Pie­ke Bier­mann: die Kreative

Die moderne Sage „Oreo“ der amerikanischen Autorin Fran Ross erschien 1974, wurde jedoch damals kaum beachtet. Jetzt ist ihre Zeit gekommen und dank der originellen Übersetzung von Pieke Biermann ist sie nun auch dem deutschsprachigen Publikum zugänglich.

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Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2020: Pieke Biermann für „Oreo“. Bild: Stefan Roehl
Am 12. März wer­den die Prei­se der Leip­zi­ger Buch­mes­se in einer Son­der­sen­dung des Deutsch­land­funk ver­ge­ben, unter ande­rem in der Kate­go­rie Über­set­zung. Auf TraLaLit stel­len wir die fünf Nomi­nier­ten vor. Alle Fol­gen der Rei­he sind hier zu finden.

Das Buch

Die Hel­din unse­rer Sage heißt Oreo. Es ist ein Spitz­na­me, ihr rich­ti­ger Name ist Chris­ti­ne. Oreo bezeich­net – mit Fran Ross’ Wor­ten – jeman­den, der/die außen schwarz und innen weiß ist. Die Hel­din ist die Toch­ter eines jüdi­schen Vaters und einer schwar­zen Mut­ter. Da die Eltern mit eige­nen Ange­le­gen­hei­ten beschäf­tigt sind, wach­sen Oreo und ihr Bru­der bei den Groß­el­tern müt­ter­li­cher­seits auf. Mit sech­zehn beschließt die schlag­fer­ti­ge Hel­din, dass es an der Zeit ist, offe­ne Fra­gen ihrer Her­kunft zu klä­ren. Sie zieht mit ihrem Creme­keks­lä­cheln in die Welt hin­aus, von Phil­adel­phia nach New York, und macht sich auf die Suche nach ihrem Vater, nach ihren wei­ßen jüdi­schen Wur­zeln, nach sich selbst.

A secret cau­led Christine’s birth. This is her sto­ry – let her dis­co­ver it.
Ein Geheim­nis lag über Chris­ti­nes Geburt wie eine Glücks­hau­be. Dies ist ihre Geschich­te – und sie wird es lüften.

Oreo ist eine anti­ke Hel­din der Neu­zeit. Nach aus­führ­li­cher und zugleich kurz­wei­li­ger Beschrei­bung der fami­liä­ren Hin­ter­grün­de wirkt ihre Geschich­te pha­sen­wei­se wie eine zufäl­li­ge Anein­an­der­rei­hung bei­nah absur­der Erleb­nis­se. Doch im Grun­de erzählt die Autorin Fran Ross ziem­lich detail­liert den Anfang der alt­grie­chi­schen Sage von The­seus nach, der mit San­da­len und einem Schwert nach Athen zieht, um sei­nen Vater Aigeus zu suchen. Fran Ross ver­setzt die Sage in ein kul­tu­rell diver­ses Umfeld der USA der zwei­ten Hälf­te des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts und erzählt sie auf sati­ri­sche Art aus der Sicht­wei­se einer jun­gen Frau. Die schein­bar zufäl­li­gen Ereig­nis­se fügen sich so zu einer Geschich­te zusam­men, die einen alten Stoff aus ori­gi­nel­ler Per­spek­ti­ve neu verarbeitet.

Das Buch erschien ursprüng­lich 1974 und geriet noch im sel­ben Jahr wie­der in Ver­ges­sen­heit. Elf Jah­re spä­ter ver­starb die Autorin und Oreo soll­te ihr ein­zi­ger Roman blei­ben. Erst vor eini­gen Jah­ren wur­de das Werk von der Schrift­stel­le­rin und Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin Har­ry­et­te Mullen aus­ge­gra­ben und jetzt von Pie­ke Bier­mann ins Deut­sche über­setzt. War­um ein Werk von so hoher lite­ra­ri­scher Qua­li­tät und ori­gi­nel­lem Witz über ein hal­bes Jahr­hun­dert still vor sich hin­schlum­mer­te, ist ein gro­ßes Rät­sel. Doch Oreo ist in der Zeit gut geal­tert (oder war es von Anfang an sei­ner Zeit vor­aus?). Bis auf ein paar klei­ne Hin­wei­se dar­auf, dass die Geschich­te nicht im 21. Jahr­hun­dert spielt – Oreo schreibt mit einer Schreib­ma­schi­ne und benutzt Münz­te­le­fo­ne – ist die Geschich­te zeit­los und hat nicht im Gerings­ten an Rele­vanz verloren.

