Wir alle kennen sie seit unserer Kindheit, sie begleiten einen weiter als Schauergeschichten in der Jugend und letztendlich auch als Blutdruckerhöher im Erwachsenenalter. Die Rede ist von Monstern, Gespenstern oder übernatürlich schaurigen Wesen, die einen für kurze oder lange Zeit verfolgen. In ihren Darstellungsformen sind sie zwar alle verschieden, jedoch vereint sie das Motiv des Bösen, das von kulturellen und geschichtlichen Faktoren abhängt.
So auch der Ġūl (Ghul), der mir zum ersten Mal bei einer Analyse eines alt-arabischen Gedichts der vorislamischen Zeit begegnete und kurz darauf als Horrorserie bei Netflix. Dabei fiel mir die interessante Mischung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Darstellungsformen auf, und ich fragte mich, wo eigentlich der Ursprung dieses mythischen Wesens liegt und wie es sich kulturgeschichtlich seinen Weg in die westliche Welt gebahnt hat.
Der arabische Gelehrte Ahmed Al-Rawi führt den Ġūl mittels einer Quelle aus Mesopotamien auf den akkadischen Dämon Gallu zurück, der den Vegetationsgott Damuzi in den Tod geleitete. Durch den Handel arabischer Beduinenstämme mit den Mesopotamiern entstand ein kultureller Austausch, der auch solche Mythen und Sagen umfasste. Auf der arabischen Halbinsel taucht der Ġūl zunächst als Motiv in der vor- und frühislamischen Dichtung des 5.–7. Jahrhunderts n. Chr. auf. Er ist ein heimtückisches Wesen, das den Protagonisten vom sicheren Pfad der Wüste abbringen möchte, um ihn zu töten. Über diese offensichtliche Funktion – als personifizierte Gefahr des Weges – hinaus werden seine Merkmalseigenschaften als Sinnbilder übernommen. Diese sind abhängig von bestimmten Textabschnitten der damals vorherrschenden, polythematischen Gedichtform, der Qaṣīda (Qasida). Der Vergleich mit einem Ġūl ist jedoch je nach Geschlecht unterschiedlich. Bei der Geliebten kennzeichnet er eine hinterlistige Charaktereigenschaft, bei einem Mann dagegen Stärke oder Hässlichkeit.1 Der kulturelle Kontext einer Stammesgesellschaft, in der strikte soziale Hierarchien herrschten und Dichter einen hohen sozialen Rang bekleideten, darf hier nicht unterschätzt werden. Zudem war die mündliche Tradierungskultur ausschlaggebend für die Diversität und Entwicklung der Ġūl‑Darstellungen.
Mit dem Beginn des Islams gab es eine weit verbreitete Debatte über die Existenz des Ġūl, die eine damalige Verfestigung im Glauben an dieses Wesen widerspiegelt. Die Überlieferungen über die Aussprüche und Handlungen des Propheten Muḥammad sowie die Aussprüche und Handlungen Dritter, die vom Propheten gebilligt wurden, bezeichnet man als Ḥadīṯ (Hadith) und standen im Mittelpunkt der damaligen Diskussion. Hierbei stützten sich einige Autoritäten beispielsweise auf Überlieferungen Dritter, in denen der Prophet Muḥammad die Existenz des Ġūl nicht ausschließt. Allerdings gab es eine viel stärkere Gegenbewegung, wie die muslimische Gelehrtenschule Muʿtazila, die solche Quellen als nicht authentisch einstufte. Diese Klassifizierung der Quellen nach ihrer Authentizität hat zwar eine sehr hohe Gewichtung in der islamischen Tradition, jedoch nur eine begrenzte Auswirkung auf die weitere mündliche und schriftliche Tradierung des Mythos. Es gab interessanterweise auch Ansichten, die beide Thesen vereinten und schlussfolgerten, dass der Ġūl in vorislamischer Zeit gelebt und gewirkt hatte, jedoch mit dem Erscheinen des Islams verschwand.
