Sebas­ti­an Gug­golz preist Eva Ruth Wemme

Ion Luca Caragiales Kurzprosa galt lange als unübersetzbar – bis Eva Ruth Wemme sie einfach doch übersetzte. Ihr Verleger Sebastian Guggolz erklärt, was Wemmes Übersetzung so einzigartig macht. Von

Wemme liest Wemme. Foto: Privat.

„Und jetzt, lie­ber Hum­bug, geh und suche dir einen Platz in die­ser Welt. Dein Platz ist hier, dei­ne Zeit ist heu­te“, schreibt Ion Luca Cara­gia­le in einem kur­zen Text namens „Der rumä­ni­sche Hum­bug“. Genau­er natür­lich: über­setzt Eva Ruth Wem­me den Satz im von ihr „Hum­bug und Varia­tio­nen“ beti­tel­ten Band mit Tex­ten Cara­gia­les. „Sei­ne Spra­che“, schreibt nun wirk­lich nur Eva Ruth Wem­me über Cara­gia­le im Nach­wort, „schafft einen Raum, in dem jeder sich selbst, sei­ne Gegen­wart, die gesell­schaft­li­che Gegen­wart erfah­ren kann. Das ist ja eben ‚Thea­ter‘ im bes­ten Fal­le.“ Die­sen Raum für die Gegen­wart schafft auch ihre gar nicht genug zu rüh­men­de Übersetzung.

Wenn es um Kri­te­ri­en für eine gute und gelun­ge­ne Über­set­zung eines älte­ren Werks geht, fin­den sich unter­schied­li­che Mei­nun­gen. Die eine legt, in der Tra­di­ti­on der Wir­kungs­äqui­va­lenz, beson­ders viel Wert dar­auf, dass die Über­set­zung den mög­lichst glei­chen Ein­druck beim Leser hin­ter­lässt wie das Ori­gi­nal. Was das Ori­gi­nal mit einem macht, soll auch die Über­set­zung mit einem machen; was im Ori­gi­nal berührt, scho­ckiert, amü­siert, irri­tiert oder zum Nach­den­ken ani­miert, soll all das in ver­gleich­ba­rer Inten­si­tät auch in der Übersetzung.

Dem ande­ren ist dage­gen die sprach­li­che und lin­gu­is­ti­sche Nähe zum Ori­gi­nal wich­ti­ger. Der Effekt des Erzähl­ten wie des Sprach­li­chen tritt in die­sem Fall hin­ter die Mit­tel der sprach­li­chen Anver­wand­lung und der direk­ten Nach­for­mung des Originals.

Es sind die zwei Schleiermacher’schen Urme­tho­den des Über­set­zens: Ent­we­der die Schriftsteller*innen, also das Ori­gi­nal, zu den heu­ti­gen Leser*innen hin zu bewe­gen (im Sti­le einer inter­pre­tie­ren­den Adap­ti­on), oder in umge­kehr­ter Rich­tung die heu­ti­gen Leser*innen zum Ori­gi­nal zu brin­gen (in der Art der his­to­ri­schen Aufführungspraxis).

Argu­men­te gibt es für und gegen bei­de Vari­an­ten, und wel­cher auch immer man sich ver­schreibt, es müs­sen im Bereich der ande­ren Kom­pro­mis­se ein­ge­gan­gen wer­den, die mit Kom­pen­sa­tio­nen, Aus­las­sun­gen, Ver­schie­bun­gen ein­her­ge­hen. Über­haupt wird die Geschich­te der Über­set­zun­gen oft und ger­ne über die Ver­lus­te oder sogar die Unmög­lich­keit des Über­set­zens erzählt.

