Über­set­zung des Monats: Milchmann

Anna Burns hat einen eigenwilligen und zutiefst komischen Roman über eine junge Frau in Nordirland vorgelegt. Die sensationelle Übersetzung von Anna-Nina Kroll steht dem Original in nichts nach. Von

Milch­mann ist ein kom­ple­xer und ein­zig­ar­ti­ger Bewusst­seins­strom, der zeigt, dass ein schein­bar unkon­trol­lier­ter Text­fluss einer umso kon­trol­lier­te­ren Über­set­zungs­leis­tung bedarf.
Über­set­zung des Monats März
Titel

Milch­mann

Autor

Anna Burns

Über­setzt von

Anna-Nina Kroll

Ori­gi­nal­spra­che

Eng­lisch

Ori­gi­nal­ti­tel

Milk­man

Link zur Verlagsseite

www.klett-cotta.de/buch/Gegenwartsliteratur/Milchmann/112109

Es gibt wohl weni­ge Bücher, die so eigen­tüm­lich geschrie­ben sind wie Anna Burns’ Milch­mann. Als der Roman 2018 mit dem Man Boo­ker Pri­ze prä­miert wur­de, lob­te die Jury den mar­kan­ten Stil der Autorin, die als ers­te Nord­irin den Preis gewann. Nie­mand von ihnen habe so etwas schon ein­mal gele­sen, schwärm­te der Jury-Vor­sit­zen­de. Und wei­ter: Anna Burns’ Stim­me sei abso­lut unver­wech­sel­bar. Unver­wech­sel­bar ist jedoch nicht nur die Stim­me der Autorin, son­dern auch die ihrer Über­set­ze­rin Anna-Nina Kroll, die sich für die vor Kur­zem erschie­ne­ne deut­sche Ver­si­on ver­ant­wort­lich zeich­net. Kroll hat den ein­gän­gi­gen und eigen­wil­li­gen Rede­schwall der namen­lo­sen 18-jäh­ri­gen Prot­ago­nis­tin in ein unver­krampf­tes und ori­gi­nel­les Deutsch gebracht.

Der Roman spielt mit­ten im Nord­ir­land­kon­flikt der 70er-Jah­re und hat gemes­sen an sei­ner Sei­ten­zahl erstaun­lich wenig Plot vor­zu­wei­sen. Burns kon­zen­triert sich auf ledig­lich einen Hand­lungs­strang, der sich durch das gan­ze Buch zieht: Ihre Prot­ago­nis­tin wird von einem „Milch­mann“ – der eigent­lich kein Milch­mann, son­dern ein undurch­schau­ba­rer Para­mi­li­tär ist – sys­te­ma­tisch ein­ge­schüch­tert und ver­folgt. Ihr Umfeld dich­tet ihr dar­auf­hin eine Affä­re mit dem Milch­mann an – höchst pro­ble­ma­tisch in einer Gesell­schaft, in der jede Hand­lung, jede noch so klei­ne Ges­te einem poli­ti­schen Bekennt­nis gleicht:

The­re was the fact that you crea­ted a poli­ti­cal state­ment ever­y­whe­re you went, and with ever­y­thing you did, even if you didn’t want to.
Über­all und mit allem, was man tat, gab man ein poli­ti­sches State­ment ab, ob man woll­te oder nicht.

Auf real­his­to­ri­sche Ereig­nis­se wird jedoch nie direkt ver­wie­sen, die Figu­ren wer­den nicht mit Namen, son­dern belus­ti­gen­den Umschrei­bun­gen wie „Viel­leicht-Freund“ oder „mitt­le­re Schwes­ter“ ver­se­hen. Der Roman ist zeit­los genug gestal­tet, um in ande­re Kon­tex­te pro­blem­los über­trag­bar zu sein. Nicht zuletzt ist „Milch­mann“ eine über­aus exak­te und minu­tiö­se Ana­ly­se von Macht­ge­fäl­len, und wie die­se als Wur­zeln für Unter­drü­ckung und Gewalt die­nen. Kaum jeman­dem ist es post-#MeToo wohl so gelun­gen wie Burns, die­ses The­ma erfolg­reich zu bear­bei­ten. Statt sich vor­nehm­lich auf die rei­ne Dar­stel­lung des Stal­kings zu kon­zen­trie­ren, zieht sich die Autorin gänz­lich in das Innen­le­ben ihrer Prot­ago­nis­tin zurück und ent­wi­ckelt dafür eine ganz eige­ne lite­ra­ri­sche Ästhe­tik. Auf die­se Wei­se lässt sie das beklem­men­des Por­trät einer gespal­te­nen Gesell­schaft ent­ste­hen, die abso­lu­te sozia­le Kon­trol­le über das Indi­vi­du­um aus­übt und stren­ge Vor­stel­lun­gen von „rich­tig“ und „falsch“ hat:

