
Bevor Mary Ann Evans unter ihrem Pseudonym George Eliot zu einer der bedeutendsten Autorinnen des viktorianischen Zeitalters avancierte, ging sie in der englischen Hauptstadt verschiedenen Tätigkeiten nach, die ihre literarische Karriere nachhaltig prägen sollten. Mit der Hilfe von John Chapman, einem recht unkonventionellen Londoner Verleger, begann sie 1851 für das liberale Magazin The Westminster Review zu schreiben. Auch wenn sie offiziell nur den Status eines „Assistant Editors“ innehatte – mehr wäre damals für eine Frau wohl nicht schicklich gewesen – erfüllte sie in der Praxis die Rolle der Chefredakteurin und akquirierte nicht nur eine Reihe prominenter Intellektueller, sondern veröffentlichte auch regelmäßig eigene Kommentare und Essays zu einer großen Bandbreite von politischen, philosophischen, theologischen und literarischen Themen.
Während der fünf Jahre bei dem Magazin etablierte sich Evans als scharfe Literaturkritikerin, die sich (obgleich anonym) höchst ironisch über die trivialen Romane ihrer Zeitgenossinnen echauffierte und Charles Dickens vorwarf, die Psyche seiner eigenen Figuren zu wenig zu erforschen. Auch vor Übersetzungskritik scheute sie nicht zurück, vielleicht weil sie sich in dem Bereich für besonders qualifiziert hielt. Zum einen hatte Evans unter der Aufsicht ihres Vaters eine für Frauen ungewöhnlich umfangreiche Bildung genossen und klassische wie auch einige moderne Sprachen lesen gelernt. Zum anderen hatte sie – und das wird mit Blick auf ihre illustre Karriere als Autorin gern vergessen – selbst als Übersetzerin gearbeitet.
Mit zwanzig Jahren äußerte Evans den Wunsch, Italienisch und Deutsch zu lernen. Ihr Vater kam diesem widerstandslos nach und organisierte die entsprechenden Lehrer. Für Evans war es der Beginn einer lebenslangen Affinität zur deutschen Sprache, die sich vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreute. In England herrschte ein gar ausgeprägtes Interesse an deutscher Literatur und der in manchen Bereichen revolutionären Forschung an deutschsprachigen Universitäten. Die Folge war eine äußerst rege Übersetzungskultur, in deren Zuge eine ganze Reihe von literarischen, philosophischen und theologischen Schriften aus dem Deutschen ins Englische übertragen wurden.
Nach nur wenigen Jahren des Deutschstudiums wagte sich Evans an ihre erste Übersetzung, die später von Chapman, der sie zur Westminster Review holte, veröffentlicht werden sollte. Zwei Jahre lang arbeitete sie an einer Übersetzung von Das Leben Jesu (1835), geschrieben von dem damals 27-jährigen David Friedrich Strauß, der sich als einer der ersten mit der Historizität der Bibel befasste und so über Nacht zu einem der berühmtesten Theologen des Jahrhunderts wurde. Evans’ englische Übersetzung erschien 1847.
Es mag zunächst ungewöhnlich erscheinen, dass eine Frau einen solch kontroversen Text übersetzt hat, ja übersetzen durfte, in einer Zeit, in der sich die ideale Frau als „Angel in the House“ vor allem um die Bedürfnisse und die Karriere des Mannes kümmern sollte. Tatsächlich aber arbeitete im 19. Jahrhundert ein erstaunlich hoher Anteil von gebildeten Mittelschicht-Frauen als Übersetzerinnen. Es war eine der wenigen Tätigkeiten, zu der sie, jenseits eines drögen Gouvernantendaseins, überhaupt Zugang hatten.
