„Und jetzt, lieber Humbug, geh und suche dir einen Platz in dieser Welt. Dein Platz ist hier, deine Zeit ist heute“, schreibt Ion Luca Caragiale in einem kurzen Text namens „Der rumänische Humbug“. Genauer natürlich: übersetzt Eva Ruth Wemme den Satz im von ihr „Humbug und Variationen“ betitelten Band mit Texten Caragiales. „Seine Sprache“, schreibt nun wirklich nur Eva Ruth Wemme über Caragiale im Nachwort, „schafft einen Raum, in dem jeder sich selbst, seine Gegenwart, die gesellschaftliche Gegenwart erfahren kann. Das ist ja eben ‚Theater‘ im besten Falle.“ Diesen Raum für die Gegenwart schafft auch ihre gar nicht genug zu rühmende Übersetzung.
Wenn es um Kriterien für eine gute und gelungene Übersetzung eines älteren Werks geht, finden sich unterschiedliche Meinungen. Die eine legt, in der Tradition der Wirkungsäquivalenz, besonders viel Wert darauf, dass die Übersetzung den möglichst gleichen Eindruck beim Leser hinterlässt wie das Original. Was das Original mit einem macht, soll auch die Übersetzung mit einem machen; was im Original berührt, schockiert, amüsiert, irritiert oder zum Nachdenken animiert, soll all das in vergleichbarer Intensität auch in der Übersetzung.
Dem anderen ist dagegen die sprachliche und linguistische Nähe zum Original wichtiger. Der Effekt des Erzählten wie des Sprachlichen tritt in diesem Fall hinter die Mittel der sprachlichen Anverwandlung und der direkten Nachformung des Originals.
Es sind die zwei Schleiermacher’schen Urmethoden des Übersetzens: Entweder die Schriftsteller*innen, also das Original, zu den heutigen Leser*innen hin zu bewegen (im Stile einer interpretierenden Adaption), oder in umgekehrter Richtung die heutigen Leser*innen zum Original zu bringen (in der Art der historischen Aufführungspraxis).
Argumente gibt es für und gegen beide Varianten, und welcher auch immer man sich verschreibt, es müssen im Bereich der anderen Kompromisse eingegangen werden, die mit Kompensationen, Auslassungen, Verschiebungen einhergehen. Überhaupt wird die Geschichte der Übersetzungen oft und gerne über die Verluste oder sogar die Unmöglichkeit des Übersetzens erzählt.
Auch von Ion Luca Caragiale, dem großen, ja – der Superlativ ist angemessen – größten rumänischen Spötter und Porträtisten der Gesellschaft um die Wende ins 20. Jahrhunderts, hieß es lange Zeit, er sei unübersetzbar. Seine Glossen, Szenen, Feuilletons und anekdotischen Kurzerzählungen sind auch in ihren Sprachschichten der verschiedenen Milieus, aber auch der verschiedenen regionalen Spracheinflüsse, so tief im Witz und im Gemisch der rumänischen Gesellschaft verankert, dass für Rumän*innen klar war: Dieser Gigant kann nicht übersetzt werden.
Nachdem Eva Ruth Wemme, unerschreckbar und voller Lust an der Sprachspielerei (und mit glücklicherweise ebenso großem Talent dafür), 2018 mit „Humbug und Variationen“ eine von ihr selbst zusammengestellte Auswahl an Caragiale-Texten auf 400 Seiten in meinem Verlag vorgelegt hat, zeigte sich nicht nur, dass die Behauptung der Unübersetzbarkeit bloß bedeutet, dass die besten Übersetzer*innen zu besonderer Höchstleistung angespornt werden, sondern es zeigte sich ebenfalls, was in einem besonders geglückten Fall Neues in der Übersetzung entstehen kann. Eva Ruth Wemmes teilweise Erst‑, teilweise Neuübersetzung hat Caragiale in unsere Zeit gebracht. Über hundert Jahre hinweg – aber nicht nur im Sinne dieses Transfers über die Jahrzehnte und die Turbulenzen des 20. Jahrhunderts hinweg, sondern auch in dem Sinne, dass die Texte neue Wurzeln in der Gegenwart geschlagen haben, dass sie fruchtbar und regelrecht „aktiviert“ wurden: dass sie durch die neue, heutige Übersetzung etwas hinzugewonnen haben.
