Vorweg: Dieser Roman von Aksel Sandemose, der erste, den der gebürtige Däne nach seiner Übersiedlung nach Norwegen, dem Heimatland seiner Mutter, auf Norwegisch schrieb, ist in allen skandinavischen Ländern ein Klassiker. Selbst, wer ihn nie gelesen hat, kennt „Janteloven“, das Gesetz von Jante. Jante ist die fiktive Kleinstadt in Dänemark, in der die Romanhandlung angesiedelt ist (das Vorbild Nykøbing Mors ist leicht zu erkennen). Das Gesetz von Jante beschreibt alles, was man nicht tun darf, sonst gibt es Gerede, und Gerede führt zu Schikanen und Mobbing. Im Grunde lässt es sich so zusammenfassen: „Da könnte ja jeder kommen!“
Dass es eine gewaltige Herausforderung ist, Aksel Sandemose zu übersetzen, wusste ich von Anfang an – und mein erster Impuls war natürlich, diese Zumutung weit von mir zu weisen. Erinnerungen an Studienzeiten kamen auf, der überlebensgroße Sandemose mit seinen Büchern, die niemandem mehr aus dem Kopf gehen, wenn man sie einmal gelesen hat – wie „Der Werwolf“ -, wenn auch manche komplett unbegreiflich sind, so dass ich auch nach mehrfachem Lesen nicht hätte sagen können, wovon sie handeln – wie „Felicias Hochzeit“. Nun also dieses Hauptwerk, in dem er das sprichwörtlich gewordene „Gesetz von Jante“ vorstellt?
Aber dann dachte ich an andere Bücher, die sehr schwer zu übersetzen waren, und das war ja auch gut gegangen. Und es gab doch die alte Übersetzung von Udo Birckholz, bei der ich im Notfall Trost und Inspiration suchen könnte. Bei Neuübersetzungen von Klassikern lese ich normalerweise die alten Übersetzungen immer erst, wenn ich meiner eigenen Fassung den letzten Schliff gebe – aus Angst, dass irgendeine Formulierung aus der ersten Übersetzung bei mir haften bleibt und sich in meinen Text einschmuggelt, wo sie eigentlich nichts zu suchen hat.
Dann ging es los mit der Übersetzungsarbeit. Und die Stolpersteine häuften sich:
Sandemose liebt Wiederholungen als Stilmittel, und so sehr es mir manchmal in den Fingern juckte, hier und da eine zu streichen: Ich habe sie behalten, um möglichst den O‑Ton wiederzugeben. Er hat überhaupt kein System darin, ob er Zahlen ausschreibt oder in Ziffern wiedergibt, und er streut gern englische Wörter ein, was zu seiner Zeit im Norwegischen überhaupt nicht üblich war („up to date“). Ebenso liebt er abrupte Zeitenwechsel und Abkürzungen – so schreibt er grundsätzlich „usw.“ und „z.B.“ Und irgendeine Logik, nach der er wörtliche Rede mal in Anführungszeichen setzt und dann wieder nicht, ist auch nicht auszumachen.
Das alles sind stilistische Dinge, bei denen die Entscheidung eben darum ging, ob behalten oder zur besseren Lesbarkeit ändern. Wobei mir der Verlagslektor eine große Hilfe war. Da er das Original nicht lesen konnte, reagierte er sehr viel empfindlicher auf Stolpersteine als ich. Doch wenn ich auch zwischendurch das Gefühl hatte, dass manche Stolpersteine verhältnismäßig leicht aus dem Weg zu räumen waren, so ist Ein Flüchtling kreuzt seine Spur doch ein verdammt schwieriger Text, darüber sind sich alle Experten einig. Viele Stellen sind unklar, so formuliert, dass nicht deutlich wird, wer hier gerade spricht, oder was eigentlich gemeint ist. Allerdings, da der Autor selbst die erste Fassung seines Romans vollkommen überarbeitet und teilweise stark verändert hat, können wir doch davon ausgehen, dass er es so unklar haben will? Dachte ich, auch das war also immerhin ein Trost.
