Maria Kjos Fonn, 1990 in Oslo geboren, legte 2018 mit Kinderwhore nach einer Erzählsammlung (2014) ihren Debütroman vor. Die Kritik lobte das Buch einhellig, in der Zeitung Aftenposten brachte Ingunn Økland es sogar als Schullektüre ins Spiel, und es wurde für den Publikumspreis des Radiosenders NRK P2 nominiert (der dann allerdings an Kim Leine ging). Die Ich-Erzählerin Charlotte wächst bei ihrer alleinerziehenden, depressiven Mutter auf, die ständig neue Beziehungen zu Männern eingeht. Manche von denen sind nett, etwa Yassine, der dem Mädchen ein paar unbekümmerte Momente schenkt, aber Jonas bleibt nur an der Seite der Mutter, weil er es auf deren Tochter abgesehen hat. Er erschleicht sich ihr Vertrauen, um es dann zu missbrauchen. Dieses Erlebnis traumatisiert Charlotte zutiefst. Erst macht sie es noch wie ihre Mutter: Sie betäubt sich mit Tabletten und Drogen, versucht, ihren Körper irgendwie zu vergessen und versteckt sich hinter einer dicken Schicht Sarkasmus. Nach einem Suizidversuch landet sie in der Klinik, und von dort beginnt der Aufstieg aus ihrer persönlichen Hölle – mit dem einen oder anderen Rückfall. Als sie Kristine kennenlernt, die zu ihrer Freundin und Geliebten wird, findet sie schließlich einen Weg, mit ihrer Kindheit abzuschließen.
Kjos Fonn ist ihrer Erzählerin sehr nah, manchmal sogar so sehr, dass es schmerzt. Aber sie vertritt eine positive Sprachphilosophie: Ähnlich einer Gesprächstherapie in der Behandlung eines Traumas soll die Erzählerin durch die literarisierte Äußerung ihres eigenen Leids eine Chance erhalten, damit fertig zu werden. So ist Kinderwhore vor allem ein Versuch, die passenden Worte zu finden – die auch in diesem Fall höchst individuell sein müssen. Wie konstituiert sich das Subjekt neu, wenn es von einem anderen zum Objekt degradiert worden ist? Es gibt unterschiedliche Niveaus: die Psychiatrie, die ihm Diagnosen wie Stempel aufdrückt, die Mitmenschen und die Behörden, die die zaghaften Hilferufe nicht deuten können, und vor allem das Subjekt selbst, das sich einen Schutzwall zurechtzimmert. Charlotte flüchtet sich zunächst in mehrere distinkte Identitäten: etwa die „Puppe“, die dem von Courtney Love vertretenen „Kinderwhore“-Modestil nachempfunden ist, oder die „Maschine“, die alles über sich ergehen lässt.
Wer dieses Buch liest, erfährt vor allem viel darüber, wie Charlotte sich selbst sieht, aus den beigegebenen Arztberichten lässt sich aber auch ableiten, welchen Blick ihre Umwelt auf sie wirft. Diese Passagen gehören zu den ungemütlichsten des ganzen Romans, weil sie das Verbrechen an ihr zu wiederholen scheinen, sie stufen die Erzählerin nämlich erneut vom Subjekt zum Objekt herab. Nach und nach kann Charlotte jedoch ihre Schutzmechanismen abbauen. Ihre Sprache ändert sich: Sie hält andere Menschen nicht mehr sarkastisch auf Distanz, sondern lernt, sich ihnen zuzuwenden.
Es ist zu vermuten, dass Kjos Fonns Roman höchste Anforderungen an die Übersetzung stellt. Gabriele Haefs, 1953 geboren, scheint in Anbetracht ihrer langen Erfahrung für diese Aufgabe prädestiniert. Seit Mitte der Achtzigerjahre hat sie hunderte Bücher übersetzt, darunter allseits bekannte Autoren wie Håkan Nesser und Jostein Gaarder – alleine für die kommende Buchmesse waren es, Kollaborationen und Anthologie-Herausgaben miteingerechnet, 34 Titel. Es ist also möglich, dass Haefs ihrer Pflicht gerecht wird. Und siehe da: Auf den ersten Blick lässt sich Kinderwhore flüssig lesen, es scheint routiniert und effizient ins Deutsche gebracht, bedrückend und schmerzhaft ist es allemal.
