
Die Jakobsbücher
Olga Tokarczuk
Lothar Quinkenstein und Lisa Palmes
Polnisch
Księgi Jakubowe
Olga Tokarczuk nimmt uns mit auf Eine große Reise über sieben Grenzen, durch fünf Sprachen und drei große Religionen, die kleinen nicht mitgerechnet … so beginnt der Untertitel ihres knapp 1200-seitigen Opus Magnum Die Jakobsbücher. Die frisch gebackene Literaturnobelpreisträgerin wandelt auf den Spuren des polnischen Mystikers Jakob Frank, einer der bedeutendsten Figuren des 18. Jahrhunderts, und verwebt dabei historische Fakten raffiniert mit phantasievoller Ausschmückung.
Der echte Jakob Joseph Frank wurde als Ja’akow Josef ben Jehuda Lejbin in Podolien (einem historischen Gebiet in der heutigen südwestlichen Ukraine) geboren, verließ als junger Mann seinen Geburtsort Korolówka und reiste ins Osmanische Reich, wo er bald als neuer Messias auftrat, die Lehren des orthodoxen Judentums verwarf und zahlreiche Anhänger um sich scharte. Im Roman wird Jakob Lejbowicz schon in jungen Jahren der „Weise Jakob“ genannt, als Auserwählter soll er die osteuropäischen Juden aus ihrem Elend erlösen: „Wir brauchen jemanden, der uns in allem unterstützt, der uns aufrecht hält. Keinen Rabbiner, keinen Weisen, keinen Reichen, keinen Krieger. Wir brauchen einen starken Mann, der aussieht wie ein Schwächling, jemanden ohne Furcht. Er wird uns hier hinausführen.“
Und so reist Jakob über sieben Grenzen von der Rzeczpospolita Polen-Litauen durch das Osmanische Reich, das Habsburgerreich, Preußen, das Königreich Böhmen, Mähren bis ins Heilige Römische Reich Deutscher Nation, durch fünf Sprachen (eigentlich sind es noch viel mehr) und drei große Religionen (im Osmanischen Reich tritt er vom Judentum zum Islam über, später lassen er und seine Anhänger sich christlich taufen). Im Osmanischen Reich erhält er den Nachnamen Frank, mit dem dort Fremde bezeichnet werden. Der neue Name gefällt ihm, denn, wie ein zentraler Satz des Romans lautet: „Fremd zu sein bedeutet frei zu sein.“
Pünktlich zur Verleihung des Nobelpreises an Tokarczuk erschien im Oktober 2019 die deutsche Übersetzung der Księgi Jakubowe (2014). Die Jakobsbücher sind nach Ludwik Hirszfelds Geschichte eines Lebens die zweite gemeinsame Übersetzungsarbeit von Lisa Palmes (Karl-Dedecius-Preis 2017) und Lothar Quinkenstein (Jabłonowski-Preis 2017 und Spiegelungen-Preis für Lyrik 2017).
Der Deutschlandfunk Kultur lobt etwas herablassend, die Übersetzer des „fulminanten“ Romans „erledigten die Fleißarbeit exzellent“. Fleiß gehörte sicherlich auch dazu, wie das vom Deutschen Übersetzerfonds herausgegebene TOLEDO-Journal zeigt, in dem die beiden ihre Arbeit ausführlich dokumentieren. Ebenso wie die Autorin haben Palmes und Quinkenstein extrem viel Zeit auf die Recherche verwendet. Sie wälzten zeitgenössische polnisch- und deutschsprachige Literatur, um die historischen Hintergründe zu erarbeiten, durchforsteten das Grimmsche und Adelungsche Wörterbuch sowie einschlägige Belletristik. Das Ergebnis dieser umfangreichen Lektüre ist beeindruckend. Der Roman strotzt von anschaulichen Beschreibungen, sei es das Muster auf dem kostbaren Atlasstoff eines Kleides, die alle Sinne ansprechende Warenvielfalt auf dem Markt oder die Bauweise der ärmlichen Lehmkaten im Dorf – all das verrät nicht nur den genauen Blick der Autorin fürs Detail, sondern auch die akribische sprachliche Vorbereitung der Übersetzer.