Da das Übersetzen als eine eher passive geistige Aktivität galt, wurde es als eine für Frauen angemessenere Tätigkeit eingestuft als beispielsweise das Schreiben selbst. Denn das Schreiben galt als das eigentliche Schöpfertum, das Übersetzen hingegen als zweitrangige Beschäftigung, als bloße Wiedergabe von Ideen – perfekt also für die Frau, die sich ganz den Ambitionen des Mannes widmen sollte. So ließ beispielsweise John Milton seinen Töchtern Latein beibringen, damit sie ihn bei seiner Arbeit unterstützen konnten. Ein ähnliches Schicksal widerfuhr Sara Coleridge, der einzigen Tochter von Samuel Coleridge, die eine umfangreiche Bildung erhielt und regelmäßig übersetzte. (Ein deutsches Beispiel ist Dorothea Tieck, die zusammen mit ihrem Vater Ludwig Tieck zahlreiche Shakespeare-Übersetzungen anfertigte.)
Das durchaus aufrührerische Potential dieser übersetzerischen Aktivität von Frauen blieb lange Zeit unkommentiert, bis sich die englische Literaturwissenschaft unter Einfluss des Feminismus mit diesem Phänomen genauer beschäftigte. Aphra Behn, George Eliot, Charlotte Brontë – sie alle haben in irgendeiner Form übersetzt. Die Fähigkeit, andere Sprachen zu lesen und Texte zu übersetzen, war von immenser Bedeutung für das Leben und Schaffen dieser Frauen. Die übersetzerische Tätigkeit ermöglichte ihnen einen direkten und ungefilterten Zugang zu den wichtigsten gesellschaftlichen Ideen ihrer Zeit. Mehr noch – sie waren gefordert, sich mit diesen Ideen in konstruktiver und produktiver Form auseinanderzusetzen, ohne einen Mann als Vermittler, und empfanden die Tätigkeit oft als intellektuell stimulierend.
Welchen Stellenwert das Übersetzen bei Mary Ann Evans hatte, wird in der recht kurz gehaltenen Abhandlung Translators and Translations (1855) deutlich, in der sie sowohl die englische Übersetzung von Kants Critik der reinen Vernunft als auch eine Anthologie deutscher Gedichte mit dem sperrigen englischen Titel Specimens of the Choicest Lyrical Productions of the Most Celebrated German Poets rezensiert (die Übersetzer sind J. M. D. Meiklejohn und Mary Anne Burt). In dieser kritischen Auseinandersetzung fällt auch der oft zitierte Satz „Übersetzung erfordert selten Genialität“ („translation does not often demand genius“), der gern aus dem Zusammenhang gerissen wird. Denn obwohl die besten Übersetzer geniale Fähigkeiten hätten, heißt es weiter, so seien sie doch stets an die Qualität des Originals gebunden: „Die zum Übersetzen notwendige Kraft hängt von der Kraft des Originals ab.“ Kurzum: Selbst ein genialer Übersetzer kann aus einer schlechten Vorlage keinen Geniestreich machen.
Interessanterweise erfahren wir aus ihrer Kritik auch so einiges über die Übersetzungsdebatten der damaligen Zeit. Evans, nie um bissige Seitenhiebe verlegen, interessiert sich wenig für die zu rezensierenden Übersetzungen. Stattdessen urteilt sie mit englischer Trockenheit wie folgt über die deutsche Übersetzungskultur: „Es stimmt, die Deutschen bilden sich zu viel auf ihre Übersetzungen ein.“ Anschließend nimmt sie Hegels und Tiecks auch im englischsprachigen Ausland gefeierten Shakespeare-Übersetzungen auseinander und entlässt uns mit folgenden, abschließenden Worten, die die zu Beginn aufgemachte Genie-Debatte noch einmal abrunden:
Though a good translator is infinitely below the man who produces good original works, he is infinitely above the man who produces feeble original works. We had meant to say something of the moral qualities especially demanded in the translator – the patience, the rigid fidelity, and the sense of responsibility in interpreting another man’s mind. But we have gossiped on this subject long enough.Obwohl ein guter Übersetzer demjenigen, der ein gutes Original produziert, unendlich unterlegen ist, so ist er doch demjenigen, der ein dürftiges Original schreibt, unendlich überlegen.Wir hatten etwas über die moralischen Qualitäten eines Übersetzers sagen wollen – die Geduld, die strenge Genauigkeit und das Verantwortungsbewusstsein, wenn man die Gedanken eines anderen interpretiert. Aber über dieses Thema haben wir schon lange genug gelästert.