Die Jury­be­grün­dung

Fran Ross führt ihre Leser in ein wider­sprüch­li­ches Ame­ri­ka. Wie Pie­ke Bier­mann die­sen tem­pe­ra­ment­vol­len Text vol­ler jid­di­scher Anlei­hen und Süd­staa­ten-Slang über­setzt hat, ist ein ein­zi­ger Genuss.

Die Über­set­zung

Die kurz und knapp gehal­te­ne Begrün­dung der Jury wird Pie­ke Bier­manns Über­set­zung nicht ganz gerecht. Was ihre deut­sche Fas­sung der Hel­den­sa­ge Ore­os aus­zeich­net, ist viel mehr als nur die Über­tra­gung der jid­di­schen Anlei­hen und des Süd­staa­ten-Slangs der Groß­mutter. Fran Ross’ Spra­che ist noch weit­aus viel­schich­ti­ger. Vie­le ihrer Figu­ren hüp­fen frei von einem sprach­li­chen Code in einen ande­ren – es ent­steht eine Mischung aus Stan­dard­spra­che, Jid­disch, Süd­staa­ten-Slang, Ebo­nics, dem afro­ame­ri­ka­ni­schen Eng­lisch, und ver­ein­zelt sogar Latein und Fran­zö­sisch. Zudem ist die Spra­che vol­ler kul­tu­rel­ler und his­to­ri­scher Anspielungen.

Vor allem die Haupt­fi­gur drückt sich für einen Teen­ager sehr unge­wöhn­lich aus. Ihre Sprech­wei­se ist von der­bem, zwei­deu­ti­gem Humor gekenn­zeich­net und spie­gelt zugleich, obwohl sie manch­mal noch kind­lich und von einem gewis­sen Wel­pen­schutz behü­tet wirkt, ihre hohe Intel­li­genz und Rei­fe. Und nicht zu ver­ges­sen: Es han­delt sich hier um eine epi­sche Hel­den­sa­ge. Auch das ver­mag Ross aus­zu­drü­cken. Pie­ke Bier­mann schafft es, die­sen kul­tu­rell spe­zi­fi­schen Misch­masch an Spra­chen und Aus­drucks­wei­sen in all sei­ner Hybri­di­tät ein­zu­fan­gen und dar­aus einen klug durch­dach­ten, deutsch-jid­di­schen Misch­masch zu machen.

Die Bedeu­tung vie­ler jid­di­scher Begrif­fe ist für deutsch­spra­chi­ge Lese­rin­nen und Leser rela­tiv leicht her­leit­bar, was immer wie­der zu inter­es­san­ten sprach­li­chen Wen­dun­gen führt, die Pie­ke Bier­mann aber eben­falls pro­blem­los mit ein paar Hilfs­grif­fen umwan­delt: „Eine Kis­te ist eine Kis­te ist eine Kis­te. Aber: Don’t Men­ti­on – We’re Mens­hen.“ (A Box Is a Box Is a Box. But – Don’t Men­ti­on – We’re Mens­hen.”) Ein Glos­sar am Ende des Buches hilft zusätz­lich bei Ver­ständ­nis­pro­ble­men, wäre aber zu Zei­ten von Goog­le und mobi­lem Inter­net nicht unbe­dingt nötig.

Das soge­nann­te Code-Swit­ching, also der Wech­sel einer Per­son zwi­schen ver­schie­de­nen Spra­chen oder Aus­drucks­wei­sen, oft mit­ten im Satz, zeigt immer auch ein span­nungs­ge­la­de­nes Ver­hält­nis ver­schie­de­ner Iden­ti­tä­ten. Im Fal­le von Oreo ist es die unter­schied­li­che Her­kunft ihrer Eltern, die in ihr auf­ein­an­der­tref­fen, aber auch ihre Ent­wick­lung vom Kind zur Frau, die so sprach­lich zum Aus­druck kom­men. Unter dem selbst gewähl­ten Mot­to nemo me impu­ne laces­sit („Nie­mand reizt mich unge­straft“ oder in Ore­os eige­nen Wor­ten: „Mir saacht kein Nig­ger nicht, was ich zu tun und zu las­sen hab. Der kricht von mir so’n klop in’ie kisch­kes!“) geht Oreo durchs Leben. Sie ist eine aben­teu­er­lus­ti­ge Hel­din, selbst­be­wusst, schlag­fer­tig und vor­laut; char­mant pene­tran­te, intel­li­gent unver­schäm­te Cha­rak­ter­zü­ge, die in der jüdi­schen Kul­tur mit dem Begriff Chuz­pe beschrie­ben werden:

She was rea­dy for any kind of shit, pre­pared to go whe­re she was not wan­ted, to butt in whe­re she had no busi­ness, to test her medd­le all over the map. Oreo was one pushy chick.