Durch hie und da eingestreute altmodische Ausdrücke versetzen sie uns sanft ins 18. Jahrhundert, ohne altbacken zu klingen: Ein Mädchen namens Malka ist „einem argen Haderlumpen versprochen“; am Markttag in Rohatyn gehen zwischen den hoch mit Kornsäcken und Federvieh beladenen Bauernwagen „wackeren Schrittes“ die Händler mit ihren Kramladen, in denen sie „bunte Stoffe feilbieten …“; und über die sterbenskranke Jenta heißt es:
Zwei Tage waren sie unterwegs, der Wagen rüttelte zum Erbarmen, doch Jenta litt es gut. Sie schliefen bei Verwandten in Butschatsch, am nächsten Morgen ging es in aller Frühe weiter. In einen solchen Nebel gerieten sie, dass den Hochzeitsgästen ganz bang werden wollte, und da erst begann die alte Jenta zu ächzen und zu klagen, als wollte sie die Aufmerksamkeit der restlichen Gesellschaft erheischen.
Gleichklänge tragen uns durch die Erzählung, die sich wie ein gemächlicher Fluss durch die Landschaft Podoliens wälzt:
In Gärten, die kaum die Größe einer ausgebreiteten Kapote erreichen, rundet mit Mühe sich der Kohl, klammern sich Möhren an die karge Krume.
Bei aller Gemächlichkeit wird man beim Lesen langsam, aber sicher in den Strom der Erzählung hineingesogen und immer weiter in das Leben des 18. Jahrhunderts versetzt. Bildhafte Vergleiche tragen entscheidend zur Atmosphäre bei:
Benedykt Chmielowski, der Dechant von Rohatyn, begreift jetzt auch, woher das seltsame Gefühl rührte, er schlafe noch – der Nebel, der ihn umgibt, hat die Farbe seiner Bettwäsche; ein eingetrübtes Weiß, schon heimgesucht vom Schmutz, den Schattierungen aus den unermesslichen Vorräten an Grautönen, die das Unterfutter der Welt bilden.
Verfremdend wirkt die Übersetzung, wenn sie die klassische Thema-Rhema-Gliederung durchbricht. Slawische Sprachen sind in ihrer Satzstruktur sehr flexibel, und auch im Deutschen sind Inversionen möglich, hier klingen die unerwarteten Wortstellungen allerdings stärker wie Synkopen, die den Text gegen den Strich bürsten. Der Lesefluss erhält dadurch einen eigentümlichen, leicht stockenden Rhythmus, der einen dazu bringt, sich umso mehr auf das Geschilderte zu konzentrieren. Oft erhalten so Adjektive eine besondere Betonung:
Länglich ist das Gesicht dieses Frank, die Haut recht hell für einen türkischen Juden, unebenmäßig, vor allem die Wangen sind bedeckt von kleinen Mulden, die wie Narben anmuten, als wäre es die Spur von etwas Üblem, als hätte ein Feuer sie versehrt in einer fernen Vergangenheit. Etwas Beunruhigendes hat dieses Gesicht, denkt Moliwda, und doch – es flößt Respekt ein, ob man will oder nicht, und undurchdringlich ist Jakobs Blick.
Die polnisch-habsburgische Verflechtungsgeschichte (Galizien gehörte ab 1772 zu Österreich) verleiht der Übersetzung der Jakobsbücher ins Deutsche einen zusätzlichen Reiz. Palmes und Quinkenstein gingen in Wörterbüchern und bei Autoren wie Joseph Roth und Soma Morgenstern gezielt auf Vokabelsuche, um das typisch „österreichisch-habsburgische“ Kolorit einzufangen. Durch Beibehaltung von Realien muten sie den Leserinnen und Lesern durchaus auch Fremdes zu. Doch dass es bei „Reisekuffern“ um Koffer geht, „Babka“ die Großmutter ist und „kaffa“ der Kaffee, dass „unter die Chuppa kommen“ soviel wie „unter die Haube kommen“ bedeutet und der „dampfende Barszcz“, der den Gästen serviert wird, die polnische Variante des bekannteren Borschtsch sein muss, erschließt sich mühelos aus dem Kontext. Anderes, wie die lateinischen Wendungen von Pater Benedykt oder der Spitzname eines Lehrers – wegen seiner weißen Haut und hellen Haare wird er nach dem polnischen Wort für saure Sahne (smetene) „Smetankes“ genannt – wird erklärt. Noch andere Wörter, wie „Britschka“ oder „Starost“, bleiben für Leserinnen und Lesern ohne slawische Sprachkenntnisse vermutlich unklar, und um welches modische Accessoire es sich bei „weichen osmannischen Lederbabuschen“ handelt, kann man nur raten.