Aber wer auch nur den ersten Teil des Romans neben den norwegischen Text legt, muss stutzen. Und wer den Abgleich für das komplette Buch macht, stößt sogar auf eklatante Versäumnisse, die in ihrer Summe die Rezeption deutlich erschweren. In Kinderwhore geht es ja gerade darum, wie eine traumatisierte Person eine Sprache entwickeln kann, die es ihr erlaubt, das Erlebte zu verarbeiten. Ambivalenzen und Nuancen sind an der Tagesordnung, doch Haefs scheitert oft daran, diese auch dem deutschsprachigen Publikum zu vermitteln. Es folgt eine Beschreibung vieler Tücken, die diese Übersetzung zu bieten hat: Wie ist die Figurensprache in der deutschen Fassung gestaltet? Was ist mit den Anglizismen, dem Jargon, den Feinheiten? Und wo knirscht es ganz besonders arg?
Oft wird diskutiert, wie sinnvoll die Ich-Perspektive ist. Hier ist sie es. Denn das Publikum ist Charlotte ganz nah: bei ihren Zusammenbrüchen, ihren Hoffnungen, Enttäuschungen, ihrem Lernprozess. Ihr Blick auf die Welt und ihre Mitmenschen ist von einem beißenden Sarkasmus gekennzeichnet:
Jeg kommer til å savne deg, sa jeg til Kent. Du putter kos i psykosen.Du wirst mir fehlen, sagte ich zu Kent. Du machst die Psychose gemütlich.
Dieses Zitat stammt aus dem Gespräch mit einem Mitpatienten, in dem Charlotte über eine mögliche, bis ins Greisenalter andauernde Zukunft in der Klinik frotzelt. Das Wortspiel an dieser Stelle ist offenbar. Im norwegischen „psykose“ steckt das „kos“ (etwa: Behaglichkeit) schon drin. Doch Haefs übersetzt nur die bloße Bedeutung und verzichtet somit darauf, auch im Deutschen nach einem passenden Witz zu suchen. Es ist aber durchaus nicht unmöglich, eine Lösung für dieses Problem zu finden: „Du bringst Sinn in den Wahnsinn“, „Mit dir ist die Psychose-Chose echt noch auszuhalten“ (der erste Vorschlag ist vielleicht etwas prägnanter und weniger geschwätzig als der zweite). Einer anderen Mitpatientin verpasst Charlotte den Namen „Kronisk Kjip“ (Haefs: „Chronisch Gemein“). Das Wort „kjip“ kommt vom englischen „cheap“, bedeutet aber so viel wie „unangenehm, ekelhaft, unsympathisch“. Denkbar wäre es gewesen, auch in der Übersetzung einen Anglizismus zu wählen: „Chronisch Creepy“ hätte Charlottes Abschätzigkeit gut transportieren können, „Gemein“ ist zu zaghaft.
Wenn die Ich-Erzählerin spricht, dann artikuliert sie immer ein bestimmtes Verhältnis zu ihrer Umwelt. Sie hält die Dinge auf Abstand, damit sie sie nicht verletzen können. Sie registriert und beobachtet, was um sie herum vorgeht, und kommentiert es gelegentlich. Wie äußert sich Charlotte bei Haefs? Jedenfalls nicht wie eine Jugendliche, die zwischen 2009 und 2018 denkt und atmet. „Fahimas Mutter buk Naanbrot“, heißt es etwa an einer Stelle, „ich schlug mein Zimmer zu Klump“ (Norwegisch: „jeg raserte hybelen“). Welche Zwölfjährige benutzt noch die altertümelnde Vergangenheitsform von „backen“? Welche Zwanzigjährige schlägt ihre Wohnung nicht kurz und klein, sondern „zu Klump“? Haefs beweist wenig Taktgefühl, was die Sprache von Jugendlichen anbelangt; Charlottes Freundin Kristine bezeichnet sich an einer Stelle etwa als „skeiv“, was sowohl „queer“ als auch „homosexuell“ bedeutet – im Norwegischen benutzt man beide Begriffe annähernd synonym. Haefs übersetzt jedoch altertümelnd mit „Alle wussten, dass ich vom anderen Ufer war“. „Lesbisch“ hätte die Bedeutung hier wahrscheinlich noch am ehesten getroffen.