Welche Bedeutung die hier nur flüchtig aufgezählten, moralischen Eigenschaften eines Übersetzers für Evans’ eigene Tätigkeit als Übersetzerin hatten, lässt sich aus einer Rezension ihrer Strauß-Übersetzung, die allgemeinen Anklang fand, erahnen: „Wir können bestätigen, dass der Übersetzer ein bemerkenswert geistreiches und originalgetreues Werk“ geschaffen hat. Ob Evans damit selbst den von ihr postulierten übersetzerischen Genie-Status erreicht hat, bleibt offen. Fakt ist, dass sie weiter für die damalige Zeit reißerische Schriften übersetzte, darunter Ludwig Feuerbachs Das Wesen des Christenthums (1854), und der deutschen Sprache stets verbunden blieb. Sie unternahm mit ihrem Partner George Henry Lewis, der Mitte der 1850er Jahre an einer Goethe-Biografie schrieb, ausgedehnte Reisen durch Deutschland und verkehrte mit den wichtigsten Intellektuellen ihrer Zeit.
Im Jahr 1859 erschien Mary Ann Evans’ erster Roman Adam Bede, der ein großer Erfolg war und seine Autorin unter dem Namen George Eliot mit einem Schlag berühmt machte. Es folgten fünfzehn überaus produktive Jahre, in denen Eliot einen Klassiker nach dem anderen veröffentlichte, darunter The Mill on the Floss (1860) und Silas Maner (1861). Ihr zwischen 1871 und 1872 erschienes Magnum Opus Middlemarch, A Study of Provincial Life gilt heute als einer der bedeutendsten englischsprachigen Romane und wird gern – vor Frankenstein, Jane Eyre oder Pride & Prejudice – an die Spitze verschiedener englischsprachiger Literatur-Rankings gewählt.
Eines der berühmtesten Urteile über Middlemarch stammt von Virginia Woolf, die den Roman in einem Essay als „einen der wenigen englischen Romane für Erwachsene“ bezeichnete. Mit Blick auf den Inhalt des Romans lässt sich erahnen, was Woolf damit gemeint haben könnte. Denn Middlemarch beginnt dort, wo viele Romane ihrer Vorgängerinnen und Zeitgenossinnen – Austen, Brontë oder Gaskell – aufhörten: mit der Eheschließung.
Dorothea Brooke, zunächst scheinbarer Mittelpunkt dieses provinziellen Lebens, das Eliot uns auf über tausend Seiten schildert, beschließt, den alternden, selbstverliebten Gelehrten Edward Casaubon zu heiraten. Sie hat dazu ganz ähnliche Beweggründe wie die bereits genannten Töchter, die fleißig übersetzt haben. Dorothea träumt von einem intellektuell herausfordernden Leben, voller Erkenntnis und Sinnhaftigkeit. Casaubon, der sich ganz dem eigenen Intellekt und seinen Studien verschrieben hat, braucht eine Assistentin. Er braucht also eine Ehefrau.
Dies ist nur eine von vielen Ehen, denen sich Eliot in ihrem Roman widmet. Der Fokus des Romans liegt dem Titel entsprechend auf der fiktiven Provinzstadt Middlemarch und ihren schillernden Bewohnern. Der Roman hat den Anspruch, die verschiedenen Facetten des menschlichen Daseins innerhalb der Grenzen dieses Mikrokosmos abzubilden, und ist von allerlei Anspielungen auf realhistorische Ereignisse durchzogen. In seiner schieren Figurenvielfalt und systematischen Konstruiertheit steht Middlemarch anderen großen, vom Realismus geprägten Romanen des 19. Jahrhunderts in nichts nach. Eliot porträtiert die verschiedensten Gemeinschaftsformen in den unterschiedlichsten sozialen Schichten mit einer solchen Präzision und psychologischen Tiefe, dass ihre Charaktere – anders als beispielsweise bei Dickens, einem großen Bewunderer ihres Werks – nie zu bloßen Karikaturen verkommen.