Eine Wortschöpfung soll das veranschaulichen. Der „Humbürger“. Den Humbürger gab es noch nicht, Eva Ruth Wemme hat ihn erfunden und Caragiale in den Mund gelegt. Und da dieser Begriff nun in der Welt ist, ist es kaum noch vorstellbar, dass es den Humbürger einmal nicht gegeben haben soll. So überzeugend ist er, so Caragiale-esk, so „alternativlos“, dass er eine Wortlücke zu schließen scheint. Das Brillante an dieser kofferwortartigen Erfindung ist, dass sie Caragiales „Moftangiul“ (und in seiner weiblichen Form „Moftangioaica“), in dem ein Anklang an seine 1893 gegründete satirische Zeitschrift „Moftul roman“ („Rumänischer Humbug“) steckt, nicht nur erstaunlich adäquat ins Deutsche bringt, sondern dass sie sich heute, in den späten 2010er Jahren, mit einem anderen Begriff verbindet, der gegenwärtig Höchstkonjunktur hat. Und zwar mit dem „Wutbürger“.
Es gibt eine vorherige deutsche Übersetzung des Spotttextes mit dem Titel „Humbürger“. 1953 ist sie in dem Sammelband „Prosa“ in der Bukarester Verlagsanstalt „Das Buch“ erschienen. Es lässt sich nicht rekonstruieren, von wem sie stammt, weil der Name des Übersetzers oder der Übersetzerin nirgendwo verzeichnet ist. In dieser ersten deutschen Übersetzung war der Humbürger noch ein „Hurrapatriot“. Auch das, zugegeben, eine ziemlich geistreiche Übersetzung von „Moftangiul“. Jedoch eine, in der jeder Anklang an den „Moftul roman“, Caragiales „rumänischen Humbug“, verschwunden ist, eine, die einen doch eher bekannten, konkret greifbaren und deutlich politisch gefärbten bürgerlichen Typus heraufbeschwört. Anders als bei Eva Ruth Wemmes „Humbürger“. In diesem schwingt das Verdrehte, das Absurde, das Irrsinnige des Caragiale’schen Originalbegriffs mit. Er stammt, wesentlich mehr als der „Hurrapatriot“, aus dem Bereich der Satire und der Sprachspielerei.
Und zudem schwingt eben auch der heutige Wutbürger mit. Der aufbrausende „Sie dürfen mich nicht filmen“-Schrebergartenmann mit dem Deutschlandhütchen, die schrill kreischenden Dresdner Pegidist*innen, die Internetforen vollschreibenden Political-Correctness-Hasser*innen, die unablässig und hemmungslos herumkrakeelen, ihnen würde das Wort verboten – jene, über die man schmunzeln könnte, wäre ihre Rede nicht durchsetzt mit ernstgemeinter Ausgrenzung, Menschenfeindlichkeit, Verachtung und Verächtlichmachung.
Dass in Eva Ruth Wemmes Humbürger so vieles zusammenläuft, in den fanatischen Rrrumänen und den fanatische Rrrumäninnen (ganz wichtig: bei Caragiale mit drei R!) an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, ist ein Geschenk, das nur in unserer heutigen Zeit aufgehen konnte. Noch vor zehn Jahren wären die Assoziations- und Bedeutungsebenen des Wutbürgers nicht vorhanden gewesen. In gewisser Weise hat das Aufkommen des Wutbürgers den Begriff des Humbürgers überhaupt erst denkbar gemacht.
