Das Buch
Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts war Charles Baudelaire ein literarisches One-Hit-Wonder in den Bücherregalen der Welt. Sein Werk jenseits des weltberühmten (und zigfach, teilweise prominent, übersetzten) Gedichtbandes Les Fleurs du Mal fand trotz der Fürsprache von Autoren wie Walter Benjamin kaum Beachtung.
Dies zu ändern, schickt sich der im vergangenen Jahr von Simon Werle im Rowohlt Verlag herausgebrachte Band „Der Spleen von Paris – Gedichte in Prosa sowie frühe Dichtungen“ an. Er ergänzt die bereits 2017 erschienene und preisgekrönte Übersetzung der Fleurs du Mal zu einem Doppelband, der das literarische Hauptwerk Baudelaires in ganzer Breite abbildet.
Im Mittelpunkt – wenn auch am Ende des Bandes – steht dabei die titelgebende Sammlung von Prosagedichten, die posthum 1869, also genau 150 Jahre vor Werles Neuübersetzung, zum ersten Mal erschien. Darin entfaltet Baudelaire ein breites Panoptikum seiner Zeit. In den mal ins Poetische, mal ins Journalistische changierenden, mal erzählenden, mal beschreibenden, mal pamphlethaft argumentierenden Kurztexten kommen reiche Dandys ebenso vor wie Straßenkinder, Gaukler ebenso wie arrivierte Künstler, traumhafte Visionen ebenso wie amüsante Anekdoten.
Gemeinsam ist allen in diesem Band versammelten Texten, über den Spleen von Paris hinaus, aber der unbedingte Wille zur Form und zur sprachlichen Durchdringung. Baudelaire gilt zwar vor allem wegen seiner Fleurs du Mal zu Recht als Wegbereiter der literarischen Moderne – dieser Band beweist aber, dass sein Schreiben von Anfang an aus den Tiefen der französischen Form- und Sprachtradition schöpft.
Die in dieser Sammlung veröffentlichten Sonette sind dafür nur der augenfälligste Beweis: Auch die Prosastücke des Spleen de Paris beziehen ihre Wirkung aus Baudelaires präzisem klanglichen und rhythmischen Gespür. Die etwas pompöse Bezeichnung „Poèmes en Prose“ ist daher auch nicht zu hoch gegriffen, denn die Wirkung, die diese Kurztexte entfalten, ist in der Tat eine poetische.
Die Jurybegründung
Die Übersetzung
Simon Werle ist – wie alle fünf Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse – ein erfahrener Übersetzer. Wer in seiner Vita alle wichtigen Übersetzerpreise der Republik auflisten kann, vom Johann-Heinrich-Voß-Preis 1992 für seine Racine-Übertragungen bis hin zum Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis 2017 für die Blumen des Bösen, der braucht weder sich noch seinem Lektor, noch dem Publikum etwas zu beweisen.
An Simon Werles Baudelaire lässt sich in besonderem Maße studieren, welche ungeheure Kreativität und Kraft eine solche (innere und äußere) Freiheit zu entfalten vermag. Werle ist es dabei mitnichten daran gelegen, Baudelaire mit dem Bade auszukippen und sich selbst als Autor zu verherrlichen (wie man es vielleicht dem ersten Baudelaire-Übersetzer Stefan George vorwerfen kann). Werle will Baudelaire auf einer höheren Ebene erfahrbar zu machen als der rein wörtlichen oder auch formalen, auf der sich unerfahrenere Kolleginnen oder Kollegen womöglich aufgehalten hätten.
