
Das Buch
Die Heldin unserer Sage heißt Oreo. Es ist ein Spitzname, ihr richtiger Name ist Christine. Oreo bezeichnet – mit Fran Ross’ Worten – jemanden, „der/die außen schwarz und innen weiß ist“. Die Heldin ist die Tochter eines jüdischen Vaters und einer schwarzen Mutter. Da die Eltern mit eigenen Angelegenheiten beschäftigt sind, wachsen Oreo und ihr Bruder bei den Großeltern mütterlicherseits auf. Mit sechzehn beschließt die schlagfertige Heldin, dass es an der Zeit ist, offene Fragen ihrer Herkunft zu klären. Sie zieht mit ihrem „Cremekekslächeln“ in die Welt hinaus, von Philadelphia nach New York, und macht sich auf die Suche nach ihrem Vater, nach ihren weißen jüdischen Wurzeln, nach sich selbst.
A secret cauled Christine’s birth. This is her story – let her discover it.Ein Geheimnis lag über Christines Geburt wie eine Glückshaube. Dies ist ihre Geschichte – und sie wird es lüften.
Oreo ist eine antike Heldin der Neuzeit. Nach ausführlicher und zugleich kurzweiliger Beschreibung der familiären Hintergründe wirkt ihre Geschichte phasenweise wie eine zufällige Aneinanderreihung beinah absurder Erlebnisse. Doch im Grunde erzählt die Autorin Fran Ross ziemlich detailliert den Anfang der altgriechischen Sage von Theseus nach, der mit Sandalen und einem Schwert nach Athen zieht, um seinen Vater Aigeus zu suchen. Fran Ross versetzt die Sage in ein kulturell diverses Umfeld der USA der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und erzählt sie auf satirische Art aus der Sichtweise einer jungen Frau. Die scheinbar zufälligen Ereignisse fügen sich so zu einer Geschichte zusammen, die einen alten Stoff aus origineller Perspektive neu verarbeitet.
Das Buch erschien ursprünglich 1974 und geriet noch im selben Jahr wieder in Vergessenheit. Elf Jahre später verstarb die Autorin und Oreo sollte ihr einziger Roman bleiben. Erst vor einigen Jahren wurde das Werk von der Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Harryette Mullen ausgegraben und jetzt von Pieke Biermann ins Deutsche übersetzt. Warum ein Werk von so hoher literarischer Qualität und originellem Witz über ein halbes Jahrhundert still vor sich hinschlummerte, ist ein großes Rätsel. Doch Oreo ist in der Zeit gut gealtert (oder war es von Anfang an seiner Zeit voraus?). Bis auf ein paar kleine Hinweise darauf, dass die Geschichte nicht im 21. Jahrhundert spielt – Oreo schreibt mit einer Schreibmaschine und benutzt Münztelefone – ist die Geschichte zeitlos und hat nicht im Geringsten an Relevanz verloren.
Die Jurybegründung
Die Übersetzung
Die kurz und knapp gehaltene Begründung der Jury wird Pieke Biermanns Übersetzung nicht ganz gerecht. Was ihre deutsche Fassung der Heldensage Oreos auszeichnet, ist viel mehr als nur die Übertragung der jiddischen Anleihen und des Südstaaten-Slangs der Großmutter. Fran Ross’ Sprache ist noch weitaus vielschichtiger. Viele ihrer Figuren hüpfen frei von einem sprachlichen Code in einen anderen – es entsteht eine Mischung aus Standardsprache, Jiddisch, Südstaaten-Slang, Ebonics, dem afroamerikanischen Englisch, und vereinzelt sogar Latein und Französisch. Zudem ist die Sprache voller kultureller und historischer Anspielungen.
Vor allem die Hauptfigur drückt sich für einen Teenager sehr ungewöhnlich aus. Ihre Sprechweise ist von derbem, zweideutigem Humor gekennzeichnet und spiegelt zugleich, obwohl sie manchmal noch kindlich und von einem gewissen Welpenschutz behütet wirkt, ihre hohe Intelligenz und Reife. Und nicht zu vergessen: Es handelt sich hier um eine epische Heldensage. Auch das vermag Ross auszudrücken. Pieke Biermann schafft es, diesen kulturell spezifischen Mischmasch an Sprachen und Ausdrucksweisen in all seiner Hybridität einzufangen und daraus einen klug durchdachten, deutsch-jiddischen Mischmasch zu machen.