Da sich Eliot bereits zu Lebzeiten großer Beliebtheit erfreute, wurden ihre Romane recht zügig in andere Sprachen übersetzt, so dass beispielsweise Middlemarch von einem gewissen Friedrich Nietzsche, dessen Schwester eine Ausgabe besaß, in deutscher Sprache gelesen werden konnte (sein Urteil fiel verhalten aus). Rund 150 Jahre später haben wir nun das Glück, dass nicht nur eine, sondern gleich zwei deutsche Übersetzungen des Romans den Weg in die Buchhandlungen gefunden haben. Im Sommer veröffentlichte zunächst dtv eine überarbeitete Übersetzung von Rainer Zerbst, die bereits 1985 bei Reclam erschienen war. Vergangene Woche legte Rowohlt mit einer Neuübersetzung von Melanie Walz nach.
Mit welchen Schwierigkeiten die Übersetzerinnen und Übersetzer eines Eliot-Romans konfrontiert werden, verrät ein kurzer Ausflug in die Übersetzungsgeschichte des Werks. Der erste deutschsprachige Übersetzer Emil Lehmann scheiterte nämlich kläglich an dem Versuch, eine adäquate Übersetzung von Middlemarch abzuliefern – zumindest nach dem Urteil der Autorin. Eliot kannte Lehmann persönlich, war mit ihm und seinen Schwestern sogar ziemlich gut befreundet und verkehrte in denselben Londoner Kreisen. Dass er Middlemarch überhaupt übersetzen durfte, war vor allem ein Freundschaftsdienst Eliots, die eigentlich kein Vertrauen in seine Fähigkeiten als Übersetzer hatte und im Allgemeinen höchst misstrauisch war, was die Übersetzung ihrer eigenen Romane betraf. Die ganze Angelegenheit brachte sie in ein Dilemma, das sie ihrem Verleger John Blackwood wie folgt schildert:
I care very much for the feelings of some friends who might be wounded in connection with my refusal or granting of the right to translate one of my books, and yet I feel that it is treason to Literature to encourage incompetence.Ich sorge mich sehr um die Gefühle mancher Freunde, die durch meine Ablehnung oder Gewährung der Übersetzungsrechte verletzt werden könnten, und doch wäre es ein Verrat an der Literatur, Inkompetenz zu fördern.
Genützt hat der vertrauliche Brief wenig – Lehmann, der nach Eliot noch viele andere viktorianische Autoren (darunter John Stuart Mill, Wilkie Collins und Charles Dickens) ins Deutsche übertrug, durfte die erste Übersetzung von Middlemarch anfertigen. Er war ein großer Verehrer Eliots und äußerst bemüht, eine exzellente Übersetzung des Werks vorzulegen. Wie Eliot es jedoch selbst vorhergesehen hatte, empfand sie die Übersetzung als inadäquat. Er verstehe „keinen Funken Ironie“, schimpft sie in einem Brief an den Verleger und ließ für ihren letzten Roman Daniel Deronda einen anderen Übersetzer beauftragen.