Wenn sich die Sandemose-Forschung nicht einig werden kann, was wie zu verstehen ist, dann soll es vielleicht nicht zu verstehen sein? An Stellen, wo der Autor sich irrt, ist auch nicht klar, ob das wirklich ein Irrtum ist. Es juckt dann zwar in den Fingern, kurz ein bisschen zu korrigieren, aber ich glaube, das wäre falsch. So ein Irrtum ist z.B. eine Stelle, wo er über Konfirmation/Kommunion sinniert und meint, die katholische Kirche mache das schon richtig, da sie seit altersher die Kinder mit zehn Jahren zur Kommunion gehen lässt. Doch als Sandemoses Romanfigur Espen Arnakke diese Überlegung anstellte, war die frühe Erstkommunion noch ein sehr junger Brauch, sie wurde erst von Pius X eingeführt, der von 1903 bis 1914 Papst war. Was allerdings bei genauerem Hinsehen an Espen Arnakkes Überlegungen nicht viel ändert – und so war es bestimmt richtiger, es so stehen zu lassen.
Etwas, womit Udo Birckholz sich nicht herumzuschlagen brauchte, sind die neueren Entwicklungen in der Sandemose-Forschung, vor allem Espen Haavardsholms wegweisende Biographie. Sandemose, der sich mehrmals im Leben neu erfunden hat und ein großer Inszenator seiner selbst war, hat immer angedeutet, dass er Espen Arnakke ist, dass es den Mord, den seine Romanfigur in einem Ort mit dem vielsagenden Namen Misery Harbor begeht, wirklich gegeben hat – dass eben der junge Seemann Sandemose und sein Espen Arnakke auch in diesem Punkt identisch sind.
Espen Haavardsholms Recherchen lassen Zweifel an dieser Darstellung aufkommen – gehörte der angebliche Mord in Misery Harbor etwa auch zur Inszenierung des Autors, ist er nicht geschehen? Und wenn es so ist, wie verhält es sich mit dem Romanhelden, weiß der Romanheld selber nicht, ob sein Opfer wirklich tot war oder sich vielleicht weiterhin bester Gesundheit erfreut? Hat er gar die ganze Szene erfunden, wie möglicherweise auch sein Schöpfer? Seit dieser Zweifel gesät worden ist, lesen alle das Buch anders. Espen Arnakke ist ein unzuverlässiger Zeuge, und an keiner Stelle behauptet er einwandfrei, dass sein Widersacher damals ums Leben gekommen ist. Diese Zweifel, diese Ambivalenz im Erzähltext, musste also in der Übersetzung erhalten bleiben – das musste ich jedenfalls versuchen.
Dabei konnte mir Udo Birckholz, der ja noch davon ausgehen konnte, dass der Mord in Buch und in Wirklichkeit gleichermaßen geschehen ist, nicht helfen. Auch sonst war er ehrlich gesagt keine große Hilfe. Ich weiß nichts über ihn, außer, dass er in der DDR gelebt und gearbeitet hat. Norwegischübersetzer aus der DDR hatten das Problem, dass sie selten oder nie nach Norwegen reisen durften, dass sie so gut wie nie Kontakt zu „echten“ Norwegern hatten, dass sie also mit der lebenden Sprache wenig in Berührung kamen. Aber erklärt das, warum in der alten Ausgabe des „Flüchtlings“ die oben erwähnten unklaren, in der Sandemose-Forschung umstrittenen Passagen einfach nicht vorhanden sind? Es fehlt an solchen Stellen dann abrupt ein Abschnitt oder auch nur ein Satz, danach geht die Erzählung weiter, als sei nichts geschehen.
Es gibt in der alten Übersetzung zudem kuriose Fehler, für die mir keine Erklärung einfiel – außer eben der, dass der Übersetzer vermutlich keine Möglichkeiten hatte, sich mit der gesprochenen Sprache vertraut zu machen. Und doch sind einige Fehler von der Sorte, dass man gleich Lust hat, interessante Theorien aufzustellen, wenn auch nicht so kühne wie die, zu denen Espen Arnakke neigt. So ein Beispiel ist die Szene, wo Espen vom Tanz mit einer „jungen Kommunistin“ schreibt. Das steht so im norwegischen Original. In der alten Übersetzung ist aus der jungen Kommunistin die „Tochter eines Kommunisten“ geworden (ein Anfall von Misogynie auf Seiten des Übersetzers, der sich nicht vorstellen kann, dass eine junge Frau eine politische Überzeugung hat?).
Oder die Lehrerin Fräulein Nibe, die der junge Espen abwechselnd hasst, verabscheut, verehrt und liebt. Wenn er sie hasst, bezeichnet er sie als „die Nibe“, wenn er sie liebt, ist sie „Fräulein Nibe“ – in der Übersetzung von damals ist sie durchgängig „Fräulein Nibe“ (autoritätshöriger Übersetzer, der es nicht über sich bringt, von einer Lehrerin despektierlich zu reden?).