Auch von Ion Luca Cara­gia­le, dem gro­ßen, ja – der Super­la­tiv ist ange­mes­sen – größ­ten rumä­ni­schen Spöt­ter und Por­trä­tis­ten der Gesell­schaft um die Wen­de ins 20. Jahr­hun­derts, hieß es lan­ge Zeit, er sei unüber­setz­bar. Sei­ne Glos­sen, Sze­nen, Feuil­le­tons und anek­do­ti­schen Kurz­er­zäh­lun­gen sind auch in ihren Sprach­schich­ten der ver­schie­de­nen Milieus, aber auch der ver­schie­de­nen regio­na­len Sprach­ein­flüs­se, so tief im Witz und im Gemisch der rumä­ni­schen Gesell­schaft ver­an­kert, dass für Rumän*innen klar war: Die­ser Gigant kann nicht über­setzt werden.

Nach­dem Eva Ruth Wem­me, uner­schreck­bar und vol­ler Lust an der Sprach­spie­le­rei (und mit glück­li­cher­wei­se eben­so gro­ßem Talent dafür), 2018 mit „Hum­bug und Varia­tio­nen“ eine von ihr selbst zusam­men­ge­stell­te Aus­wahl an Cara­gia­le-Tex­ten auf 400 Sei­ten in mei­nem Ver­lag vor­ge­legt hat, zeig­te sich nicht nur, dass die Behaup­tung der Unüber­setz­bar­keit bloß bedeu­tet, dass die bes­ten Übersetzer*innen zu beson­de­rer Höchst­leis­tung ange­spornt wer­den, son­dern es zeig­te sich eben­falls, was in einem beson­ders geglück­ten Fall Neu­es in der Über­set­zung ent­ste­hen kann. Eva Ruth Wem­mes teil­wei­se Erst‑, teil­wei­se Neu­über­set­zung hat Cara­gia­le in unse­re Zeit gebracht. Über hun­dert Jah­re hin­weg – aber nicht nur im Sin­ne die­ses Trans­fers über die Jahr­zehn­te und die Tur­bu­len­zen des 20. Jahr­hun­derts hin­weg, son­dern auch in dem Sin­ne, dass die Tex­te neue Wur­zeln in der Gegen­wart geschla­gen haben, dass sie frucht­bar und regel­recht „akti­viert“ wur­den: dass sie durch die neue, heu­ti­ge Über­set­zung etwas hin­zu­ge­won­nen haben.

Eine Wort­schöp­fung soll das ver­an­schau­li­chen. Der „Hum­bür­ger“. Den Hum­bür­ger gab es noch nicht, Eva Ruth Wem­me hat ihn erfun­den und Cara­gia­le in den Mund gelegt. Und da die­ser Begriff nun in der Welt ist, ist es kaum noch vor­stell­bar, dass es den Hum­bür­ger ein­mal nicht gege­ben haben soll. So über­zeu­gend ist er, so Cara­gia­le-esk, so „alter­na­tiv­los“, dass er eine Wort­lü­cke zu schlie­ßen scheint. Das Bril­lan­te an die­ser kof­fer­wort­ar­ti­gen Erfin­dung ist, dass sie Cara­gia­les „Mof­t­an­giul“ (und in sei­ner weib­li­chen Form „Mof­t­an­gio­ai­ca“), in dem ein Anklang an sei­ne 1893 gegrün­de­te sati­ri­sche Zeit­schrift „Mof­tul roman“ („Rumä­ni­scher Hum­bug“) steckt, nicht nur erstaun­lich adäquat ins Deut­sche bringt, son­dern dass sie sich heu­te, in den spä­ten 2010er Jah­ren, mit einem ande­ren Begriff ver­bin­det, der gegen­wär­tig Höchst­kon­junk­tur hat. Und zwar mit dem „Wut­bür­ger“.