In der frühislamischen Folklore wurden vielen historischen Persönlichkeiten tatsächliche Begegnungen mit einem weiblichen Ġūl nachgesagt. Eine dieser Erzählungen handelt von Omar (ʿUmar bin al-Ḫaṭṭāb; Zweiter islamischer Kalif), der auf dem Weg nach Syrien einem Ġūl in der Wüste begegnete, ihn durchschaute und mit einem Schwerthieb erschlug.2 Diese Geschichte ist repräsentativ für die arabisch-islamische Ġūl‑Folklore: Der Protagonist wird von einer schönen Frau zu einem einsamen Platz in der Wüste geführt, dort verwandelt sie sich in ein Monster und greift ihn hinterhältig an.
Nun haben wir einen Einblick in die kulturellen Ursprünge des Schauerwesens bekommen, wobei eine Frage immer noch ungeklärt bleibt und mir unter den Fingernägeln brennt: Wie wurde eigentlich zu jener Zeit das erschreckende und schlafraubende Erscheinungsbild des Monsters beschrieben?
Der Ġūl wurde als ein Wesen bezeichnet, dessen wahre Gestalt nicht immer von Anfang an sichtbar ist. Es kann ein grauenerregendes oder bezauberndes Aussehen annehmen und war dadurch eine versteckte und somit dauerhafte Gefahr für jeden Reisenden. Nach der Tradierung von Al-Abšīhī war der Ġūl ein so übernatürlich hässliches Wesen mit menschlichen Zügen, dass die Männer allein von seinem Anblick bewusstlos wurden.3 Es gibt jedoch auch weitere Darstellungen, wie die des ausgestoßenen Tieres:
[T]he ghūl is a freak animal, naturally defective, which has strayed from all other animals to take refuge in inaccessible deserts.4[D]er Ghūl ist ein Monstrum, ein von Natur aus missgestaltetes Tier, das sich von allen anderen Tieren weit entfernt hat, um in unzugänglichen Wüsten Zuflucht zu suchen.
Diese Beschreibung erlaubt eine Interpretation der gleichbleibenden Erscheinungsform des Ġūl und verändert auch die Ansicht der Wesensart – vom Bösen hin zum einsamen Ausgestoßenen. Neben diesen vielen verschiedenen Darstellungen gibt es auch hier eine Unterscheidung und Abgrenzung der Geschlechter des Ġūl. Die männliche Form und deren Art und Weise zu fressen, zu trinken und sich fortzupflanzen wird als widerlich beschrieben.5 Im Unterschied hierzu gibt es beim weiblichen Ġūl mehrere Persönlichkeiten, die alle das Motiv der Verführung repräsentieren. Unter ihnen gibt es jedoch einige, die durch bestimmte Merkmale eine klare Unterscheidung erlauben. Nach Ebrahimi6 zwingt die Al-Yaddār nach der Irreführung ihre Opfer zur sexuellen Interaktion, wobei die Siʿlāt7 als Einzige ihre Erscheinungsform nicht verändert. Die Siʿalwah8 ist die bekannteste Darstellung. Sie ist ein hässlicher Teufel, der sich in eine schöne Frau verwandelt, um Reisende zu verführen und letztendlich in den Tod zu schicken. Es steht allerdings fest, dass alle Figuren auf eine sexuelle und somit geschlechterspezifische Art die Reisenden von ihrem eigentlichen Vorhaben ab- und letztlich ums Leben bringen.
Der arabische Gelehrte Abū ‘Uthmān al-Ġāhiẓ (780- 869) schildert in seiner Tierenzyklopädie Kitāb al-Hayawān bestimmte Besonderheiten des Ġūl, so ritt dieser beispielsweise „auf Hasen, Hunden und Straußen”(„it rode on hares, dogs and ostriches”).9 Solche Schilderungen geben dem Ġūl einen aggressiven und unbändigen Charakter, der durch die Zusammenarbeit mit Tieren die gewaltige Kraft der Natur vermittelt. Er führt eine weitere Geschichte an, in der ein Mann einer Siʿalwah bei einer Geburt hilft, sie danach heiratet und mit ihr Söhne bekommt.10 Diese Erzählung stellt alles, was ich bisher über den Ġūl wusste, auf den Kopf. Es ist nicht nur eine 180 Grad-Wendung vom „Leben nehmen“ hin zum „Leben geben“, sondern auch ein extremer Gegensatz zur bisher beschriebenen Bös- und Andersartigkeit, durch das Motiv der Familie und Liebe. Das kaltblütige Monster aus der Wüste ist plötzlich eine warmherzige Mutter.