Doch nicht nur mit der Jugendsprache gibt es Probleme, auch in den stilistischen Registern knirscht es. Kjos Fonn fächert eine große Bandbreite an sprachlichen Möglichkeiten auf: z. B. Psychiatrie-Sprech, Anglizismen, Slang aus dem Drogenmilieu. Alle Fachbegriffe sind dezent und behutsam in den Text eingewoben.
Diagnosen und Arztjournale haben zunächst einmal den negativen Nebeneffekt, dass sie das Leid der Patientin depersonalisieren. Das ist auch in Kinderwhore der Fall, allerdings mit völliger Absicht. Kjos Fonn schiebt Berichte ein, die in ihrer Nüchternheit im krassen Gegensatz zu Charlottes subjektivem Erleben ihrer Depression und Persönlichkeitsstörung stehen.
Venner
Jenta har ikke knyttet noen vennskap med noen på fritiden. […]
X
schließt in ihrer Freizeit keine Freundschaften. […]
Bei Haefs verschwindet die für den Namen der Erzählerin stellvertretend gewählte Bezeichnung „Jenta“ („das Mädchen“) und wird wiederholt durch ein noch unpersönlicheres „X“ ersetzt. Das ist insofern problematisch, als dass die Übersetzung dadurch indirekt zur Auslöschung Charlottes durch die Sprache beiträgt. Doch der Roman ist ja gerade ein Versuch, einem Subjekt seine Artikulationsfähigkeit zurückzugeben. Zwar macht „jenta“ die Erzählerin als Individuum auch schon etwas undeutlicher, aber Haefs‘ „X“ ist noch viel stärker – der Buchstabe könnte für alles stehen, also rein theoretisch auch für einen Mann; aber bei Kjos Fonn geht es doch vor allem um die patriarchale Gewalt, die Mädchen und Frauen von Männern aus ihrem direkten Umfeld angetan wird.
Charlotte ist sensibel: Sie merkt, dass über sie gesprochen wird statt mit ihr. Wie bei dieser Begegnung mit dem Jugendamt:
Barn med adferdsforstyrrelse. Alvorlige psykososiale vansker. Maladaptivt reaksjonsmønster. ADHD. De hadde ord for alt.Kinder mit Verhaltensstörungen. Schwerwiegende psychosoziale Probleme. Schlecht angepasste Reaktionsmuster. ADHS. Sie hatten für alles Wörter.
Auffällig sind die vielen medizinischen Fachausdrücke, die Haefs zum Teil auch so übersetzt. Allerdings ist rätselhaft, weshalb sie „Maladaptativt reaksjonsmønster“ als „Schlecht angepasste Reaktionsmuster“ liest. „Maladaptativ“ ist eine Vokabel, die in der Psychiatrie durchaus verwendet wird. Bei einer schnellen Internetsuche fällt auf, dass sie in einschlägigen Fachtexten auftaucht.
Nachdem sie diese schematischen Formulierungen einmal durchschaut hat, kann Charlotte ihre schädliche Wirkungsweise offenlegen, indem sie in ihren eigenen Worten eine Epikrise erstellt:
Diagnose: F60.3: Jævla sint. F32.2 Inni helvetes ensom.
Pasient er naken uten hud og hun lengter noe så inni helvete at det ikke er til å holde ut ALENE uten eier uten bånd uten retning som et papirfly.