Nun kann man sagen: Caragiales Texte passten in unsere Zeit. Man kann sagen: Caragiales Texte hätten heute eine neue Aktualität gewonnen. Ich denke, man kann aber auch sagen: Eva Ruth Wemme ist eine grandiose Neuübersetzung, eine höchst gegenwärtige Übersetzung eines über hundert Jahre alten Textes gelungen. Es zeigt sich darin, warum es immer wieder lohnend sein kann, sich den Alten zu widmen. Alte Texte wiederzulesen, sich alte Übersetzungen zur Neuübersetzung vorzunehmen. Weil sich in der Arbeit an der Sprache plötzlich Aspekte herausschälen können, die wir vorher zu sehen gar nicht in der Lage waren. Weil Zeiten und Diskurse aufeinanderprallen und Funken schlagen können, die diesen alten Rumänen Caragiale zu einem Visionär für die heutige Zeit werden lassen. Eva Ruth Wemmes durchdringender und hellwacher Blick für die Sprache Caragiales wie für die Sprache der Gegenwart vermählt diese beiden miteinander, lässt ihre Wörter und ihre Zeitumstände füreinander durchlässig werden.
Die Neuübersetzung ist eben nicht nur dazu geeignet, die Vergangenheit erhaltend und rettend zu überliefern. Dadurch, dass es eine gerichtete Übersetzung ist, eine Übersetzung in eine bestimmte Zeit, macht sie mit einer gewissen Ausholbewegung die Gegenwart auf eine ganz eigene Weise sicht- und vor allem lesbar.
Eine herausragende Übersetzung ist immer auch angewiesen auf ein schon herausragendes Original, damit sich ihre ganze Qualität zeigen kann. Eva Ruth Wemmes Caragiale-Übersetzung würde ich auf eine einsame Insel mitnehmen, weil sie so tief und reich ist und man sich immer wieder neu an ihren unzähligen gelenkigen Verrenkungen, gedrechselten Windungen und überschäumenden Formulierungen erfreuen kann. Selten habe ich übersetzte Texte mit so vielen sprachlichen Purzelbäumen und Richtungswechseln gelesen, bei denen ich als Leser trotzdem nie verloren gehe, sondern im Gegenteil weiter geführt werde, als ich ohne die Übersetzung je gekommen wäre. Die Übersetzung lädt zum Mit- und Weiterdenken ein, zwingt geradezu dazu. Wer Eva Ruth Wemme einmal persönlich kennengelernt hat, wird feststellen, dass im verblüffenden Humor und Erfindungsreichtum ihrer Übersetzung fast ebenso viel Eva Ruth Wemme steckt wie Ion Luca Caragiale. Bei den Abgründen und Höhenflügen, zu denen die Übersetzung ansetzt, sind immer zwei Begleiter an der Seite des Lesers: Caragiale und Eva Ruth Wemme. Es lebe Caragiales Moftul, es lebe Wemmes Humbug, es lebe die Vereinigung der beiden.
Sebastian Guggolz, geboren 1982 am Bodensee, studierte Kunstgeschichte, Germanistik und Volkskunde in Hamburg. Nach einigen Jahren als Lektor bei Matthes & Seitz Berlin gründete er 2014 den Guggolz Verlag, in dem er Neu- und Wiederentdeckungen vergessener Klassiker aus Nord- und Osteuropa in neuer Übersetzung herausgibt. 2016 wurde er mit der Übersetzerbarke ausgezeichnet, 2017 erhielt er den Kurt Wolff Förderpreis. Im Jahr 2019 ist er einer der Preisträger des Deutschen Verlagspreises.
Ion Luca Caragiale/Eva Ruth Wemme: Humbug und Variationen. (Im rumänischen Original: Momente şi schiţe.)
Guggolz Verlag 2018 ⋅ 431 Seiten ⋅ 24 Euro