Schenkt Lyrik!

Wir lesen viel zu wenig Lyrik, dabei ist sie eine der aufregendsten Gattungen überhaupt. Zeit also, dass sich das ändert. Zum Winteranfang empfehlen wir sechs Lyrikbände zum Verschenken. Von , und

Love. Her. Wild.

Wer Lyrik ver­schen­ken will, hat eine abwechs­lungs­rei­che Aus­wahl – denn Lyrik ist nicht gleich Lyrik und wenn man genau schaut, fin­det man für jeden etwas Pas­sen­des. In Buch­hand­lun­gen ist dem Gen­re meist, wenn über­haupt, nur ein klei­nes Regal gewid­met, und doch ist gera­de die Poe­sie beson­ders viel­fäl­tig und auch wan­del­bar. Dass sogar Platt­for­men wie Insta­gram lyrik­fä­hig sind, beweist @atticuspoetry. Als Geschich­ten­er­zäh­ler und Beob­ach­ter glei­cher­ma­ßen, der das Meer, die Wüs­te und Wort­spie­le liebt – so wird Atti­cus in sei­nem Buch Love. Her. Wild. – Gedich­te und Noti­zen beschrie­ben. Er gehört zu den bekann­tes­ten Insta­gram-Poe­ten und mit sei­nen 1,3 Mil­lio­nen Fol­lo­wern erreicht er deut­lich mehr Men­schen als die meis­ten Lyrik-Preis­trä­ger. Die Times nennt ihn sogar „den Byron der Gene­ra­ti­on Insta­gram“:

Ein Mäd­chen
im Mond­licht,
kei­ne Ausflüchte
und jeder
wird unwei­ger­lich
zum Dich­ter.

Sei­ne Gedich­te hat Atti­cus 2017 auch in der tra­di­tio­nel­len Buch­form her­aus­ge­bracht, illus­triert mit zahl­rei­chen schwarz-weiß Foto­gra­fien mit hohem Kon­trast. Der Sin­ger-Song­wri­ter Kili­an Unger, ali­as Liann, hat die Tex­te ins Deut­sche über­tra­gen und zeigt, dass die sonst so oft auf Eng­lisch zitier­ten und geteil­ten Gedich­te und Sprü­che auch auf Deutsch wir­ken.-FM

Atticus/Kilian Unger: Love. Her. Wild. bold 2019, 240 Sei­ten, 16 €

Ber­lin Hamlet

Über­set­zun­gen unga­ri­scher Lyri­ker über­flu­ten nicht gera­de den deutsch­spra­chi­gen Buch­markt. Einer der bedeu­tends­ten unga­ri­schen Schrif­stel­ler ist der 2014 durch Sui­zid ver­stor­be­ne Szilárd Bor­bé­ly. Die deut­sche Aus­ga­be sei­nes Gedicht­ban­des Ber­lin Ham­let,  über­setzt von Hei­ke Flem­ming, beinhal­tet zudem das spä­te­re Werk Lei­chen­prunk. Die Gedich­te in Ber­lin Ham­let sind die Reflek­tio­nen eines Man­nes, der durch Ber­lin der Neun­zi­ger­jah­re fla­niert. Dazwi­schen mischen sich Abschnit­te mit Zita­ten aus Shake­speare-Sonet­ten, Wal­ter Ben­ja­mins Pas­sa­gen-Werk und Kaf­kas Brie­fen an die Ber­li­ne­rin Feli­ce Bau­er. Durch den vie­len deut­schen Lese­rin­nen und Lesern ver­trau­ten Schau­platz Ber­lin ver­gisst man schnell, dass es sich um eine Über­set­zung aus dem Unga­ri­schen han­delt. Nur gele­gent­lich unter­stri­che­ne Wor­te – was kenn­zeich­net, dass der Begriff auch im Ori­gi­nal auf Deutsch stand – erin­nern dar­an, dass es der Blick eines Men­schen auf eine frem­de Stadt ist, der viel­leicht gera­de des­halb umso genau­er ist. In einem bio­gra­phisch und lite­ra­tur­wis­sen­schaft­lich inter­es­san­ten Nach­wort erklärt die Über­set­ze­rin, war­um Ver­gäng­lich­keit so ein wich­ti­ges Motiv ist und wie Bor­bé­ly, selbst auch Lite­ra­tur­his­to­ri­ker, mit­tel­al­ter­li­che und baro­cke lite­ra­ri­sche Tra­di­tio­nen neu ver­ar­bei­tet.-FM

Szilárd Borbély/Heike Flem­ming: Ber­lin Ham­let. Suhr­kamp 2019, 201 Sei­ten, 24 €