Die Bedeutung vieler jiddischer Begriffe ist für deutschsprachige Leserinnen und Leser relativ leicht herleitbar, was immer wieder zu interessanten sprachlichen Wendungen führt, die Pieke Biermann aber ebenfalls problemlos mit ein paar Hilfsgriffen umwandelt: „Eine Kiste ist eine Kiste ist eine Kiste. Aber: Don’t Mention – We’re Menshen.“ (A Box Is a Box Is a Box. But – Don’t Mention – We’re Menshen.”) Ein Glossar am Ende des Buches hilft zusätzlich bei Verständnisproblemen, wäre aber zu Zeiten von Google und mobilem Internet nicht unbedingt nötig.
Das sogenannte Code-Switching, also der Wechsel einer Person zwischen verschiedenen Sprachen oder Ausdrucksweisen, oft mitten im Satz, zeigt immer auch ein spannungsgeladenes Verhältnis verschiedener Identitäten. Im Falle von Oreo ist es die unterschiedliche Herkunft ihrer Eltern, die in ihr aufeinandertreffen, aber auch ihre Entwicklung vom Kind zur Frau, die so sprachlich zum Ausdruck kommen. Unter dem selbst gewählten Motto nemo me impune lacessit („Niemand reizt mich ungestraft“ oder in Oreos eigenen Worten: „Mir saacht kein Nigger nicht, was ich zu tun und zu lassen hab. Der kricht von mir so’n klop in’ie kischkes!“) geht Oreo durchs Leben. Sie ist eine abenteuerlustige Heldin, selbstbewusst, schlagfertig und vorlaut; charmant penetrante, intelligent unverschämte Charakterzüge, die in der jüdischen Kultur mit dem Begriff Chuzpe beschrieben werden:
She was ready for any kind of shit, prepared to go where she was not wanted, to butt in where she had no business, to test her meddle all over the map. Oreo was one pushy chick.
But to call Oreo a minor was, slowly and caerphilly, to drive a shaft into the pits of her cheeseparing soul. She did not consider herself a minor at or of or in anything.
Sie war zu jedem Scheiß bereit, sie würde auch da hingehen, wo sie nicht erwünscht war, da reinplatzen, wo sie nichts verloren hatte, aller Welt beweisen, dass sie auch da war. Oreo war ein ziemlich zähes Luder.
Aber minderjährig genannt zu werden, das war, als ob ihr jemand langsam und kalkuliert einen Keil in die Achselhöhlen ihrer Erbsenzählerseele rammte. Oreo betrachtete sich als mindergarnichts, weder für noch gegenüber noch in irgendwas.
Pieke Biermann übersetzt tendenziell sehr frei. Sie löst sich oft von den sprachlichen Strukturen des Originals, wodurch sich der Rhythmus der Sprache klarerweise verändert. Doch mit Übersetzungen wie „Entschlüpftes im Schlüpfer“ für „a bloom in the bloomers“, als Oreo ihre erste Regel bekommt, zeigt sie, dass sie sehr genau darauf achtet, die sprachlichen Besonderheiten des Originals zu bewahren. Der originelle Sprachgebrauch in der Übersetzung lässt vermuten, dass ihr die Herausforderungen der Übersetzungsarbeit sehr viel Spaß gemacht haben. Den kreativen Umgang mit der deutschen Sprache zeigt sie vor allem in Wortschöpfungen wie „mindergarnichts“ oder neuen Verben wie „musikkicherte“ (chuckled musically), „seilhüpfte es ins Jenseits“ (she double-dutched the coat to death) und „Den Nam’ hab’ ich entinnert“ (I disremember the name).
Oreo ist sowohl inhaltlich und sprachlich als auch durch seine Rezeptionsgeschichte ein sehr ungewöhnliches Buch. Dass es so lange nicht beachtet wurde, ist eine Schande. Doch jetzt ist seine Zeit gekommen. Pieke Biermanns Übersetzung ist kreativ, abenteuerlustig und aufmüpfig wie die Heldin selbst und wird diesem außergewöhnlichen Werk hoffentlich auch im deutschsprachigen Raum die Aufmerksamkeit bescheren, die es verdient.
Lieblingssatz
Zwei Fragen an die Nominierte
Was macht das Buch aus?
Das zu beschreiben würde Seiten verschlingen. Ich beschränke mich auf meine ersten Gedanken nach 4–5 Seiten plus Blättern: Das ist so saukomisch und so sauklug (in freudiger Erregung oder umgekehrt denke ich nicht mit gepflegter Wortwahl) wie kein Buch, das ich kenne, wieso ist mir das über 40 Jahre lang entgangen?!
Was haben Sie beim Übersetzen gelernt?
Wieviel Spaß Chuzpe beim Verdeutschen machen kann.
Fran Ross/Pieke Biermann: Oreo
dtv 2019 ⋅ 288 Seiten ⋅ 22 Euro