Die Vielfältigkeit der Darstellung innerhalb von fünf Jahrhunderten in nur einem (grob gefassten) Kulturraum ist beeindruckend. Es scheint fast, als wäre der Name „Ġūl“ ein reines Gefäß für jegliche Formen der Interpretation des Bösen, wobei immer eine bekannte Eigenschaft als Etikett an der Außenseite angebracht werden musste. Ob wenigstens jene Etiketten bis heute noch am Gefäß befestigt sind oder durch Übersetzungen und Adaptionen in neue kulturelle Räume umgetauscht wurden, sehen wir in der folgenden, kurz gefassten Übersetzungsgeschichte des Ġūl in die europäische Kultur.
Doch inwieweit ist es überhaupt möglich, ein solch altes und kulturell heterogenes Motiv zu übertragen, und welche Methoden eignen sich hierfür? Der emeritierte Professor für Klassisches Arabisch, Alan Jones, begegnet dem Problem der Übersetzbarkeit literarischer Motive beispielsweise mit einer kurzen, allerdings detaillierten, Definition des Ġūl in der Einleitung zu seinem Werk Early Arabic Poetry. Marāthī and Ṣuʻlūk poems.11 Darauf folgt eine wortgetreue Übersetzung des Gedichts – eine typische Herangehensweise der Linguistik. Bei der Übertragung eines kulturell so aufgeladenen Motivs kann die Methode der wortgetreuen Übersetzung zwar sehr hilfreich sein, allerdings ist die Voraussetzung hierfür nach der Übersetzungswissenschaftlerin Christiane Nord, „daß es nur ein objektives oder zumindest intersubjektives Verständnis vom Sinn oder von der Bedeutung geben kann.“12 Wie bereits festgestellt, ist dies beim Ġūl eher bedingt gegeben. Bei einer originalgetreuen Gedichtübersetzung geht auf Grund der fehlenden Bezüge zum kulturell relevanten Inhalt jener Zeit zu viel von der ursprünglichen Wirkung bei der Zielkultur verloren. Denn gerade in der Lyrik muss man sich vom Anspruch auf Objektivität befreien und für verschiedene Interpretationen offen sein, da diese einen festen Bestandteil der Wahrnehmung solcher Motive bilden. In welchem Kontext und mit welchem – wissenschaftlichen oder künstlerischen – persönlichen Anspruch man übersetzt, ist entscheidend für die Übersetzungsform und letztendlich für das Ergebnis. Somit steht die Zielsetzung des Übersetzers im Vordergrund. Durch sie ist es möglich, gewisse inhaltliche Kernpunkte zu definieren und zu bestimmen, in welcher Form diese in die Zielkultur umzusetzen sind.
Dies führt uns nun direkt zum französischen Orientalisten Antoine Galland, der in seinem Lebenswerk Les Mille et une nuits (dt. Tausendundeine Nacht, 1704–1717) zahlreiche Sagen und Mythen aus dem arabischen Raum kompilierte und mit der zeitgenössischen Methode der „belles infidèles“ übersetzte, also an den Geschmack der höfischen französischen Leserschaft anpasste. Hier taucht der Ġūl in „Die Geschichte von Sidi Nouma“ auf, wobei eine neue Eigenschaft beschrieben wird: Der Ġūl „geht manchmal nachts auf den Friedhof und ernährt sich von Leichen, die dort begraben liegen” („will sometimes go in the night into burying grounds, and feed upon dead bodies that have been buried there”).