In einer Szene machen die jungen Männer sich sonntags fein und stolzieren mit Melonen (gemeint sind die Hüte, Bowlerhats auf Englisch) auf dem Kopf durch den Hafen, um den Mädels zu imponieren. In der alten Übersetzung tragen sie „Schirmmützen“. Was sie ja die ganze Woche tun, Imponierfaktor also eher gering. Wenn schließlich Kommunisten und „Linksradikale“ aufeinander einschlagen, hat vermutlich eher ein gutes Wörterbuch gefehlt (gemeint ist die Partei Venstre, was wirklich wörtlich übersetzt „links“ bedeutet, aber diese Bezeichnung stammt aus dem dänischen Parteienspektrum im späten 19. Jahrhundert und es handelt sich um die damalige Bauernpartei, die schon zu Sandemoses Zeiten als rechts-liberal eingestuft werden musste, was die Prügelei natürlich viel plausibler macht).
Wenn ich oben das Gesetz von Jante so zusammenfasse: „Da könnte ja jeder kommen“, dann hat die maskuline Ausdrucksweise durchaus seine Berechtigung (auch wenn sich „jede“ eher noch weniger erlauben dürfte als jeder). Sandemose schreibt konsequent in maskuliner Form, kein Versuch, genderneutral zu schreiben – zugegeben, das war zu seiner Zeit auch wenig üblich, aber bei zeitgenössischen norwegischen Autorinnen sind durchaus feminine Wortbildungen zu finden. Und er schreibt mehrmals, dass er hier eine männliche Sicht der Dinge widergibt, und wenn es auch interessant sein könnte, die weibliche Sicht zu hören, so übersteige das doch seine Fähigkeiten gewaltig. Die einzige feminine Wortbildung im ganzen Buch ist „Lehrerin“ („lærerinne“, die weibliche Form von „lærer“, also „Lehrer“), wenn von Fräulein Nibe die Rede ist, der geliebten und gehassten. Es war einerseits einfach, nur maskuline Formen zu verwenden, dann aber auch sehr fremd, und immer ertappte ich mich dabei, eine geschlechtsneutrale Form einschmuggeln zu wollen. Aber die wäre ja nicht im Sinne des Autors gewesen.
Eine einzige Änderung wurde nach ausgiebigen Beratungen mit dem Verlag vorgenommen. Der ältere Bruder der Romanfigur Espen Arnakke heißt Einer. Das ist eine regionale Variante des bekannteren Vornamens Einar und im Norwegischen absolut kein Problem, nur ein bisschen exotisch vielleicht. Im Deutschen aber? „Drei Männer gehen über die Straße. Einer hustet.“ (Ein willkürlich herbeizitierter Satz). Bruder Einer tritt ziemlich häufig auf, und wenn es in 99 Fällen gelingt, in der Übersetzung so zu formulieren, dass klar wird: Hier ist der Bruder genannt, der nun einmal Einer heißt, und nicht irgendeiner, der gerade etwas tut, allein und nicht zu zweit oder zu dritt – im hundertsten Fall ging es nicht, es sei denn, ich hätte einen ganzen Absatz umgeschrieben und um ausführliche Erklärungen erweitert, was wiederum den Fluss der Handlung aufgehalten hätte. Und so heißt Espen Arnakkes Bruder in der deutschen Fassung nun Einar.
Auf diese Weise war das Übersetzen ein doppeltes Abenteuer, einerseits die Bemühung, dem komplizierten und an Abgründen reichen Text Aksel Sandemoses einigermaßen gerecht zu werden, andererseits in der alten Übersetzung auf Entdeckungsreisen zu gehen. Wobei die kanonische Sandemose-Biographie des anderen Espen eine unschätzbare Hilfe war, das kann ich gar nicht genug betonen.
Gabriele Haefs, geboren in Wachtendonk/Niederrhein, studierte Volkskunde, Sprachwissenschaft, Keltologie und Nordistik an den Universitäten in Bonn und Hamburg. 1982 schloss sie ihr Studium mit einer volkskundlichen Dissertation an der Universität Hamburg ab. Sie lebt als Übersetzerin und literarische Gelegenheitsarbeiterin in Hamburg.
Foto: Miguel Ferraz
Aksel Sandemose/Gabriele Haefs: Ein Flüchtling kreuzt seine Spur (im norwegischen Original: En flyktning krysser sitt spor).
Guggolz Verlag 2019 ⋅ 608 Seiten ⋅ 28 Euro