Es gibt eine vor­he­ri­ge deut­sche Über­set­zung des Spott­tex­tes mit dem Titel „Hum­bür­ger“. 1953 ist sie in dem Sam­mel­band „Pro­sa“ in der Buka­res­ter Ver­lags­an­stalt „Das Buch“ erschie­nen. Es lässt sich nicht rekon­stru­ie­ren, von wem sie stammt, weil der Name des Über­set­zers oder der Über­set­ze­rin nir­gend­wo ver­zeich­net ist. In die­ser ers­ten deut­schen Über­set­zung war der Hum­bür­ger noch ein „Hur­ra­pa­tri­ot“. Auch das, zuge­ge­ben, eine ziem­lich geist­rei­che Über­set­zung von „Mof­t­an­giul“. Jedoch eine, in der jeder Anklang an den „Mof­tul roman“, Cara­gia­les „rumä­ni­schen Hum­bug“, ver­schwun­den ist, eine, die einen doch eher bekann­ten, kon­kret greif­ba­ren und deut­lich poli­tisch gefärb­ten bür­ger­li­chen Typus her­auf­be­schwört. Anders als bei Eva Ruth Wem­mes „Hum­bür­ger“. In die­sem schwingt das Ver­dreh­te, das Absur­de, das Irr­sin­ni­ge des Caragiale’schen Ori­gi­nal­be­griffs mit. Er stammt, wesent­lich mehr als der „Hur­ra­pa­tri­ot“, aus dem Bereich der Sati­re und der Sprachspielerei.

Und zudem schwingt eben auch der heu­ti­ge Wut­bür­ger mit. Der auf­brau­sen­de „Sie dür­fen mich nicht filmen“-Schrebergartenmann mit dem Deutsch­land­hüt­chen, die schrill krei­schen­den Dresd­ner Pegidist*innen, die Inter­net­fo­ren voll­schrei­ben­den Political-Correctness-Hasser*innen, die unab­läs­sig und hem­mungs­los her­um­kra­kee­len, ihnen wür­de das Wort ver­bo­ten – jene, über die man schmun­zeln könn­te, wäre ihre Rede nicht durch­setzt mit ernst­ge­mein­ter Aus­gren­zung, Men­schen­feind­lich­keit, Ver­ach­tung und Verächtlichmachung.

Dass in Eva Ruth Wem­mes Hum­bür­ger so vie­les zusam­men­läuft, in den fana­ti­schen Rrru­mä­nen und den fana­ti­sche Rrru­mä­nin­nen (ganz wich­tig: bei Cara­gia­le mit drei R!) an der Schwel­le zum 20. Jahr­hun­dert, ist ein Geschenk, das nur in unse­rer heu­ti­gen Zeit auf­ge­hen konn­te. Noch vor zehn Jah­ren wären die Asso­zia­ti­ons- und Bedeu­tungs­ebe­nen des Wut­bür­gers nicht vor­han­den gewe­sen. In gewis­ser Wei­se hat das Auf­kom­men des Wut­bür­gers den Begriff des Hum­bür­gers über­haupt erst denk­bar gemacht.

Nun kann man sagen: Cara­gia­les Tex­te pass­ten in unse­re Zeit. Man kann sagen: Cara­gia­les Tex­te hät­ten heu­te eine neue Aktua­li­tät gewon­nen. Ich den­ke, man kann aber auch sagen: Eva Ruth Wem­me ist eine gran­dio­se Neu­über­set­zung, eine höchst gegen­wär­ti­ge Über­set­zung eines über hun­dert Jah­re alten Tex­tes gelun­gen. Es zeigt sich dar­in, war­um es immer wie­der loh­nend sein kann, sich den Alten zu wid­men. Alte Tex­te wie­der­zu­le­sen, sich alte Über­set­zun­gen zur Neu­über­set­zung vor­zu­neh­men. Weil sich in der Arbeit an der Spra­che plötz­lich Aspek­te her­aus­schä­len kön­nen, die wir vor­her zu sehen gar nicht in der Lage waren. Weil Zei­ten und Dis­kur­se auf­ein­an­der­pral­len und Fun­ken schla­gen kön­nen, die die­sen alten Rumä­nen Cara­gia­le zu einem Visio­när für die heu­ti­ge Zeit wer­den las­sen. Eva Ruth Wem­mes durch­drin­gen­der und hell­wa­cher Blick für die Spra­che Cara­gia­les wie für die Spra­che der Gegen­wart ver­mählt die­se bei­den mit­ein­an­der, lässt ihre Wör­ter und ihre Zeit­um­stän­de für­ein­an­der durch­läs­sig werden.