Diese Eliotsche Ironie stellt auch heute noch eine der größten Herausforderungen für die deutschen Übersetzerinnen und Übersetzer dar. Melanie Walz schreibt im Nachwort zu ihrer Übersetzung, George Eliot habe „die Gabe, Dinge so zu formulieren, dass man ihr ohne weiteres auf den Leim gehen kann und mehr oder weniger wörtlich übersetzt, was gar nicht so gemeint ist“ – eine Falle, in die Lehmann hineingetappt ist, obwohl die Ironie an einigen Stellen sehr direkt, fast schon plump ist, und sich die oft verwendeten rhetorischen Fragen durchaus gut ins Deutsche bringen lassen:
„You have your own opinion about everything, Miss Brooke, and it is always a good opinion.“ What answer was possible to such stupid complimenting?„Sie haben zu allen Dingen eine eigene Meinung, Miss Brooke, und es ist immer eine gute Ansicht.“ Was sollte man auf so alberne Komplimente antworten? (Walz)
Wer solche Stellen überliest, liest einen anderen Roman. Glücklicherweise sind weder Walz noch Rainer Zerbst an Eliots schneidender Ironie gescheitert, was sicherlich auch daran liegt, dass wir heute über ein anderes Verständnis von Eliot und ihrem Werk verfügen und in einer Zeit leben, in der es durchaus vorstellbar ist, dass sich eine schreibende Frau über einen pseudo-intellektuellen Philologen und die Naivität eines jungen Mädchens, das in der Ehe das große Heilsversprechen sieht, in wohlwollender Manier lustig macht:
This accomplished man condescended to think of a young girl, and take the pains to talk to her, not with absurd compliment, but with an appeal to her understanding, and sometimes with instructive correction. What delightful companionship! Mr. Casaubon seemed even unconscious that trivialities existed, and never handed round that small talk of heavy men which is as acceptable as stale bridge-cake brought forth with an odor of cupboard.Dieser gebildete Mann ließ sich dazu herab, an ein junges Mädchen zu denken und sich der Mühe zu unterziehen, mit ihr zu sprechen, und das nicht mit lächerlichen Komplimenten, sondern indem er an ihren Verstand appellierte und sie manchmal belehrend korrigierte. Was für eine entzückende Gemeinschaft! Es schien Mr. Casaubon nicht einmal bewusst zu sein, dass es Trivialitäten überhaupt gibt, und niemals reichte er das Geschwätz schwerfälliger Männer herum, das ebenso unannehmbar ist wie altbackener Hochzeitskuchen, der nach Schrank riecht. (Zerbst)
Neben der Ironie erfordern auch die inhaltlich wie satzbautechnisch komplexen Schilderungen übersetzerische Höchstleistungen. Walz und Zerbst lassen in ihren Nachworten durchschimmern, welche Kopfschmerzen ihnen Eliots überlangen Sätze und zum Teil hoch philosophischen Beobachtungen bereitet haben müssen. Zerbst lässt uns wissen, dass in seiner Übersetzung „Wert darauf gelegt wurde, die komplexen Satzstrukturen ins Deutsche hinüberzuretten“. Wie unterschiedlich eine solche Rettungsmission aussehen kann, zeigt ein vergleichender Blick in die Übersetzungen:
She did not look at things from the proper feminine angle. The society of such women was about as relaxing as going from your work to teach the second form, instead of reclining in a paradise with sweet laughs for birdnotes, and blue eyes for heaven.
Sie betrachtete die Welt nicht von dem einer Frau angemessenen Blickpunkt. Der Umgang mit solchen Frauen war so erholsam, als würde man nach getaner Arbeit noch Unterricht geben, anstatt sich in einen Paradiesgarten zu legen, wo süßes Lachen den Vogelsang und blaue Augen den Himmel ersetzten. (Zerbst)Sie betrachtete die Dinge nicht von dem richtigen weiblichen Standpunkt aus. Die Gesellschaft solcher Frauen war so erquickend, als ginge man von der Arbeit direkt zum Unterrichten, statt sich in einem Paradies voll süßen Lachens wie Vogelgezwitscher und blauer Augen wie einem Himmel zu erholen. (Walz)
Die Übersetzung von Walz ist in punkto Wortstellung und Satzbau tendenziell näher am englischen Original als Zerbsts Übersetzung, was nicht immer zu ihrem Vorteil ist und durchaus an einigen Stellen den Lesefluss beeinträchtigt. Um der Flüssigkeit willen entfernt sich Zerbst insgesamt deutlich weiter vom Original, ohne jedoch je den Faden zu verlieren oder Eliots komplexe Strukturen gänzlich auseinanderzunehmen.
