Als ich mit den Berliner Dichter*innen Georg Leß und Lea Schneider und der druckfrischen alba12 im Gepäck in Buenos Aires ankomme, empfängt uns eine graue, eisige Morgenluft. Wir haben im Oktober den argentinischen Frühling erwartet und trösten uns mit einem Vers aus Georg Leß‘ neuem Gedichtband „Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Menschen.“ Der Taxifahrer, der mit ernster Miene erzählt, der Staat subventioniere jetzt wegen der Krise jede Art von Konsum, haut uns übers Ohr. Auf der Fahrt durch die Stadt kommen wir an unzähligen Wahlplakaten vorbei – in drei Wochen wird gewählt und immer wieder erscheint das Gesicht des Bürgermeisters von Buenos Aires, Horacio Larreta, meistens mit seinem typischen unheimlich-breiten Lächeln. Über eines seiner Konterfeis hat jemand die Fratze eines Horrorclowns gemalt.
Unser Besuch in Buenos Aires bildet den ersten Teil des vom Berliner Regierenden Bürgermeister finanzierten Austauschprojekts der Literaturzeitschrift alba.lateinamerika lesen aus Berlin mit der Zeitschrift Hablar de Poesía aus Buenos Aires, die von Alejandro Crotto geführt wird, selbst Lyriker, Übersetzer, Dozent und mein direkter Projektpartner. alba bringt seit 2012 lateinamerikanische Literatur nach Berlin und Deutschland, übersetzt sie und veranstaltet Lesungen. Der Schwerpunkt der Zeitschrift liegt neben der aufwendigen Gestaltung mit Illustrationen lateinamerikanischer Künstler*innen vor allem auf aktueller Literatur, die randständig und unbekannt, keinen Platz im Mainstream des Literaturbetriebs findet, denn nach Deutschland gelangt nur ein geringer und einseitig selektiver Teil des literarischen Reichtums Lateinamerikas.
Hablar de Poesía widmet sich schon seit 1999 der Verbreitung, Übersetzung und Kritik von Lyrik und ist ein renommiertes Medium, das seit den Anfängen klassisch-konventionell ausgerichtet war, sein Profil mit Alejandro Crotto als Herausgeber aber zu offeneren, neueren Formen und Themen hin gewandelt hat. Für dieses Projekt standen wir ungefähr ein Jahr lang in regem Austausch. Das Ergebnis ist ein für die alba12 und die Nummer 40 der Hablar de Poesía gemeinsam kuratiertes Dossier, Texte aus Berlin und Buenos Aires zum Anlass der 25-jährigen Städtepartnerschaft, die sich immer wieder den Zwischenräumen, Übergängen und Grenzgebieten widmen, solchen innerhalb der Stadt, zwischen Stadt und Natur, Stadtkörper und menschlichem Körper, lebendiger und toter Materie.
Am ersten Abend gehen wir zu einer Lesung in einer Bar im gentrifizierten Stadtteil Palermo. Die Stimmung ist gemütlich-familiär, gefühlt kennen sich alle. Wir trinken Bier aus Einliterflaschen. Valeria Tentoni, eine junge Lyrikerin liest aus den „Piedras Preciosas“, den „Edelsteinen“, – ich sammle eifrig für alba –, Timo Berger, der mit seinem Projekt: „Topografien des Künftigen“ gerade in Buenos Aires ist und Stadtspaziergänge organisiert, liest aus seinem neuen Lyrikband „Música Muerta“, erschienen im handgemachten Kartoneinband bei Eloísa Cartonera, einem nichtkommerziellen Verlag, den der Dichter und Maler Washington Cucurto ins Leben gerufen hat. Bei einem Gespräch mit Tentoni im Anschluss sagt sie, dass gerade jetzt in Zeiten der Wirtschaftskrise die Kultur in Buenos Aires mehr denn je floriere. Die Leute organisieren Lesungen, verlegen und schreiben trotzdem oder gerade wegen der prekären Situation.