But to call Oreo a minor was, slow­ly and cae­r­phil­ly, to dri­ve a shaft into the pits of her cheese­pa­ring soul. She did not con­sider hers­elf a minor at or of or in anything.

Sie war zu jedem Scheiß bereit, sie wür­de auch da hin­ge­hen, wo sie nicht erwünscht war, da rein­plat­zen, wo sie nichts ver­lo­ren hat­te, aller Welt bewei­sen, dass sie auch da war. Oreo war ein ziem­lich zähes Luder.

Aber min­der­jäh­rig genannt zu wer­den, das war, als ob ihr jemand lang­sam und kal­ku­liert einen Keil in die Ach­sel­höh­len ihrer Erb­sen­zäh­ler­see­le ramm­te. Oreo betrach­te­te sich als min­der­gar­nichts, weder für noch gegen­über noch in irgendwas.

Pie­ke Bier­mann über­setzt ten­den­zi­ell sehr frei. Sie löst sich oft von den sprach­li­chen Struk­tu­ren des Ori­gi­nals, wodurch sich der Rhyth­mus der Spra­che kla­rer­wei­se ver­än­dert. Doch mit Über­set­zun­gen wie „Ent­schlüpf­tes im Schlüp­fer“ für „a bloom in the bloo­mers“, als Oreo ihre ers­te Regel bekommt, zeigt sie, dass sie sehr genau dar­auf ach­tet, die sprach­li­chen Beson­der­hei­ten des Ori­gi­nals zu bewah­ren. Der ori­gi­nel­le Sprach­ge­brauch in der Über­set­zung lässt ver­mu­ten, dass ihr die Her­aus­for­de­run­gen der Über­set­zungs­ar­beit sehr viel Spaß gemacht haben. Den krea­ti­ven Umgang mit der deut­schen Spra­che zeigt sie vor allem in Wort­schöp­fun­gen wie „min­der­gar­nichts“ oder neu­en Ver­ben wie „musik­ki­cher­te“ (chuck­led musi­cal­ly), „seil­hüpf­te es ins Jen­seits“ (she dou­ble-dut­ched the coat to death) und „Den Nam’ hab’ ich entin­nert“ (I dis­re­mem­ber the name).

Oreo ist sowohl inhalt­lich und sprach­lich als auch durch sei­ne Rezep­ti­ons­ge­schich­te ein sehr unge­wöhn­li­ches Buch. Dass es so lan­ge nicht beach­tet wur­de, ist eine Schan­de. Doch jetzt ist sei­ne Zeit gekom­men. Pie­ke Bier­manns Über­set­zung ist krea­tiv, aben­teu­er­lus­tig und auf­müp­fig wie die Hel­din selbst und wird die­sem außer­ge­wöhn­li­chen Werk hof­fent­lich auch im deutsch­spra­chi­gen Raum die Auf­merk­sam­keit besche­ren, die es verdient.

Lieb­lings­satz

(Man­che von euch haben viel­leicht bemerkt, dass Oreo einen lan­gen Stock mit sich rum­schleppt, und inter­pre­tie­ren besag­ten Stock womög­lich als Penis­er­satz. Falsch, Sibyl, es ist ein lan­ger Stock.)

Zwei Fra­gen an die Nominierte

Was macht das Buch aus?

Das zu beschrei­ben wür­de Sei­ten ver­schlin­gen. Ich beschrän­ke mich auf mei­ne ers­ten Gedan­ken nach 4–5 Sei­ten plus Blät­tern: Das ist so sau­ko­misch und so sau­klug (in freu­di­ger Erre­gung oder umge­kehrt den­ke ich nicht mit gepfleg­ter Wort­wahl) wie kein Buch, das ich ken­ne, wie­so ist mir das über 40 Jah­re lang entgangen?!

Was haben Sie beim Über­set­zen gelernt?

Wie­viel Spaß Chuz­pe beim Ver­deut­schen machen kann.


Fran Ross/Pieke Bier­mann: Oreo

dtv 2019 ⋅ 288 Sei­ten ⋅ 22 Euro

www.dtv.de/buch/fran-ross-oreo-28197/

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