Entscheidend für die Bewertung der Qualität dieser Übersetzungen sind aber weder die erfolgreich übertragene Ironie noch die hinübergeretteten Schachtelsätze. Letztlich verrät vor allem ein Blick auf die Wortwahl der beiden Übersetzer, welche Übersetzung man im 21. Jahrhundert lesen sollte, denn genau da zeigen sich gravierende Unterschiede auf, die Zerbsts Übersetzung in kein gutes Licht rücken.
Wie es zu den Fehlern in der Wortwahl kommen konnte, verrät das Nachwort der Zerbstschen Übersetzung, in dem man vieles über die Rezeptionsgeschichte, die komplexe Struktur des Romans und über Eliots Selbstverständnis als „Romancier“ (oder besser gesagt: Zerbsts Verständnis von Eliot als Romancier), wenig jedoch über die Übersetzung erfährt. Deutlich wird vor allem, dass der Übersetzer getrieben ist von der Frage, was dieser Roman genau ist, genauer gesagt, welchem Genre er zuzuschreiben sei und welchem nicht. Laut Zerbst handelt es sich bei Middlemarch um einen historischen Roman und nicht um einen feministischen, denn „[r]evolutionäre Neuerung war George Eliots Sache nicht“.
Mit Blick auf die Biographie Eliots – die Partnerschaft mit dem bereits verheirateten Lewes, für die sie jahrelang soziale Ächtung kassierte, die mit eiserner Disziplin verfolgte Karriere als Intellektuelle und Autorin – und ihre anderen Romane (man denke an die bittere Sozialkritik in The Mill on the Floss) ist diese Schlussfolgerung erstaunlich. Vielleicht versteckt sich hier auch die Absicht, einen Weltklassiker vor dem Label des Feminismus zu bewahren, das vor mehr als dreißig Jahren wohl noch eine andere Bedeutung und ein höheres Abschreckungspotential hatte.
In gewisser Weise will man Zerbst seine Lesart auch gern lassen, der Roman entzieht sich ohnehin jeglicher Kategorisierung und übersetzen bedeutet nun einmal auch interpretieren. Jede Interpretin und jeder Interpret interessiert sich für andere inhaltliche wie auch ästhetische Aspekte und sieht technische Schwierigkeiten an anderen Stellen. Zerbst sei seine Lesart des Romans also gegönnt – wenn sie nicht solch gravierende Auswirkungen auf die Übersetzung hätte. Der Roman ist im englischen Original nämlich weniger konservativ, als er in seiner deutschen Übersetzung klingt.
Bereits im „Vorspiel“ begeht Zerbst einen Übersetzungsfehler, der in seiner Tragweite so verheerend ist, dass man geneigt ist, ihn als Textverfälschung zu bezeichnen:
Who cares much to know the history of man, and how the mysterious mixture behaves under the varying experiments of Time, has not dwelt, at least briefly, on the life of Saint Theresa, has not smiled with some gentleness at the thought of the little girl walking forth one morning hand-in-hand with her still smaller brother, to go and seek martyrdom in the country of the Moors?
Out they toddled from rugged Avila, wide-eyed and helpless-looking as two fawns, but with human hearts, already beating to a national idea; until domestic reality met them in the shape of uncles, and turned them back from their great resolve. That child-pilgrimage was a fit beginning. Theresa’s passionate, ideal nature demanded an epic life: what were many-volumed romances of chivalry and the social conquests of a brilliant girl to her? Her flame quickly burned up that light fuel; and, fed from within, soared after some illimitable satisfaction, some object which would never justify weariness, which would reconcile self-despair with the rapturous consciousness of life beyond self. She found her epos in the reform of a religious order.
Wer von uns, der sich sehr für die Geschichte des Menschen interessiert und dafür, wie sich die geheimnisvolle Mischung unter den verschiedenartigen Experimenten verhält, welche die Zeit mit jener anstellt, hat sich nicht schon, zumindest kurz, mit dem Leben der Heiligen Therese beschäftigt, hat nicht milde gelächelt bei dem Gedanken daran, wie das kleine Mädchen eines Morgens Hand in Hand mit ihrem noch kleineren Bruder auszog, um im Lande der Mauren das Martyrium zu suchen?