Überhaupt habe ich den Eindruck, hier in Buenos Aires schreibt jede*r, der oder dem ich begegne auch Gedichte und veröffentlicht diese in einem der unzähligen kleinen Verlage. Die Szene scheint mir lebhaft, quirlig, offen und voller Tatendrang. Ich muss aber auch daran denken, wie unser Projekt beinahe gescheitert wäre. Einen Tag vor Abgabeschluss des Finanzierungsantrags bekamen wir eine Nachricht unseres ursprünglichen Projektpartners, der Literaturzeitschrift Rapallo, in der sie uns mitteilen, dass sich die Situation in Buenos Aires mit dem winterlichen Herbst verkompliziere denn „wenn es etwas gibt, worüber wir Bescheid wissen in diesem wunderschönen Land, dann ist es die Krise“. Es ist Timo Berger zu verdanken, dass er innerhalb eines Tages den Kontakt zu Alejandro Crotto und Hablar de Poesía hergestellt hat und wir das Projekt weiterverfolgen konnten.
Am darauffolgenden Sonntagabend findet unsere Lesung in der Bar„Casa del árbol“ statt: „Hablar de Poesía trifft alba.lateinamerika lesen: Literaturzeitschriften im Dialog“, so der Titel der Veranstaltung. Das Musikerduo Sole und Lau eröffnen den Abend mit Tangos, Zambas, argentinischer Rockmusik und Música Pópular Brasileira. Der Laden ist voll, wir haben einen Fotografen engagiert, ein Teammitglied von Hablar de Poesía managt den Verkauf der Zeitschriften. Nach einer kurzen Ansprache beginnen die Lesungen von jeweils vier Gedichten, gelesen im Pärchen auf der Bühne von den Autor*innen und Übersetzer*innen.
Anahí Mallol liest durchnummerierte „Una ciudad“-Gedichte, die sich Randgebieten widmen, „namenlosen Zonen“ zwischen Stadt und Natur. Georg Leß liest sein Gedicht vom Berliner „Fuchs am Südkreuz“, der die Schlaflosigkeit des urbanen Subjekts begleitet. Dann folgen zwei seiner „Wirbel“, die sich mit „Unfällen beschäftigen, Haushaltsunfällen, Weltuntergängen…“. Die Dolmetscherin Carla Imbrogno vom Goethe-Institut übersetzt „Wirbel“ mit „tormentas“ („Unwetter“ oder „Stürme“), was die Doppeldeutigkeit von Leß Gedichten erkennbar werden lässt und die Hürden, denen man bei der Übersetzung begegnet.
Die Übersetzerinnen von Leß‘ Gedichten, Silvana Franzetti und Odile Kennel, entschieden sich nach Rücksprache mit dem Autor für vértebras – die Wirbel des Skeletts und entsprechend körperbezogen an einer weiteren Stelle für „estiramientos“, was das Strecken des Körpers ist. Im Gedicht heißt es: „Gerade Strecken sind uns nicht gegeben“. Leß, der zwar erklärtermaßen kein Bühnenredner ist, initiiert jedoch passend zu seinem Gedicht „Das 3. Final Girls Berlin Film Festival (2018)“ dann noch ein feministisches Horrorfilm-Gewinnspiel, bei dem er der Person, die ihm im Anschluss der Lesung drei Horrorfilmregisseurinnen nennen kann, einen Preis verspricht – Horrorfilme, „las películas de terror“, sind Leß‘ liebstes Laster.
In Buenos Aires lesen außerdem Lea Schneider, Timo Berger und Rosario Aquebeque, eine junge unveröffentlichte Lyrikerin, die den Titel ihres klangstarken Gedichts nicht verraten will. „Hay una ofrenda en cada hoja caída. Y ¡ay! ¡ay! del rugido, del viento que te avala“ (dt. „Auf jedem gefallenen Blatt liegt eine Opfergabe. Und wehe, wehe dem Dröhnen des Windes, der für dich bürgt“), lautet der Gedichtanfang. Der Name des Gedichts sei „Un poema de Rubén Darío“, flüstert mir Alejandro Crotto zu. Es erscheint in der Hablar de Poesía. Das Gedicht berührt mich und vielleicht liegt das einfach an dem wiederholten Laut „ay!“, der – vom Schmerzenslaut über das Subjekt und die Fülle des Vorhandenen bis hin zum Ovum – ein wunderbares Beispiel für Mehrdeutigkeit über Sprachgrenzen hinweg ist und den Hélène Cixous einmal als den „Schrei der Literatur“ bezeichnet hat.