Allí : Hier

Wer sich schon ein­mal für län­ge­re Zeit im Aus­land auf­ge­hal­ten hat oder gar dort auf­ge­wach­sen ist, kennt den Moment des Über­gangs, wenn einem plötz­lich das ver­meint­lich Frem­de nicht mehr ganz so fremd und das ver­meint­lich Eige­ne nicht mehr ganz so selbst­ver­ständ­lich erscheint. Vie­le ver­su­chen die­sen Moment wort­reich in Tage­bü­chern oder Blogs fest­zu­hal­ten, ande­re schie­ßen Fotos. Aber so wie von der Illus­tra­to­rin und Dich­te­rin Car­men José ist mir das Eigen­tüm­li­che die­ses Zwi­schen-Daseins noch nie vor Augen geführt wor­den. In ihrem Buch Allí : Hier, einem gewis­ser­ma­ßen drei­spra­chi­gen spa­nisch-deutsch-gra­fi­schen Gedicht, spielt sie vir­tu­os mit den Bedeu­tungs­ebe­nen und ‑eigen­hei­ten ihrer drei Medi­en, um von der Frem­de, vom Rei­sen und von Zuhau­se zu erzäh­len. „estoy am wach­sen / no dejo de irme / immer am wei­ter­ge­hen“ – so klingt der Dri­ve, die Fas­zi­na­ti­on, aber auch die Ver­lo­ren­heit des neu­en, grenz­über­schrei­ten­den „Euro­pa, wie / quién eres“. Eine mit­rei­ßen­de Sprach- und Bil­der­rei­se für alle, die sich in ihrem Zuhau­se nicht zu Hau­se und in der Frem­de nicht fremd füh­len – dank Wör­ter­buch im Anhang auch ohne Spa­nisch­kennt­nis­se zugäng­lich.-FP

Car­men José: Allí : Hier. Roto­pol 2016, 80 Sei­ten, 18 €

Gesell­schaft für Flugversuche

Mit der ste­tig wach­sen­den Prä­senz Chi­nas auf der Büh­ne der inter­na­tio­na­len Poli­tik und Wirt­schaft steigt auch das öffent­li­che Inter­es­se an Chi­na. Das Inter­es­se deut­scher Buch­ver­la­ge an Über­set­zun­gen aus dem Chi­ne­si­schen hat damit aber bis­her nicht Schritt gehal­ten. Die Lyrik, die zeit­ge­nös­si­sche zudem, hat es unter die­sen Umstän­den beson­ders schwer, und das, obwohl die­se Gat­tung in Chi­na doch wei­ter ver­brei­tet ist als hier­zu­lan­de. Eine ein­sa­me Kämp­fe­rin auf die­sem Gebiet ist die Dich­te­rin und Über­set­ze­rin Lea Schnei­der, die 2016 die Antho­lo­gie „Chi­n­a­box“ her­aus­gab und nun im Han­ser Ver­lag gemein­sam mit Dong Li eine Art Retro­spek­ti­ve des Dich­ters Zang Di ver­öf­fent­licht hat. Die­se bie­tet eine fas­zi­nie­ren­de Tour de Force durch ein gigan­ti­sches, welt­um­fas­sen­des poe­ti­sches Werk, das sich aus der Lite­ra­tur­ge­schich­te eben­so speist wie aus chi­ne­si­scher All­tags­er­fah­rung und in dem „Camus in einem Brom­beer­jo­ghurt“ eben­so sei­nen Platz hat wie Spi­nat in den „staat­lich fest­ge­leg­ten fünf­zig / Stan­dard­wohn­raum­qua­drat­me­tern“. Wenn man den kolo­nia­len Reflex ablegt, sich bei jedem Text gleich zu fra­gen, ob hier das „typisch Chi­ne­si­sche“ zu fin­den sei oder gar, noch schlim­mer, poli­ti­sche „Anspie­lun­gen“, dann eröff­net Zang Dis Welt­blick in Lea Schnei­ders und Dong Lis Spra­che so man­che fas­zi­nie­ren­de Nah- und Fern‑, bis­wei­len sogar Hell­sicht. Und wenn es dun­kel wird, dann kon­sta­tie­ren wir, wie im Gedicht „Nachts vor dem Kon­su­lat. Eine Ein­füh­rung“:

Die Nacht ist nicht mehr als eine Gren­ze der Sprache,
und abge­se­hen davon geht es uns wie jedem Gedicht:
Über wei­te­re Wahr­hei­ten ver­fü­gen wir nicht.