Mit großen Augen und hilflosem Blick anzusehen wie zwei Rehkitze, aber mit Menschenherzen, die schon für eine nationale Idee schlugen, so trotteten sie hinaus aus dem trutzigen Avila, bis die Realität des Alltags ihnen in der Gestalt von Onkeln entgegentrat und sie von ihrem großen Entschluss abbrachte. Diese Kinderwallfahrt war ein angemessener Anfang. Thereses leidenschaftliche, aufs Ideale gerichtete Natur verlangte nach einem Leben wie in einem höfischen Roman: Was bedeuteten ihr vielbändige Ritterromanzen und die gesellschaftlichen Eroberungen eines klugen Mädchens? Ihre Flamme verzehrte diesen leichten Brennstoff schnell und sehnte sich, von innen genährt, nach grenzenloser Erfüllung, einem Ziel, bei dem Ermüdung keine Entschuldigung war und das die Verzweiflung an sich selbst durch das verzückte Bewusstsein von einem Leben jenseits des eigenen Ich versöhnte. Sie fand ihren Roman in der Reform eines geistlichen Ordens.
Dass Zerbst hier „brilliant girl“ schnöde als „kluges Mädchen“ übersetzt, kann man durchgehen lassen. Verzeihlich ist auch die Übersetzung von „domestic reality“ mit „Realität des Alltags“, obwohl mit „domestic“ weniger der Alltag als die spezifisch-weiblich konnotierte Sphäre des Häuslichen gemeint ist, in die die Frau vom Patriarchat, hier in der Form des Onkels, zurückgedrängt wird. Gänzlich unverzeihbar ist jedoch die Übersetzung von „epic life“ mit „höfischen Roman“, die sich am Ende Absatzes in der Übersetzung von „epos“ mit „Roman“ wiederholt. Diese Übersetzung ist zunächst einmal rein technisch betrachtet falsch. Im darauffolgenden Satz werden zwar die „romances of chilvary“ erwähnt (und von Zerbst auch richtig als „Ritteromanzen“ übersetzt), es besteht jedoch kein semantischer Bezug zwischen diesen Romanzen und dem „epic life“, das Zerbst hier als „höfischen Roman“ übersetzt – im Gegenteil: Es soll in diesem Vorspiel ein Kontrast entstehen zwischen den Ritterromanzen und dem Epos. Zudem entsteht durch Zerbsts Übersetzung ein inhaltlicher Widerspruch. Therese verlangt nach einem Leben wie in einem höfischen Roman, hat aber kein Interesse an langweiligen Ritterromanzen? Was ist der höfische Roman anderes als eine Ritterromanze, als „chilvaric romance“, um wieder zum Englischen zurückzukehren?
Indem Zerbst die Wortspiele mit „epic“ und „epos“ durch seine eigene Übersetzung untergräbt, verschleiert er das Rebellische dieses Vorspiels. Therese hat keine Lust auf belanglose Romanzen, sie findet, ja sie schreibt ihr eigenes Epos und ist Zentrum, Heldin ihrer eigenen Geschichte. Es ist wenig überraschend, dass Eliot als große Liebhaberin der alten Sprachen, deren Wert in ihren eigenen Romanen immer wieder thematisiert wird, hier auch auf deren wohl bedeutendste Form anspielt. Dass sich dahinter eine ironische Anspielung auf Dorothea Brookes verbirgt, die mit der Nüchternheit einer Nonne ihre Bestimmung sucht und nach einem ähnlich heroischen Dasein strebt, kann man kaum überlesen. Dass Eliot sich hier selbst als Schöpferin positioniert und ihre Heldinnen in eine Linie mit anderen prägenden Frauenfiguren stellt, auch nicht.