Doch diese unbekannten Wörter tragen eben zur Heraufbeschwörung fremder Welten bei – und warum sollte es uns besser ergehen als den Menschen im Osmanischen Reich oder in der polnisch-litauischen Rzeczpospolita? Schließlich herrschte dort schon damals eine geradezu babylonische Sprachverwirrung: Auf der Straße hörte man Polnisch, Ruthenisch, Russisch und Jiddisch, die gebildeteren Schichten würzten ihre Reden mit französischen Phrasen, die jüdischen Gelehrten lasen hebräische Bücher (übrigens sind auch die Seiten des Romans wie im Hebräischen rückwärts nummeriert), und Geistliche wie Pater Benedykt durchsetzten ihr gedrechseltes Polnisch derart mit lateinischen Ausdrücken – „Nun, das war simpliciter ein Moment … wie soll ich sagen … nolens volens konnte ich dem Wohlergehen der werten Kastellanin einen Dienst erweisen …“ -, dass wohl selbst die eigenen Landsleute ihre liebe Mühe hatten, den Ausführungen zu folgen. Im Osmanischen Reich wurde in einer Mischung aus Türkisch, Hebräisch, Ladino und Griechisch gefeilscht, gehandelt, getändelt, gestritten und über die großen Fragen des Lebens philosophiert, und dass auch im Roman nicht jeder jedes Wort seiner Gesprächspartner versteht, ist ganz normal.
Und als wäre das noch nicht genug, arbeitet Tokarczuk auch noch mit stetig wechselnden Erzählperspektiven: Mal erleben wir das Geschehen aus Sicht des ebenso gelehrten wie weltfremden katholischen Priesters Benedykt Chmielowski, mal schweben wir mit der allwissenden alten Jenta (die wegen einer verschluckten hebräischen Beschwörungsformel weder leben noch sterben kann) unsichtbar darüber, mal sehen wir die Welt ganz nüchtern durch die Augen der polnischen Gesellschaftsdame Frau Drużbacka, dann wieder prophetisch-verklärt in den (von ihm selbst „Resten“ genannten) Aufzeichnungen von Nachman Samuel ben Lewi, einem der eifrigsten Anhänger Jakobs. Die polyphone Struktur – der Hauptteil des Erzähltextes ist gegenwartssprachlich gehalten und nur durch Verwendung einzelner Vokabeln zeittypisch koloriert, während einige integrierte Briefe in deutlich archaisierendem Polnisch verfasst sind – wird auch in der Übersetzung deutlich herausgearbeitet.