Während unseres Aufenthalts in Buenos Aires kommt es auch zu einigen Berührungspunkten, Synergien, wie wir es bedeutungsschwer antizipiert haben, mit dem Topografien-Projekt von Timo Berger und dem Goethe-Institut. Eine Veranstaltung, die sich dem Thema Übersetzen widmet, findet im Museo de Arte Latinoamericano de Buenos Aires, MALBA, statt. Martina Fernandez dolmetscht simultan in die Kopfhörer der Zuhörer*innen und eine der Gesprächsteilnehmer*innen, die Dichterin und Übersetzerin Aurelie Maurin vom Übersetzungsförderprogramm Toledo macht sich für eine von der Sprache losgelöste, unabhängige Übersetzung stark, denn ein poetischer Text sei, so Maurin, immer schon eine Übersetzung und die Übertragung in eine andere Sprache demnach kein fremdes Vorgehen, sondern dem Text schon vornherein inhärent.
An dem Tag, an dem eine Diskussionsrunde zum Thema Professionalisierungsstrategien im Literaturbetrieb in der neueröffneten Bibliothek Parque de la Estación im jüdischen Viertel Once stattfindet, wird in Deutschland eine „película de terror“ Wirklichkeit, wenn in Halle ein Anschlag auf eine Synagoge verübt wird. Der Berliner Autor Max Czollek, der für das Topografien-Projekt mit der argentinisch-jüdischen Autorin Tamara Tenenbaum durch das Barrio Once spazieren wird, ist beim Sektempfang des Goethe-Instituts in Gedanken in Deutschland und drückt seine Fassungslosigkeit am nächsten Tag in einem Beitrag im Tagesspiegel aus.
In der Woche darauf machen wir mit einigen der Berliner Autor*innen, darunter Max Czollek, Ulrike Draesner und Lucy Fricke einen touristischen Ausflug in den Palacio Barolo, einem eklektizistischen Bürogebäude aus den 1920er Jahren, den ein italienischer Architekt Dantes Divina Comedia nachempfunden hat. Auch Lucy Fricke ist mit einem kurzen Prosatext in der alba präsent, einer Kurzgeschichte, in der die Ich-Erzählerin der großen Liebe ihrer Mutter, die irgendwie auch die ihre ist, einem Argentinier aus Buenos Aires, wiederbegegnet. Fricke erzählt mir später, dass sie den Text schon vor sehr langer Zeit geschrieben hat. Bei diesem Besuch will sie das Grab des alten Geliebten besuchen. Als der klapprige Fahrstuhl im Palacio Barolo, besetzt mit unserer literarischen Reisegruppe dann auf dem Weg vom Paradies ins Fegefeuer ungesund ruckelt, nimmt Czollek morbide den apokalyptischen Faden auf: „Und so verlor Deutschland eine ganze Generation von Schriftstellern“.
Alle haben die Reise nach Buenos Aires überlebt, aber als ich zurück in Berlin bin, beginnt es in Lateinamerika immer turbulenter zu werden. Die Peronisten gewinnen die Wahlen und strafen die wirtschaftsliberale Regierung Macris ab, in Chile brechen, ausgelöst durch die Erhöhung der Metropreise, Proteste gegen die soziale Ungerechtigkeit des Landes aus. Kurze Zeit später wird es in Bolivien einen Putsch geben, aber das wissen wir zu dem Zeitpunkt noch nicht. Wir beschließen in der Redaktion diese Themen auch bei unserer Lesung in Berlin einfließen zu lassen, für die Anfang November Alejandro Crotto aus Buenos Aires anreist.