Das mythische Wesen der arabischen Tradition erlebt hier einen Wandel zum Menschenfresser. Dieses grauenerregende Merkmal wurde zunächst von bedeutenden Gelehrten der folgenden Generationen wie William Lane (1801–1876) oder Victor Chauvin (1844–1913) adaptiert und etablierte sich so in der westlichen Literatur nach und nach als Haupteigenschaft. Zudem wurde das Wort „Ġūl“ ins Englische („ghoul“) und Französische („goule“) entlehnt. Die Charakterisierung als Menschenfresser ist nach Zoltan Szombathy dennoch keine Erfindung der westlichen Übersetzer*innen, sondern eine schon vorhandene Beschreibung des Ġūl vom arabischen Philologen Al-Māzinī (starb um 861–863). Hier wird wieder deutlich, dass über die Jahrhunderte hinweg viele verschiedene Charakterisierungen des Ġūl kursierten, bei denen manche Versionen vielleicht für gewisse Zeit in gewissen Regionen mehr Anklang fanden als andere. Folglich ist die Annahme, dass Galland durch eine überspitzte Darstellung eine einschlägige Veränderung im kulturellen Gebrauch des Motivs schuf, vorerst widerlegt, wobei der direkte Bezug jener Quelle nicht vollständig nachgewiesen ist. Man sollte in diesem Kontext auch die klare Kritik an Gallands Dualität in Bezug auf seine wissenschaftliche Repräsentation als Übersetzer und die tatsächliche Umsetzung als Autor nicht außer Acht lassen.
Galland deleted, added, and altered drastically to produce not a translation, but a French adaption, or rather a work of his own creation.13Galland nahm Streichungen, Ergänzungen und drastische Änderungen vor und produzierte so keine Übersetzung, sondern eine französische Adaption, genauer gesagt ein von ihm selbst kreiertes Werk.
129 Jahre später findet sich eine Übersetzung des Ġūl, die repräsentativ für die Entwicklung der deutschen Orientalistik und des linguistisch-wissenschaftlichen Diskurses jener Zeit ist. Die Rede ist von Friedrich Rückerts Übersetzung und Kommentierung der Gedichtkompilation von Abū-Tammām (1846). Rückert geht auch auf das arabische Versmaß ein, wobei er überraschenderweise eine gängige Übertragung der metrischen Form angibt. Hierbei ist wichtig zu wissen, dass die arabische Metrik sich insofern von der europäischen unterscheidet, dass sie sich auf die Länge der Silben konzentriert und nicht auf deren Betonung. Nun folgt die eigentliche Übersetzung des Gedichts:
Ich hüll ins Gewand mich der stockfinsteren Nacht,
wie Nachts eine Jungfrau sich hüllt in den Flaus,
Und schreite hinan, wo ein Feuer sich zeigt,
und ruh auf der Anhöh beim Feuer mich aus.
Es leistet dabei mir Gesellschaft die Gûl;
o liebe Gesellschaft, wie bist du so graus!
Und wenn ihr nach meiner Gesellschaft mich fragt;
dort hinten im Sandwall da ist sie zu Haus.14
Am Schluss kommentiert Rückert das Motiv „Ġūl“, wobei er zwar eine standardisierte Definition ablegt, seine Einleitung hierfür jedoch unerwartet ist:
Über den weiblichen Unhold der Wüste, die Gûl, wißen die Ausleger gewöhnlich nicht viel mehr, als die Stelle selbst, die sie auslegen sollen …15
Einerseits eröffnet diese Interpretation berechtigterweise den kontextgebundenen Interpretationsspielraum des Motivs, jedoch repräsentiert sie auch eine häufig auftretende Negativform der Orientalistik – die westliche Überheblichkeit. Rückerts Behauptung impliziert eine weitgehende Unkenntnis der arabischen Autoren in Bezug auf das Ġūl‑Motiv, wobei man sich vor Augen führen muss, mit welcher Präzision Motive innerhalb bestimmter Textabschnitte gesetzt wurden und welchen gesellschaftlichen Stellenwert Dichter und Dichtung bekleideten. Gewisse Motive nicht in ihrer Gänze zu begreifen, wäre fatal für die Autoren jener Zeit gewesen. Es wird deutlich, wie wenig Rückert den Ġūl in seiner Diversität fassen konnte. Er definierte zwar wichtige Elemente, zog jedoch aus Unkenntnis falsche Schlüsse. Ein Schatten seiner Zeit, der uns bis heute verfolgt.