Quinkenstein und Palmes experimentierten mit Wörtern, variierten Zeit- und Satzstrukturen, bis sie zu einer Fassung gelangten, die nicht nur sie, sondern auch die Leserinnen und Leser klanglich und rhythmisch absolut überzeugen dürfte. Nach eigener Aussage „erlangte die Arbeit eine Intensität und Effektivität, die die schlichte Summe des ‚eins plus eins‘ bei weitem überstiegen.“ Das Resultat sieht man an der Gegenüberstellung eines ersten, noch sehr nahe am Original befindlichen Entwurfs mit der fertigen Druckfassung (es geht um die Hochzeitsnacht von Jakob und Chana):
In der ersten Nacht schon wurde die Ehe konsumiert, so jedenfalls rühmte sich der Gatte, und das mehrere Male; sie fragt niemand. Verwundert darüber, wie der zwölf Jahre ältere Ehemann in die schläfrigen Rabatten ihres Körpers eindrang, schaut sie in die Augen der Mutter und der Schwestern. So also ist das?In der ersten Nacht schon wurde die Ehe konsumiert, und das – so jedenfalls rühmte sich der Gatte – gleich mehrere Male. Was die Braut dazu zu sagen hatte? Niemand bat sie um ein Urteil. Wie der zwölf Jahre ältere Ehemann die schläfrigen Rabatten ihres Körpers zerpflügte, das ließ sie in bassem Erstaunen zurück. Fragend blickte sie in die Augen der Mutter und der Schwestern. So also sieht das aus?“
Das intensive gegenseitige Lektorat schon im Übersetzungsstadium merkt man ihren Jakobsbüchern, in denen die Möglichkeiten der deutschen Sprache voll ausgeschöpft werden, deutlich an. Zu Recht gibt es also vom Deutschlandfunk ein dickes Lob für die Übersetzer, sie hätten bei der Übertragung der Jakobsbücher „fast ein Wunder vollbracht“. Für die Lektüre braucht man Geduld und Muße, aber wer sich die Zeit nimmt, wird mit einem breitgefächerten historischen Panorama belohnt, das ein neues Licht auf die polnische Geschichtsschreibung wirft und uns – ganz im Einklang mit dem Ende des Untertitels: den Klugen zum Gedächtnis, den Landsleuten zur Besinnung, den Laien zur erbaulichen Lehre, den Melancholikern zur Zerstreuung – mit klugen Beobachtungen und neuen alten Wörtern beschenkt.
Drei Fragen an Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein
Warum sollte man diese Übersetzung gelesen haben?
Die Geschichte Jakob Franks – sein Leben, seine Lehren, die Biographien seiner Anhängerschaft – stellen ein bedeutendes Kapitel jüdischer – und damit europäischer – Geschichte dar. Indem Olga Tokarczuk diese Geschichte zur „Hauptsache“ macht, rückt sie die so oft aus nationalstaatlicher Perspektive marginalisierte jüdische Geschichte an jene zentrale Stelle, an der sie in Mitteleuropa ihre Lebenswelt hatte, bevor der deutsche Vernichtungsantisemitismus diese Kultur nahezu völlig auslöschte.
Mit den Jakobsbüchern taucht die Leserin/der Leser in einen Kosmos ein, der nur scheinbar weit entfernt liegt – denn wenn der Roman auch mit zahllosen Details in den Landschaften und der Epoche seiner Handlung verhaftet ist, weist er doch zugleich weit über diese hinaus. Er ist „historisch“ und universal zugleich – er erzählt vom Menschen, seinem Denken, seinem suchenden Bemühen, das Leben auf eine Erlösung hin zu entwerfen – von der Sehnsucht, die Unvollkommenheiten der Welt und die Einsamkeit des Menschen in ihr möchten sich „dereinst“ in Geborgenheit verwandeln.
Welchen Aspekt des Originals konnten Sie nicht ins Deutsche bringen?
Eine große Schwierigkeit stellen für die Übersetzung die Anredeformen dar. Die polnische Adelskultur der alten Rzeczpospolita hat ein wahres Füllhorn an Anredeformen entwickelt, wobei dann häufig durch modifizierende Varianten derselben Form noch weitere Facetten gewonnen werden können – das ist im Deutschen bestenfalls andeutungsweise wiederzugeben. Hier musste die Übersetzung zwangsläufig „nüchterner“ klingen – wir haben versucht, das durch weitere Farbtupfer – zum Beispiel in den Briefen – ein wenig auszugleichen.
Was haben Sie persönlich aus der Übersetzungsarbeit gelernt?
Die Versuchung ist groß, auf diese Frage mit Zitaten aus dem Roman zu antworten … die sich am Ende zu ganzen Kapiteln fügen würden …
Der Roman hat eine ganz eigene Atmosphäre, die auch in etlichen Rezensionen schon zur Sprache kam. Vor allem ist es ein zutiefst menschliches, ja – ein zärtliches Buch, erzählt von eben jenem „liebevollen Erzähler“, den Olga Tokarczuk in ihrer Nobelpreisrede so programmatisch entwirft. „Nebenbei“ – so möchte man fast sagen – lernt man auch noch etwas über die Geschichte des Judentums in Mitteleuropa. Vor allem aber erfährt man so unendlich viel über den Menschen. Um es so einfach wie möglich auszudrücken: Nach dieser Übersetzung sehen wir die Welt mit anderen Augen.