Diagnose: F0.3: Verdammt wütend. F32.2: Verflucht einsam.
Pat. ist nackt ohne Haut und sehnt sich so verdammt, dass es nicht auszuhalten ist ALLEIN ohne Besitzer ohne Leine ohne Richtung wie ein Papierflieger.
Abgesehen davon, dass sich in die Wiedergabe der ICD-10-Diagnose ein gravierender Fehler eingeschlichen hat – es heißt F60.3 (Emotional instabile Persönlichkeitsstörung), nicht F0.3 (Nicht näher bezeichnete Demenz) – vermag Haefs‘ Übersetzung Charlottes Aneignung und Zertrümmerung der psychiatrischen Fachsprache nicht ausreichend zu vermitteln. Die Flüche „jævla“ und „(noe så) inni helvete“ kommen in einem üblichen Befund ganz bestimmt nicht vor, hier beschreiben sie jedoch völlig angemessen den Zorn, den die Erzählerin auf ihre Umwelt und die sie einengenden Institutionen empfindet. Der zweite Ausdruck ist noch einmal stärker als der erste, und da erscheint es befremdlich, weshalb Haefs den einen mit „verdammt“ und den anderen mit dessen Synonym „verflucht“ wiedergibt. Passender wäre es gewesen, die Steigerung auch in der Übersetzung nachzuvollziehen:
„Diagnose F60.3: Verdammt wütend. F32.2: Irrsinnig wütend. Pat. ist nackt ohne Haut und fühlt so eine verdammte irrsinnige Sehnsucht dass es ALLEINE ohne Halter ohne Band nicht auszuhalten ist wie ein Papierflugzeug ohne Richtung […]“.
In diesem Alternativvorschlag liegt die Syntax näher am Deutschen, außerdem ist ein Komma verschwunden, das Haefs irrtümlich eingefügt hatte.
Die Anglizismen sind ebenfalls ein Thema für sich. Sollen sie eigentlich übersetzt werden oder eher nicht? Im Fall von Kinderwhore wäre Letzteres anzuraten, denn Begriffe aus dem Englischen sind auch hier ein wichtiger Bestandteil der Jugendsprache. Ein Beispiel hierfür sind Szenen, in denen Charlotte und ihre Freundin Make-up auftragen – „jeg la concealer over huden“, „Du må ta foundation på halsen også“; hin und wieder wird erwähnt, dass sich damit nicht nur körperliche, sondern auch psychische Mängel kaschieren lassen. (Natürlich funktioniert das auf Dauer nicht.) – Es mag kleinlich erscheinen, aber mir ist unbegreiflich, weshalb Haefs die betreffenden Stellen folgendermaßen übersetzt: „ich trug Abdeckcreme auf“, „Du musst auch auf den Hals Grundierung legen“. „Concealer“ und „Foundation“ sind zwei auch im Deutschen völlig geläufige Begriffe, die hier vor allem im jugendsprachlichen Kontext anwendbar wären. Den „Shot“ lässt Haefs nicht so stehen, sondern übersetzt ihn als „Kurzen“; vielleicht nutzen ältere Menschen diesen Begriff noch, jüngere auf keinen Fall. Der „Hangover“ wird zum „Kater“, das „henge med deg“ („mit dir abhängen“) zum schnöden „mit dir zusammen sein wollen“. Wo ein „verkackt“ vielleicht besser zu Kjos Fonns rotzigem „fucka opp“ gepasst hätte, heißt es bei Haefs nur „versaut“.