Die Neu­über­set­zung ist eben nicht nur dazu geeig­net, die Ver­gan­gen­heit erhal­tend und ret­tend zu über­lie­fern. Dadurch, dass es eine gerich­te­te Über­set­zung ist, eine Über­set­zung in eine bestimm­te Zeit, macht sie mit einer gewis­sen Aus­hol­be­we­gung die Gegen­wart auf eine ganz eige­ne Wei­se sicht- und vor allem lesbar.

Eine her­aus­ra­gen­de Über­set­zung ist immer auch ange­wie­sen auf ein schon her­aus­ra­gen­des Ori­gi­nal, damit sich ihre gan­ze Qua­li­tät zei­gen kann. Eva Ruth Wem­mes Cara­gia­le-Über­set­zung wür­de ich auf eine ein­sa­me Insel mit­neh­men, weil sie so tief und reich ist und man sich immer wie­der neu an ihren unzäh­li­gen gelen­ki­gen Ver­ren­kun­gen, gedrech­sel­ten Win­dun­gen und über­schäu­men­den For­mu­lie­run­gen erfreu­en kann. Sel­ten habe ich über­setz­te Tex­te mit so vie­len sprach­li­chen Pur­zel­bäu­men und Rich­tungs­wech­seln gele­sen, bei denen ich als Leser trotz­dem nie ver­lo­ren gehe, son­dern im Gegen­teil wei­ter geführt wer­de, als ich ohne die Über­set­zung je gekom­men wäre. Die Über­set­zung lädt zum Mit- und Wei­ter­den­ken ein, zwingt gera­de­zu dazu. Wer Eva Ruth Wem­me ein­mal per­sön­lich ken­nen­ge­lernt hat, wird fest­stel­len, dass im ver­blüf­fen­den Humor und Erfin­dungs­reich­tum ihrer Über­set­zung fast eben­so viel Eva Ruth Wem­me steckt wie Ion Luca Cara­gia­le. Bei den Abgrün­den und Höhen­flü­gen, zu denen die Über­set­zung ansetzt, sind immer zwei Beglei­ter an der Sei­te des Lesers: Cara­gia­le und Eva Ruth Wem­me. Es lebe Cara­gia­les Mof­tul, es lebe Wem­mes Hum­bug, es lebe die Ver­ei­ni­gung der beiden.

 

Sebas­ti­an Gug­golz, gebo­ren 1982 am Boden­see, stu­dier­te Kunst­ge­schich­te, Ger­ma­nis­tik und Volks­kun­de in Ham­burg. Nach eini­gen Jah­ren als Lek­tor bei Matthes & Seitz Ber­lin grün­de­te er 2014 den Gug­golz Ver­lag, in dem er Neu- und Wie­der­ent­de­ckun­gen ver­ges­se­ner Klas­si­ker aus Nord- und Ost­eu­ro­pa in neu­er Über­set­zung her­aus­gibt. 2016 wur­de er mit der Über­set­zer­bar­ke aus­ge­zeich­net, 2017 erhielt er den Kurt Wolff För­der­preis. Im Jahr 2019 ist er einer der Preis­trä­ger des Deut­schen Verlagspreises.

 

 

Ion Luca Caragiale/Eva Ruth Wem­me: Hum­bug und Varia­tio­nen. (Im rumä­ni­schen Ori­gi­nal: Momen­te şi schiţe.)

Gug­golz Ver­lag 2018 ⋅ 431 Sei­ten ⋅ 24 Euro

www.guggolz-verlag.de/humbug-und-variationen

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