Diese übersetzerische Freiheit beweist sich schon auf der grundlegenden Ebene, der Wortwahl, die durch übermäßigen Gebrauch des Wörterbuchs allzuoft durchmechanisiert wird. Nicht so bei Werle: Er nimmt sich die Freiheit „philosophique“ mit „abgeklärt“ zu übersetzen und macht aus Baudelaires recht bedeutungsoffenem „mauvais lieu“ einen „verrufenen Ort“. Wenn es im Original in ungeheurer semantischer und rhythmischer Dichte, aber auch leicht pleonastisch heißt:
Le monde stupéfié s’affaisse lâchement et fait la sieste […].
dann reichert Werle, nichts an Sprachrhythmus einbüßend, diese Beschreibung noch zusätzlich an:
Feigherzig erschlafft die betäubte Welt und hält Siesta […].
Diese dichterische Freiheit überträgt Werle von den Gedichten – die ein selbstbewusstes Neu-Dichten geradezu erfordern – auf die Prosastücke und von der lexikalischen auf die höheren grammatikalischen Ebenen. Weder Grammatik noch Satzbau stehen bei ihm im Mittelpunkt (obschon er sich nie weit von seiner Vorlage entfernt), sondern die intensive Rauschwirkung der Sprache.
Diese Wirkungsäquivalenz erreichen nur jene Übersetzerinnen und Übersetzer, die den Mut haben, eigene Wege zu gehen und sich ihren Text von der Vorlage zwar vor-legen, aber eben nicht vor-schreiben zu lassen. Denn eine solche Rauschwirkung wie die Baudelaires zu erzeugen bedeutet, seine Leser einerseits zu fordern, aber andererseits nicht durch sprachliches Gepränge vom Wesentlichen abzulenken.
Diese Gratwanderung gelingt Werle meisterlich, seine exquisiteren Begriffsprägungen stehen nie für sich, sondern sind immer eingebettet in ein stilistisch ausgewogenes Satzgefüge. Wenn Baudelaire „sommeil“ schreibt, steht bei Werle einfach „Schlaf“ und nicht poetisierend „Schlummer“, aus „la lourde et sale atmosphère parisienne“ macht er verkürzend und anachronistisch – aber wie treffend! – den „Pariser Smog“.
Lebte Charles Baudelaire heute in München und nicht um 1850 in Paris, er hätte seine Prosagedichte so geschrieben. Ein überzeugenderes Beispiel für die Anmut eines in Ketten tanzenden Übersetzers hat man lange nicht gelesen.
Lieblingssatz
Zwei Fragen an den Nominierten
Was macht das Buch aus?
Baudelaires Spleen von Paris (Gedichte in Prosa und frühe Gedichte) ist unter der Flagge eines gängigen Titels – dem seines zweiten Hauptwerks -, nach Gattungsvielfalt, stilistischer Variationsbreite und dem großen Spektrum an poetischen Entwicklungsstadien des Autors das heterogenste Textgefüge, mit dem ich mich bisher übersetzerisch auseinandergesetzt habe. Die von mir mit initiierte Breite der Auswahl gerade auch an Frühwerken war getragen von der Absicht, hierzulande völlig unbekannte Facetten eines vermeintlich sattsam bekannten Klassikers zu präsentieren.
Was haben Sie beim Übersetzen gelernt?
In dem zweijährigen Bemühen um einen weiteren ‚deutschen Baudelaire‘ habe ich viele Wege ausprobiert, formstrenge französische Lyrik unter Wahrung von Versmaß und Reim so zu übertragen, dass möglichst wenig semantische Substanz auf der Strecke bleibt. Eine so intensive Schulung hat für mein Empfinden erkennbar Früchte getragen. Aus dem zeitlichen Abstand bin ich mit vielen der erreichten Ergebnisse, insbesondere in den Blumen des Bösen, sehr zufrieden. Manche erscheinen mir aber mittlerweile auch als Zwischenstufen auf einem Weg, der möglicherweise kein Ende hat.
Charles Baudelaire/Simon Werle: Le Spleen de Paris – Der Spleen von Paris. Gedichte in Prosa und frühe Dichtungen.
Rowohlt 2019 ⋅ 512 Seiten ⋅ 40 Euro
www.rowohlt.de/hardcover/charles-baudelaire-le-spleen-de-paris-der-spleen-von-paris.html