Anglizismen und Slangausdrücke sind auch im Drogenjargon gang und gäbe. Kjos Fonn gewährt hier nur ein paar vereinzelte, aber durchaus pointierte Einblicke. Wenn es etwa heißt: „det var ikke makkaen vi hadde snorta“ , dann übersetzt Haefs zwar ganz richtig „und das war nicht vom Amphetamin, das wir geschnupft hatten“ – aber über die szenetypische Redeweise geht sie hinweg. Das Wort „makka“ stammt aus dem Schwedischen und bedeutet eigentlich „Brotscheibe“, wird aber auch als Slang-Begriff für „Amphetamin“ verwendet; „snorte“ kommt aus dem Englischen und heißt so viel wie „schnupfen“. Eine kurze Recherche offenbart eine Möglichkeit, diese Passage zu übersetzen: Das Amphetamin wird im Milieu auch gerne als „A“ bezeichnet, der Fachausdruck für den Konsum durch die Nase lautet „ballern“: „das lag nicht am A, das wir geballert hatten“. Bestimmt gibt es aber auch noch andere oder sogar bessere Lösungen. Vorschläge wären zum Beispiel: AMP, bambinos, black-birds, Co-Pilot, eye-openers, hallo-wach, nuggets (das Internet bietet eine Vielzahl an Drogen-Fachsprech-Lexika).
Besonders in Dialogen, die sich dem Unaussprechlichen nähern, beweist Kjos Fonn ein Gespür, das Haefs‘ Übersetzung nahezu vollständig abgeht. In einer sehr eindringlichen Szene besucht die Mutter ihre Tochter in der Psychiatrie. Sie unterhalten sich über das Motiv ihres Suizidversuchs. Beide kennen es, aber insbesondere die Mutter will nicht einsehen, dass ihr Freund Charlotte vergewaltigt hat.
Kan vi snakke om det, sa jeg.
Hva da?
Dét, sa jeg. Dette. Grunnen til at jeg er her.
At du prøvde å –? sa mamma.
Det som fikk meg til å prøve, sa jeg.
Können wir darüber reden, fragte ich. Worüber denn?
Es, sagte ich. Das. Der Grund, warum ich hier bin.
Dass du versucht hast …?, fragte Mama.
Das, was mich zu dem Versuch gebracht hat, sagte ich.
Das betonte Pronomen „dét“ lässt sich schwerlich genau wiedergeben, sicher ist nur, dass Haefs „es“ zu schwach ist. Eher heißt es: „Genau das“. Was „das“ ist, wissen sowohl die Mutter als auch die Erzählerin, aber sie sprechen es nicht aus, behandeln es wie den sprichwörtlichen rosa Elefanten im Raum. Ebenso ersetzt Haefs aus unerfindlichen Gründen das Pausenzeichen „–“ durch drei Punkte (das tut sie im Verlauf ihrer Übersetzung übrigens sehr oft).
Jonas, der Mann, der Charlottes Vertrauen schamlos missbraucht, inszeniert sich als Retter und Beschützer, wobei er das Gegenteil beabsichtigt. Zunächst mag Charlotte ihn noch, er fasziniert sie. Kjos Fonn schreibt: „Så tenkte jeg på Jonas, og plutselig gjorde hendene mine ensomme ting med kroppen min.“ Bei Haefs lautet dieser Satz folgendermaßen: „Dann dachte ich an Jonas, und plötzlich machten meine Hände eigenwillige Dinge mit meinem Körper.“ Weshalb Haefs das Adjektiv „ensom“ an dieser Stelle, die in ihrer Unerträglichkeit das größte Einfühlungsvermögen von einer Übersetzung verlangt, als „eigenwillig“ und nicht als „einsam“ liest, muss ihr Geheimnis bleiben, ihre Lösung ist im günstigsten Fall als ulkig zu bezeichnen.