Ähnliche Schnitzer in der Wortwahl finden sich auch im Rest des Textes. Manche sind schlichtweg falsch übertragen – so wird „her girlish subjection to her own ignorance“ mit „mädchenhafter Unwissenheit“ übersetzt, als wäre Unwissenheit ein spezifisch weibliches Charakteristikum –, andere geschmacklos übersetzt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Übersetzung von „guide“ und später „spiritual director“ mit „geistiger Führer“. Ein noch besseres Beispiel lautet wie folgt:
She would perhaps be hardly characterized enough if it were omitted that she wore her brown hair flatly braided and coiled behind so as to expose the outline of her head in a daring manner at a time when public feeling required the meagreness of nature to be dissimulated by tall barricades of frizzed curls and bows, never surpassed by any great race except the Feejeean.Man sollte, um sie vollständig zu beschreiben, erwähnen, dass sie ihr Haar schlicht geflochten nach hinten gekämmt trug, sodass die Form ihres Kopfes kühn hervorgehoben wurde; und das zu einer Zeit, in der es der allgemeine Geschmack verlangte, dass die nur dürftig hervortretende Natur hinter einer Festung aus Ringellöckchen und Schleifen verschwand, wie es unter allen großen Rassen nur noch von den Fidschi-Indianern übertroffen wurde.
Die kolonialen Untertöne, die sich auch in anderen Werken Eliots finden und hier ganz klar zum Vorschein treten, sollen keinesfalls überhört werden. Aber eine Übersetzung wie diese ist weder adäquat noch korrekt. „Race“ hat im Englischen eine vollkommen andere Bedeutung und historische Konnotation als das deutsche Wort „Rasse“ mit seiner hoch problematischen Vergangenheit. Noch schlimmer ist allerdings, dass Zerbst das Wort „Indianer“ hinzufügt, welches wahrlich nicht weniger problematisch und im englischen Original so auch überhaupt nicht zu finden ist. Anscheinend geht man davon aus, dass die Leserinnen und Leser auch in Zeiten von Google-Bilder eine solche illustrative Ergänzung benötigen, um sich unter „Fidschi“ etwas vorzustellen. Dass im 21. Jahrhundert ein solches Wort vom Lektorat nicht gestrichen wird, kann nur Kopfschütteln hervorrufen und bestätigt die Notwendigkeit der bisweilen mühsamen Debatten um politische Korrektheit.
Freuen wir uns also umso mehr, dass wir eine zweite Übersetzung von Melanie Walz vorliegen haben, die all diese Fehler nicht begeht. Therese darf sich bei ihr nach einem „heroischen Leben“ sehnen, das Mädchen „hochbegabt“ statt „klug“ sein. Und auch die Fidschis sind weder Indianer noch eine Rasse, sondern ein schlichtes „Volk“.
Die Übersetzung entstaubt diesen im deutschen Gewand zu Unrecht verstaubten Roman und dies ist auch bitter notwendig. Denn tatsächlich haben Eliots Romane, vor allem Middlemarch, im Gegensatz zu vielen anderen großen Werken der englischsprachigen Literatur, „den Weg nach Deutschland nie so recht gefunden“, wie Walz in ihrem Nachwort schreibt. Als mögliche Ursache führt sie die nur schwer übertragbare Ironie an. Eine weitere Ursache, die bei ihr natürlich unerwähnt bleibt, ist jedoch auch die Qualität der bisherigen Übersetzungen von Middlemarch, die – angefangen bei Lehmann – diesem Roman nicht gerecht werden. Als deutschsprachige Leserinnen und Leser können wir uns nun umso glücklicher schätzen, dass wir Eliot und ihren bedeutendsten Roman endlich in seiner ganzen Modernität und Größe erleben dürfen.
George Eliot/Melanie Walz: Middlemarch.
Rowohlt 2019 ⋅ 1264 Seiten ⋅ 45 Euro
George Eliot/Rainer Zerbst: Middlemarch.
dtv 2019 ⋅ 1152 Seiten ⋅ 28 Euro