Das Buch
Middlemarch ist einer der großen Klassiker englischsprachiger Literatur. Dass der Roman in Deutschland bislang weniger Anklang gefunden hat als beispielsweise Pride & Prejudice oder Jane Eyre, liegt zum einen an dem akuten Mangel an Hollywood-Adaptionen (man traut sich wohl nicht an den Stoff heran) und seiner verwickelten Übersetzungsgeschichte, der wir bereits einen umfangreichen Beitrag gewidmet haben. Fakt ist: Für denjenigen, der sich für englische Literatur interessiert, führt an diesem Mammutwerk kein Weg vorbei. Höchste Zeit also, dass dieser anspruchsvolle und überaus unterhaltsame Roman auch auf Deutsch die Aufmerksamkeit erhält, die ihm gebührt.
In den ersten hundert Seiten ihres vor Figuren strotzenden Romans konzentriert sich Eliot vor allem auf das Schicksal von Dorothea Brooke, einer Idealistin aus wohlhabender Familie. Ein wesentlicher Plotstrang umfasst die zum Scheitern verurteilte Ehe dieser intelligenten jungen Frau zu dem weitaus älteren, kaltherzigen Pseudo-Intellektuellen Mr. Casaubon. Sie hofft auf eine geistig stimulierende Beziehung, er sucht vor allem eine devote Hausfrau. Wenig überraschend finden beide kaum Erfüllung miteinander und werden erst durch den Tod Casaubons von den Fesseln der viktorianischen Ehe befreit.
Im Laufe des Romans rückt dann eine weitere Ehe in den Mittelpunkt – die des ambitionierten Landarztes Lydgate und der nicht weniger ehrgeizigen Dorfschönheit Rosamond, deren zunächst glückliche Beziehung durch das beiderseitige Verlangen nach Anerkennung und sozialem Aufstieg, und der daraus entstehenden finanziellen Sorgen, getrübt wird. Die Darstellung ihrer jungen Ehe bildet einen weiteren Schwerpunkt in diesem Roman. Ihr Schicksal ist jedoch mit dem von Dorothea Brooke nur über wenige Ecken verbunden. Tatsächlich überschneiden sich ihre Handlungen so selten, dass die wenigen Begegnungen dieser Figuren (vor allem die von Dorothea und Rosamond) zu den Höhepunkten dieses Romans zählen, was diesem allerdings erstaunlich wenig schadet.
Denn neben den beiden Paaren gibt es eine ganze Reihe an kunstvoll gezeichneten Nebenfiguren, die alle nicht weniger fesselnde Schicksale aufweisen. Eliot analysiert mit erstaunlicher Präzision und psychologisierender Beobachtungsgabe nicht nur den wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Wandel ihrer Zeit, sondern vor allem dessen Auswirkungen auf die begrenzte Lebenswelt des Einzelnen. Aufgrund seiner Figurenvielfalt, seines Detailreichtums und seiner scharfen Erzähler-Kommentare wird der Roman daher gern als, obgleich fiktive, Sozialstudie gelesen. Das Provinzstädtchen Middlemarch dient dabei als Mikrokosmos, innerhalb dessen die Höhen und Tiefen individueller Erfahrung in ihrer ganzen Bandbreite ausgelotet werden.
Die Jurybegründung
Die Übersetzung
Die Neuübersetzung von Middlemarch durch die erfahrene Übersetzerin Melanie Walz, die unter Anderem schon Brontë, Austen, Balzac und Dickens in Deutsche übertrug, erschien im Herbst vergangenen Jahres zum 200. Geburtstag der Autorin und wurde bereits damals nachdrücklich von uns empfohlen. Vor allem der Vergleich mit einer gleichzeitig auf dem deutschen Buchmarkt kursierenden Übersetzung von Rainer Zerbst, die durch lexikalische Fehler der nicht zu unterschätzenden Progressivität der Autorin kaum gerecht wird, macht die Stärken dieser Neuübersetzung durch Melanie Walz deutlich – besonders die sprachliche Entstaubung, die auch die Jury der Leipziger Buchmesse in ihrer Begründung hervorhebt. Das „frische Deutsch“, durch das sich Walz’ Übersetzung von ihrem Vorgänger merklich abhebt, lässt den Roman weniger altbacken und seine Erzählstimme kritischer und zugleich moderner erscheinen. Allein das ist ein großes Verdienst.