Woanders schreibt Kjos Fonn: „Men filmene forsto meg, de sa det man ikke kunne si, alle hemmelighetene lyste mot meg fra en dataskjerm.“ Haefs: „Aber die Filme verstanden mich, sie sagten etwas, das man nicht sagen konnte, mein Geheimnis leuchtete mir vom Computerbildschirm entgegen.“ Es ist gar keine Rede von einem Geheimnis, das der Erzählerin gehört, sondern hier geht es um alle Geheimnisse, die mit der Sexualität verknüpft sind und aus Charlottes Sicht nun durch die Pornographie entzaubert werden. Haefs verdreht den Sinn komplett und macht aus einem Allgemeinen etwas Individuelles. Der Clou der betreffenden Szene ist ja gerade der, dass die Erzählerin das, was sie im Internet sieht, nicht auf sich selbst bezieht. Die Videos sagen, was man nicht sagen darf – das heißt, sie geben der Sexualität eine Sprache –, und so bieten sie ihr eine Möglichkeit, über ihr Trauma nachzudenken, allerdings, ohne sich tiefergehend mit ihren Erlebnissen und Gefühlen beschäftigen zu müssen; es ist so, als sei ihre Verletzung einer anderen Person passiert. Dies nennt man Dissoziation. Aus der deutschen Übersetzung ist diese Feinheit nicht herauszulesen.
Ebenso bietet diese Übersetzung eine ganze Galerie an ärgerlichen sprachlichen Fehlern und Ungenauigkeiten auf. Es fängt schon auf der ersten Seite an, wo Haefs „melis“ nicht mit „Puderzucker“, sondern mit „Krümeln“ wiedergibt. Wenig später schreibt Kjos Fonn:
Blokkene og menneskene ble slørete, og konturene av alt fløt ut som vannfarger, hadde jeg vært svakere, ville jeg bruke det som en unnskyldning for å begynne å gråte.
Die Häuser, die Wohnblocks und die Menschen verschwammen, und alle Umrisse zerliefen zu Wasserfarben, wenn ich schwächer gewesen wäre, hätte ich eine Entschuldigung dafür gehabt loszuweinen.
Bei Haefs fehlt das Wort „det“. Ihre Übersetzung wird dadurch ungenau. Eigentlich heißt es: Die Wohnblocks (von „Häusern“ steht im Original nichts) und die Menschen verschwimmen, alle Konturen verlaufen, und wäre ich schwächer gewesen, hätte ich dies („det“, also den Umstand, dass ich undeutlich sah) als Entschuldigung zum Losheulen benutzt. Das umgangssprachliche „polet“, der Begriff für das norwegenübliche Wein- und Spirituosengeschäft, wird gar zum „Alkoholladen“.
Aus uneinsichtigen Gründen ersetzt Haefs Gedankenstriche mit drei Auslassungspunkten, sie tauscht die Anführungszeichen ‚‘ durch „“ aus (obwohl es im Text beide gibt und sie daher auch im Deutschen unterschieden werden müssten), kursive Markierungen übersieht sie oft, um dann an anderen Stellen welche einzufügen, wo im Original keine sind, sie macht aus einem Satz zwei, um dann woanders die norwegische Syntax so qualvoll zu befolgen, dass es nicht zu ertragen ist für jene, die die Sprache kennen.
Oft hängt auch die Grammatik schief, etwa hier:
Vi tenker å flytte deg over til en åpen avdeling om et par ukers tid, sa legen. Så du får stabilisert deg.Wir werden dich wohl in zwei Wochen auf die offene Station verlegen, sagte der Arzt. Wenn du dich stabilisiert hast.
Haefs‘ Version des zweiten Satzes ist schlicht falsch, denn wörtlich heißt es: „Damit du dich stabilisiert bekommst“, also „Damit du stabiler wirst“. Blamabel sind auch jene Formulierungen, die auch im Deutschen seltsam klingen. „Jeg var sliten under rusen“ wird verstümmelt zu „Unter dem Rausch war ich vollkommen erschöpft“. Es ist richtig, dass „under“ auch „unter“ heißt, hier ist es allerdings mit „während“ zu übersetzen.
Im Gespräch mit dem Jugendamt sagt Charlotte: „jeg eier ingenting, jeg eier ikke meg“. Haefs schreibt: „ich habe nichts, ich habe mich nicht“. Zwar folgt diese Formulierung dem Text, aber sie ist allzu ungelenk und wörtlich. Es wäre allerdings möglich, sie zu umgehen, etwa so: „Ich besitze nichts, nicht einmal mich selbst“.