-FP

Zang Di/Lea Schneider/Dong Li: Gesell­schaft für Flug­ver­su­che. Han­ser 2019, 104 Sei­ten, 19 €

Mad­da­le­na

Die ita­lie­ni­sche Dich­te­rin Dona­ta Ber­ra schreibt Lyrik, die nicht immer sofort ver­ständ­lich ist – die schlimms­te Form der Lyrik also, die Gene­ra­tio­nen von Schü­le­rin­nen und Schü­lern seit jeher zum Zit­tern bringt. Dabei lehrt uns eine sol­che Lyrik eini­ge wich­ti­ge Lek­tio­nen: Zum einen, dass die Welt nicht auf den ers­ten Blick zu ver­ste­hen ist, auch wenn wir das gern  hät­ten. Zum ande­ren, dass das Spiel mit der Spra­che die Sinn­haf­tig­keit hin und wie­der in den Schat­ten stel­len darf. Das Expe­ri­men­tel­le, das Klang­vol­le steht in Dona­ta Ber­ras Gedich­ten im Vor­der­grund und wird von ihrem Über­set­zer Chris­toph Fer­ber stil­si­cher ins Deut­sche über­tra­gen. Ber­ras und Fer­bers Lyrik, die man in der zwei­spra­chi­gen Aus­ga­be im direk­ten Ver­gleich erle­ben darf, soll­te man am bes­ten wie Scho­ko­la­de auf der Zun­ge zer­ge­hen lassen:

Dim­me­lo dam­me­lo ombra di Vico
dam­me­lo mol­le mor­bi­do fico
sot­to le rose pro nupta prone
fam­mi i galit­ti del­le parole.
Sag’s mir, verrat’s mir, Schat­ten von Vico,
gib sie mir, fruch­ti­ge, frisch-feuch­te Feige,
unter dem Rosen­strauch pro nupta liegend,
kitz­le mit Wör­tern mich, Wör­tern die kitzeln.

Fast schon neben­bei ent­steht durch Bil­der wie „frisch-feuch­te Fei­ge“ oder „ein Kon­zert von Oran­gen­blü­ten“ ein spe­zi­fisch ita­lie­ni­sches Flair, das den deut­schen Lese­rin­nen und Lesern den kal­ten Win­ter ver­kür­zen dürf­te. Die Dich­te­rin ist übri­gens auch eine preis­ge­krön­te Über­set­ze­rin – aus dem Deut­schen.-JR

Dona­ta Berra/Christoph Fer­ber: Mad­da­le­na. Lim­mat Ver­lag 2019, 144 Sei­ten, 38 €

Jetzt noch ein Gedicht, und dann aus das Licht!

Kin­der pfle­gen einen ande­ren Umgang mit Spra­che als wir Erwach­se­nen. Frei­er, muti­ger und unge­stü­mer las­sen sie mit blo­ßen Wör­tern neue Wel­ten ent­ste­hen, ohne die Gren­zen am Hori­zont zu sehen, die uns Erwach­se­ne oft davon abhal­ten, sich eben­so spie­le­risch mit unse­rer Spra­che zu beschäf­ti­gen. Der von dem ame­ri­ka­ni­schen Dich­ter Kenn Nes­bitt her­aus­ge­ge­be­ne Gedicht­band Jetzt noch ein Gedicht, und dann aus das Licht! ist somit nicht nur ein Geschenk für Kin­der, son­dern auch für ihre abge­stumpf­ten Eltern und Ver­wand­ten, die mit Lyrik nicht viel am Hut haben. Mit Ver­ve und Fein­ge­fühl ver­wan­deln die Gedich­te die tri­vi­als­ten Gegen­stän­de und Ereig­nis­se (es gibt unter ande­rem ein Gedicht über Socken) in magi­sche Objek­te und bedeut­sa­me Momen­te. 114 deutsch­spra­chi­ge Autoren und Autorin­nen, dar­un­ter Dani­el Kehl­mann und Nora Bossong, haben die fan­ta­sie­vol­len und wit­zi­gen Gedich­te aus dem Ame­ri­ka­ni­schen über­tra­gen. Ent­stan­den sind dabei melo­di­sche und ein­gän­gi­ge deut­sche Pen­dants, die uns mit allen Mit­teln der Lyrik dar­an erin­nern, dass der bana­le All­tag etwas Wun­der­sa­mes hat – und dass Lyrik rich­tig Spaß machen kann.-JR

Kenn Nes­bitt (Herausgeber)/Christoph Nie­mann (Illus­tra­tor): Jetzt noch ein Gedicht, und dann aus das Licht! Han­ser 2019, 184 Sei­ten, 22 €

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