Trotz der berechtigten Kritik an der Orientalistik bildet diese den Grundbaustein des westlichen Interesses und der Adaption diverser Geschichten des arabischen Raums. Noch heute profitiert die moderne Literatur von diesem reichen Schatz an Handlungssträngen, Figuren und Motiven, so auch vom Ġūl. Dieser schaffte es zumeist als Randfigur in bekannte Werke wie beispielsweise The Outsider von H. P. Lovecraft16 oder Harry Potter and the Deathly Hallows (2007) von J. K. Rowling. Im Gegensatz zu Rowlings Darstellung eines Ġūl, die überhaupt keine Übereinstimmung mit vorangegangenen Formen aufweist, bettete Lovecraft das Schreckenswesen mit den bekannten Merkmalen perfekt in sein Horroruniversum ein:
God knows it was not of this world – or no longer of this world… I saw in its eaten-away and bone-revealing outlines a leering, abhorrent travesty on the human shape …Es war weiß Gott nicht von dieser Welt – oder zumindest nicht mehr … In seinen zerfressenen Umrissen mit den entblößten Knochen sah ich ein lüsternes, grauenvolles Zerrbild der menschlichen Gestalt …
Die japanische Manga-Serie „Tokyo Ghoul“ (ab 2011) setzt das alt-arabische Monster in diesem medialen Format erstmals in den Vordergrund der Handlung. Hier bilden sie eine eigene Gesellschaft, wobei sie als Menschen getarnt (Formwandler/Heimtücke-Motiv) jene zum Spaß mit übermenschlichen Fähigkeiten ermorden und fressen (Kannibalen-Motiv). Sieben Jahre später erscheint der Ġūl mit dem Upload der indischen Horror-Serie „Ghul“ auf Netflix wieder auf der globalisierten Bildfläche. Die zurzeit höchst relevante Popularität von Streaming-Diensten ermöglicht dem Jahrtausende alten Schreckenswesen eine ungeahnte Reichweite. Interessanterweise erfährt der Ġūl hier ein Comeback in seiner ursprünglichen Form. Die arabische Kultur wird seit geraumer Zeit wieder in direkten Zusammenhang mit dem Schreckensmythos gebracht. Einerseits äußert sich dies in der Verbindung von Protagonist*innen mit muslimischem Background und dem Ġūl, andererseits in der Beschreibung jenes Wesens in der letzten Folge durch einen Hauptakteur. Die Genauigkeit der Beschreibung ist hier nicht ausschlaggebend. Bemerkenswert ist, dass das Wesen beschworen werden muss und keinen festen Körper mehr besitzt, sondern sich als Geist oder Dschinn anderer Körper bedient und sie von innen heraus tötet. Diese Darstellung ist sehr stark entfernt von den ursprünglichen Schilderungen und wohl auch den maximal dramatischen Umsetzungsmöglichkeiten geschuldet, die das Fernsehen/Kino bietet. Die Vermischung von Dschinn und Ġūl reduziert die Diversität von mythischen Wesen der alt-arabischen Kultur auf einen bekannten Charakter aus Tausendundeiner Nacht. Im Gegensatz dazu finden sich allerdings auch alte Aspekte wieder, die innerhalb der letzten Jahrhunderte in den popmedialen Formen nicht aufzufinden waren, wie der Einfluss auf Tiere und die Wahrnehmung der Opfer. Noch zu beachten ist, dass sich das sonst so feste menschenfressende Etikett auf die Seele der Opfer verschiebt und so einen mystischen Touch erhält.