Ganz besonders peinlich sind die Passagen, die im deutschen Text fehlen. Es sind drei an der Zahl. Einmal fragt sich Charlotte, ob die Zeitungen über ihren möglichen Selbstmord berichten würden, und sie stellt sich eine Schlagzeile vor: „Femten år gammel jente tok livet sitt. Moren: Jeg skjønner ikke hvorfor.“. Den zweiten Teil („Die Mutter: Ich verstehe nicht, weshalb.“) hat Haefs vergessen. An anderer Stelle fehlt unter dem Wort „Einweisung“ die Übersetzung von „Ingen psykose“ („Keine Psychose“). Bei Haefs steht da:
„Die, die nicht so viele künstliche Wimpern verwenden, dass ihre Augen zu schwer sind, um sie offen zu halten. Die, die ihren Körper als etwas betrachten, um das ein Mann sich verdient machen muss, oder schlimmer noch, als ob er gar keine Prämie wäre, sondern etwas, das ihnen selbst gehörte.“
Bei Kjos Fonn gibt es zwischen diesen beiden Sätzen noch einen weiteren, der im deutschen Text nicht auftaucht: „De som har naturlige roser i kinnene.“ (etwa: „Die, deren Wangen einen natürlichen rosigen Farbton haben.“)
Alle diese Fehler, deren Registrierung ebenso zermürbend ist wie ihre Auflistung, tragen zu dem Eindruck bei, dass diese Übersetzung von Kinderwhore dem Text, der in seiner Originalversion viel feiner gearbeitet ist, nur wenig gerecht wird. Über die Gründe für dieses Scheitern lässt sich indes bloß spekulieren. Da Haefs im Rahmen der Buchmesse 34 Titel ins Deutsche gebracht hat oder zumindest daran beteiligt war, ist jedoch anzunehmen, dass Zeitdruck eine gewisse Rolle gespielt haben könnte.
Dass sie in Anbetracht der hohen Arbeitsverdichtung einen – auf den ersten Blick – lesbaren Text schreiben konnte, ist ihr erst einmal hoch anzurechnen. Dennoch stellt sich die Frage, wo die Grenzen eines effizienten Übersetzens liegen, eines Übersetzens also, das auf viele Feinheiten verzichtet und bloß die Bedeutung einer Textstelle wiedergibt. Bei Büchern, die sprachlich weniger herausfordernd sind als Kinderwhore, dürfte eine solche Taktik noch aufgehen. Bei einem Roman jedoch, dessen Stil so wesentlich ist für einen Einblick in die Gedankenwelt der Erzählerin, muss diese Arbeitsweise jedoch nicht unbedingt zum Ziel führen. Im vorliegenden Fall lässt eine effiziente Übersetzung zahlreiche Nuancen unerwähnt – und das, obwohl sie sich in vielen Fällen ins Deutsche hinüberretten lassen.
Was ließe sich tun, um derartige Ärgerlichkeiten in Zukunft zu vermeiden? Es ist ein Spagat: zwischen den Anforderungen einer Verlagsbranche, die einen Bestseller schnell auf den Markt werfen will, zwischen den prekären Bedingungen einer freiberuflich ausgeübten Tätigkeit und zwischen den eigenen Anforderungen an einen deutschen Text. Ohne Kompromisse wird es nicht gehen. Sicher ist jedoch eines: Übersetzen meint, der Vorlage, aber auch der Autorin und ihrem Publikum eine Verantwortung entgegenzubringen. Dies ist im vorliegenden Fall nicht vollständig, aber in entscheidenden Teilen gescheitert.
Maria Kjos Fonn/Gabriele Haefs: Kinderwhore. (Im norwegischen Original: Kinderwhore)
Culture Books 2019 ⋅ 256 Seiten ⋅ 20 Euro
www.culturbooks.de/portfolio/maria-kjos-fonn-kinderwhore-roman/