Neben der adäquaten Wortwahl stellt auch Eliots Tonfall eine große Herausforderung für Übersetzerinnen dar, an der man durchaus scheitern kann (so wie es Eliots erstem Middlemarch-Übersetzer Emil Lehmann ergangen ist). Wer Eliot nämlich nicht nur zu wörtlich liest, sondern auch zu wörtlich übersetzt, übersieht einen Großteil ihrer bisweilen messerscharfen Gesellschaftskritik, die sie mit allen Mitteln der Ironie zum Ausdruck bringt. Nicht zuletzt schwankt der Eliot’sche Ton zwischen jener schneidenden Ironie, nüchtern gehaltenen soziologischen und philosophischen Bemerkungen, und Momenten der stilvollen Poesie, wie sie nur ganz großen Romanciers zu Gebote steht. Da nicht die Kontrolle über den Text zu verlieren, verlangt Eliots Übersetzern einiges ab – ein Balanceakt, der Walz mühelos gelingt.
Zu selten wird auch die Fleißarbeit gewürdigt, die Übersetzerinnen erbringen müssen, wenn sie jemanden wie Eliot, eine der wohl größten Intellektuellen ihrer Zeit, übertragen. Eliot war umfassend gebildet, las in mehreren Sprachen und war mit den Diskursen ihres Jahrhunderts bestens vertraut. Ihre Liste der allein für Middlemarch konsultierten Werke ist lang, dementsprechend vielfältig sind auch die Anspielungen, die natürlich nicht immer sofort erkennbar oder gar verständlich sind. Dass diese auch im Deutschen nicht komplett untergehen, ist ihrer kundigen Übersetzerin zu verdanken, die sich bei diesem Projekt, glaubt man ihrem Nachwort, nicht nur stetig am Rande des Scheiterns sah, sondern dank der Fülle an zu konsultierenden Nachschlagewerken den einen oder anderen „Erkenntnisgewinn“ aus dieser Übersetzung mitgenommen hat.
Wenn es überhaupt eine Schwäche in dieser zu Recht für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Übersetzung gibt, dann sind es die im Deutschen ab und an holprigen Satzkonstruktionen, die oftmals aus einer zu sklavischen Orientierung an dem englischen Satzbau resultieren – ein Problem, das viele deutsche Übersetzungen aus dem Englischen haben. Manch einer mag das nicht ohne Grund als störend empfinden, aber sie führen uns nicht nur die Übersetztheit des Textes vor Augen, sondern auch wie anspruchsvoll und komplex Eliots Schreibstil im Englischen ist. Perfekte Übersetzungen gibt es ohnehin nicht. Sie sind immer Variationen des Originals, und diese neue deutsche Variation von Walz klingt stilsicher und erfrischend modern.
Lieblingssatz
Zwei Fragen an die Nominierte
Was macht das Buch aus?
Melanie Walz: Das Besondere an diesem Roman ist die erstaunliche Mischung aus scharfsichtiger Beobachtung, nicht nur der Kleinstadtmentalität, sondern auch der sozialen Bedingungen und der Politik jener Tage im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in England, der subtilen Ironie gegenüber den Protagonisten und den naturwissenschaftlichen, medizinischen, theologischen und geisteswissenschaftlichen Exkursen der Verfasserin, die nie ermüdend zu lesen sind.
Was haben Sie beim Übersetzen gelernt?
Melanie Walz: Ich habe gelernt, der Substantivlastigkeit vieler Sätze auszuweichen und mich auf Verbformen zu verlassen, um nicht in ein behördenwürdiges Papierdeutsch zu verfallen, wie wir es unseren Bürokraten des späten 18. Jahrhunderts verdanken. Und nicht sklavisch an Wortformen zu kleben, die schon im Grimmschen Wörterbuch verzeichnet sind, sondern in Ausnahmefällen Anachronismen zu verwenden, wenn die Sprache eines Protagonisten sie nahelegte – aber nur in Ausnahmefällen (Erbsenzähler, Dünnbrettbohrer etc.). Und wie immer; keinen deutschen Dialekt für die Sprache der Bauern.
George Eliot/Melanie Walz: Middlemarch
Rowohlt 2019 ⋅ 1264 Seiten ⋅ 45 Euro