geschlecht mit dem deutschen Genus überein. Etwas schwieriger wird es bei Giraffe, die im Original aufgrund ihrer Sprechweise eindeutig männlich ist, die man aber im Deutschen aufgrund des Artikels auch für weiblich halten könnte. Die Übersetzung mildert das Problem erfolgreich ab, indem sie die Tiernamen ohne Artikel, also wie Eigennamen, wiedergibt. So erscheint Giraffe in der deutschen Übersetzung als geschlechtsneutral.
Die afrikanische Savanne, Giraffen, Pinguine und der Südpol gehören für japanische Kinder ebenso wenig zur normalen Lebenswelt wie für deutsche. Da der Abstand der Ausgangs- und Zielleser zum Erzählgegenstand etwa gleich groß ist, muss hier also kein unterschiedliches Vorwissen kompensiert werden. Auffällig für deutsche Leser ist allerdings die Höflichkeitshierarchie unter den Tieren: In einem westlichen Kinderbuch würden sich wohl alle Tiere unterschiedslos mit „du“ anreden – in der Welt von Pinguin und Giraffe ist das komplizierter: Giraffe, Pelikan und Pinguin duzen sich untereinander, während Postbotin Robbe ihre Kunden meist siezt und mit „Herr Pinguin“ oder „Herr Waldo“ anredet. Der Walprofessor (kujira-sensei) wird von den anderen Tieren gesiezt und mit „Herr Professor“ oder „Herr Lehrer“ angesprochen, während er alle anderen duzt. Da schimmert sicher der allgemeine Respekt durch, den Lehrpersonen in der asiatischen Kultur genießen.
Nicht zuletzt zeigt Viele Grüße, deine Giraffe, wie interkulturelle Missverständnisse entstehen und überwunden werden können. Denn Pinguin und Giraffe sprechen eine Sprache und doch auch wieder nicht. Als Giraffe schreibt, sie sei berühmt für ihren langen Hals, muss der verwirrte Pinguin erst einmal herausfinden, was ein Hals eigentlich ist. Die Definition seines Walprofessors („der schmale Teil, der mit dem Kopf verbunden ist“) hilft ihm nur bedingt weiter, da sie sich weder auf den Wal noch auf Pinguin selbst anwenden lässt. Umgekehrt macht sich auch Giraffe ein völlig falsches Bild von ihrem neuen Freund: Basierend auf seiner Selbstbeschreibung (entweder kein Hals oder nur aus Hals bestehend, Schnabel, kurze Flügel und Beine, schwarzweiß) entwirft sie mit den Elementen ihrer eigenen Umwelt ein kurioses Fabeltier. In ihrer Vorstellung hat Pinguin einen Schlangenkörper mit zwei Füßen, einen Pelikanschnabel und Zebrastreifen. Sprache, die aus ihrem Koordinatensystem gerissen wird und in unserem Kopf nicht die „richtigen“ Assoziationen hervorruft, führt zu misslungener Kommunikation. Das Missverständnis, das aus dieser Sprachverwirrung resultiert, stellt die beginnende Freundschaft sogar kurz in Frage. Doch die unbehagliche Kennenlernsituation lässt sich zum Glück schnell durch Freundlichkeit, Toleranz und Neugier aufeinander lösen.
Iwasas Bücher sind ein Plädoyer für Muße und Langeweile, aus denen die besten Ideen entstehen können, und zudem ein unterhaltsamer Einblick in das Gelingen von interkultureller Kommunikation trotz anfänglicher Hindernisse. Gräfes klare Sprache und Mühles humorvolle Illustrationen ergänzen sich wunderbar und machen die Bücher sowohl für Erst- als auch für Vorleser zum Vergnügen.
Megumi Iwasa/Ursula Gräfe/Jörg Mühle:
Viele Grüße, deine Giraffe (im japanischen Original: Boku wa Africa ni Sumu Kirin to Iimasu)
Moritz Verlag 2017 ⋅ 112 Seiten ⋅ 11 Euro
www.moritzverlag.de/Alle-Buecher/Erstlesebuecher/Viele-Gruesse-Deine-Giraffe.html
Viele Grüße vom Kap der Wale (im japanischen Original: Watashi wa Kujira-Misaki ni Sumu Kujira to Iimasu)
Moritz Verlag 2018 ⋅ 112 Seiten ⋅ 11 Euro
www.moritzverlag.de/Alle-Buecher/Viele-Gruesse-vom-Kap-der-Wale.html
Viele Grüße von der Seehundinsel (im japanischen Original: Ottoto no Sei-chan, genki desu ka?)
Moritz Verlag 2019 ⋅ 112 Seiten ⋅ 11 Euro
www.moritzverlag.de/Alle-Buecher/Viele-Gruesse-von-der-Seehundinsel.html