Die zahlreichen Monstrositäten, die in den Texten der alba12 auftauchen, bieten für die politischen Bezüge einen guten Anknüpfungspunkt. „Se vuelven otra vez los perros horizonte“ (dt. „Es herrschen wieder die Bestien, soweit das Auge reicht“) heißt es im Gedicht von Guido Eytel, das er mitten in der Hochphase der Militärdiktatur in Chile schrieb, das dem bis heute verschwundenen MIR-Aktivisten Marcelo Salinas Eytel, meinem Onkel, gewidmet ist und für das Eytel den Lyrikpreis des Erzbischofs von Santiago zum Jahr der Menschenrechte 1978 bekam. „Perros“ könnte man an dieser Stelle mit „Bestien“ übersetzen – die in Chile auferstanden sind, wie es scheint, wenn Militärs und Polizisten jungen Studierenden auf der Straße die Augen ausschießen. Daher entscheiden wir uns auch, die Gedichte des Lyrikers, Prosaautors und Musikers Julio Carrasco zu lesen, in denen es von Piranhas und Haien wimmelt und die Odile Kennel für uns übersetzt hat. Auch Carrascos Eltern hatten in der MIR gekämpft. Die Frage steht im Raum, ob die aktuellen Geschehnisse in Chile nicht mehr mit uns zu tun haben, als hier allgemein angenommen wird, wenn eines der neoliberalsten und unsozialsten Wirtschaftssysteme der Welt – in der Verfassung verankert seit der Diktatur – gerade an ihre Grenze gestoßen ist. Und wir wollen unsere Avokados hier eben billig kaufen. Odile Kennel antwortet, mit dem Zitat eines Graffitos: „El capitalismo nace y muere en Chile“, „Der Kapitalismus wird in Chile geboren und stirbt in Chile.“
Die Berliner Lesung richten wir im Instituto Cervantes beim Hackeschen Markt aus, der Saal ist gut gefüllt, die Diskussionsrunde üppig besetzt. Es gibt Wein, Malbec, gesponsert von der argentinischen Botschaft und elektronische Musik von Pablo Torres, einem jungen peruanischen Musiker. Der gesamte Abend ist zweisprachig, Christiane Quandt dolmetscht, und im Lauf des Gesprächs wenden wir uns auch dem Thema des Übersetzens selbst zu, ein Thema, das auch in der alba immer wieder diskutiert worden ist, das eine tragende Säule unserer Arbeit ist, ein Symbol des Übergangs und der Zwischenräume. Die Dichterin Odile Kennel, die am Gespräch teilnimmt, spricht von der Vieldeutigkeit und den Schichten, die bei der Übersetzung freigelegt werden. Es geht um ihre Co-Übersetzung von Leß‘ Gedichten und die Schwierigkeit den kryptischen Titel „fünfter wirbel / wir belagerten“ zu übersetzen. Georg Leß sagt dazu lapidar: „Kryptisch – ich weiß nicht. Vielleicht auch nur ein Kalauer.“
Passend dazu relativiert Alejandro Crotto bei der Berliner Lesung die Wirtschaftskrise in Argentinien mit den Worten, er habe mit seinem 95-jährigen Großvater gesprochen und der habe zu ihm gesagt: „Ach Krise, wir sind doch in der Krise seit ich fünf bin.“ Wir sprechen auch hier wieder über die Schwierigkeit der Finanzierung und der Ambivalenz, die das mit sich bringt. Es schafft einerseits Freiheiten, die Literaturwissenschaftlerin, Übersetzerin und Lyrikerin Maria Marggraf erzählt von dem nicht-kommerziellen Editionsprojekt Milena Berlin, einem „Nicht-Verlag“, über den sie für die alba12 einen Essay geschrieben hat. Dabei wurde mit dem gearbeitet, was vorhanden war, es herrschten die „Politiken der Freundschaft“. Auf der anderen Seite fällt aus dem Publikum das Wort „Selbstausbeutung“. Das Gedicht mit dem Titel „Ab ovo“, das Marggraf dann noch vorliest, greift, die organischen Übergänge des Körpers wieder auf, die Haut als Sinnbild der mehr oder weniger durchlässigen Grenzschicht zwischen dem Körper und dem Außen.
Immer wieder werden an dem Abend Gewissheiten und Allgemeinplätze auch torpediert. „Die Übersetzerin als elende Verräterin“ heißt das Gedicht von Odile Kennel, das sie zusammen mit der „wilden Übersetzung“ des chilenischen Dichters Rodrigo Rojas vorliest. Dabei nimmt der Übersetzer, der des Deutschen gar nicht mächtig ist, mithilfe einer englischen Version seinen Ausgangspunkt beim Original, um dann vom Weg abzukommen und ein ganz eigenes Gedicht daraus zu machen. „‚Translate´ meinte zu elisabethanischer Zeit auch sterben“, schreibt die argentinische Dichterin und Übersetzerin Mirta Rosenberg in ihren lyrischen Essays „Dichtung übersetzen“, die in der alba07 erschienen sind. Es ist ein Sterben des Ursprungsgedichts, doch es ersteht in neuer Form auf und lebt weiter als Wesen, mit dessen Unterstützung wir den Schreckgespenstern der Gegenwart vielleicht ein Stück weit die Stirn bieten können.