Nach fast 2000 Jahren kultureller Entwicklung, Umformung und Anpassung des Ġūl-Motivs bis hin zum Netflix-Monster existiert diese mythische Figur jedoch auch weiterhin in verschiedensten Formen in der zeitgenössischen arabischen Welt. Einerseits lebt er in bestimmten Sprichwörtern weiter, wie zum Beispiel im ägyptischen: „hässlicher als ein Ġūl“ („uglier than a ghoul“, aqbaḥ min ghūl).17 Hier dient er als klarer Vergleich, der schon von arabischen Dichtern der vor- und frühislamischen Zeit benutzt wurde. Anderseits sind nach Hennawi geographische Bezeichnungen gebräuchlich, wie arḍ ḏāt-ġaul, was ein Gebiet beschreibt, das nah wirkt, allerdings weit entfernt ist.18 Hierbei ist ein klares Motiv der Irreführung wiederzuerkennen. Interessanterweise ist der Glaube an den Ġūl als Menschen fressendes Monster tatsächlich noch vorhanden. Wichtig ist allerdings, dass größtenteils ältere Menschen den Mythos erhalten oder er als Druckmittel für Kinder benutzt wird. Außerdem verschob sich der Lebensraum der Kreatur, von der Wüste hin zu Badehäusern und Müllhaufen.19 Meist wird er jedoch als Menschenfresser oder sogar Vampir dargestellt, was vermutlich durch die westliche Auf- und Einflussnahme des Begriffs verfestigt wurde.
Der Ġūl wird also nach all den Jahrhunderten seinem Ruf als Formwandler gerecht. Dieses Etikett ist er offensichtlich nicht losgeworden, und es bildet meines Erachtens das Hauptmerkmal seines bösen Charakters. Denn ganz egal, in welchem kulturellen oder zeitlichen Raum man sich bewegt, es scheint immer eine Angst vor dem unerkennbaren Bösen zu geben, das uns plötzlich näher sein kann, als uns lieb ist.
- MacDonald, D.B./Pellat, Ch.: Ghul, in: Encyclopaedia of Islam, 2nd Edition, ed.: Peri Bearman et al., 2012.
- Al-Rawi, Ahmed [2]: „The Arabic Ghoul and its Western Transformation“. Folklore, 3/2009, S. 291–306.
- Al-Rawi 2009, Western Transformation
- MacDonald/Pellat 2012
- Szombathy, Zoltan: Ghul, in: Encyclopaedia of Islam, THREE, ed.: Kate Fleet et al., 2013.
- Ebrahimi, Ma’soumeh: „Buḥaira, the Lake of Demons“. Iran and the Caucasus, 16/2012, S. 97–104.
- MacDonald/Pellat 2012
- Al-Rawi, Ahmed: „The Mythical Ghoul in Arabic Culture“. Cultural Analysis, 8/2009, S. 45–65. (https://pdfs.semanticscholar.org/acfa/e7405746528b9525790f0fbb6e35d584e33f.pdf)
- MacDonald/Pellat 2012
- Al-Rawi 2009, Western Transformation
- Jones, Alan: Early Arabic Poetry. Marāthī and Ṣuʻlūk poems. Reading 1992.
- Nord, Christiane: „Übersetzungshandwerk – Übersetzungskunst. Was bringt die Translationstheorie für das literarische Übersetzen?“ Lebende Sprachen, 33 (2/2009), S. 51–57.
- Muhawi, Ibrahim: „The Arabian Nights and the Question of Authorship“. Journal of Arabic Literature, 36 (3/2005), S. 323–337.
- Abū-Tammām Ḥabīb Ibn-Aus aṭ-Ṭāʾī/Rückert, Friedrich: Hamâsa oder die ältesten arabischen Volkslieder. 2 Bände in 1 Band (Neudr. d. Ausg. Stuttgart 1846 ed.). Hildesheim 2004.
- ibid.
- Lovecraft, H. P.: The Outsider (Der Außenseiter). 1926.
- Szombathy 2013
- Hennawi, Ryan: Ğinn jenseits von Mystik und Aberglaube. Über das Einwirken und Austreiben von Geistwesen im Islam. Diplomarbeit, Universität Wien 2011. (http://othes.univie.ac.at/14168/1/2011–04-03_0528032.pdf)
- Szombathy 2013