The­re was food and drink. The right but­ter. The wrong but­ter. The tea of alle­gi­ance. The tea of betra­y­al. The­re were ‘our shops’ and ‘their shops’.

Es gab Essen und Trin­ken. Die rich­ti­ge But­ter. Die fal­sche But­ter. Den Treue-Tee. Den Ver­rä­ter-Tee. Es gab „unse­re Läden“ und „deren Läden“.

Der Roman steht und fällt mit sei­ner Erzähl­stim­me – das­sel­be lässt sich dem­entspre­chend auch über die mus­ter­gül­ti­ge deut­sche Über­set­zung sagen, deren Stim­me genau­so her­vor­ra­gend und ein­zig­ar­tig gestal­tet ist wie die eng­li­sche. Als ein ellen­lan­ger Bewusst­seins­strom kon­zi­piert, folgt der Roman gänz­lich den Emo­tio­nen, Asso­zia­tio­nen und Gedan­ken­sprün­gen sei­ner Hel­din, die aus zwei Per­spek­ti­ven berich­tet. Einer­seits blickt sie auf die Ereig­nis­se zurück, was es ihr erlaubt, mit mes­ser­schar­fer Klar­heit über ihre Jugend zu reflek­tie­ren und die­se in einen grö­ße­ren Kon­text ein­zu­bet­ten. Ande­rer­seits ver­setzt sie sich direkt in das Gesche­he­ne zurück und berich­tet schein­bar aus dem Moment her­aus. Dadurch ent­steht eine Rei­bung, ein atem­lo­ses Spiel, das die Tra­gi­ko­mik die­ses Romans ausmacht.

Die Wör­ter spru­deln gera­de­zu aus der Erzäh­le­rin her­aus, vor allem im Moment des Gesche­hens. Um ihre Hilf­lo­sig­keit und Über­for­de­rung, aber auch das Schwei­gen ihres Umfelds – in dem jedes Wort zu viel, ver­häng­nis­voll sein kann – zu kom­pen­sie­ren, ver­fällt sie in einen Rede­fluss, den man eigent­lich nur als Schwall beschrei­ben kann. Die­ser lässt den Ein­druck von abso­lu­ter Unmit­tel­bar­keit und  Authen­ti­zi­tät ent­ste­hen. Kroll glückt die Balan­ce zwi­schen spie­le­ri­scher Frei­heit und unbe­ding­ter Sprach­kon­trol­le, die die­sen Schwall unge­hemmt wir­ken lässt. Ein Beispiel:

‘Extra­or­di­na­ry!’ someone then said – which meant it must have been for that was not a word ever to be used in our lexi­con. As with others like it – ‘mar­vell­ous!’, ‘tre­men­dous!’, ‘stu­pen­dous!’, ‘stun­ning!’, ‘sen­sa­tio­nal!’, ‘top­per!’, ‘super!’, ‘cri­key!’, ‘let’s!’, ‘smas­hing!’, ‘dia­mon­di­fe­rous!’, ‘bizar­re!’, ‘excee­din­gly!’ – even ‘howe­ver’ and ‘inde­ed’ though I mys­elf and wee sis­ters said ‘howe­ver’ and ‘inde­ed’ – it was an emo­tio­nal word, too much of a colo­rant, too high-fly­ing, too pos­tu­ri­ng; basi­cal­ly it was of that quint­essen­ti­al ‘over the water’ lan­guage, with ‘quint­essen­ti­al’ being ano­ther of tho­se words.
„Außer­or­dent­lich!“, sag­te schließ­lich einer. Es muss­te also wirk­lich außer­or­dent­lich sein, denn die­ses Wort kam in unse­rem Sprach­ge­brauch nor­ma­ler­wei­se nicht vor. Genau­so wenig wie „fabel­haft!“, „fan­tas­tisch!“, „erstaun­lich!“, „atem­be­rau­bend!“, „sen­sa­tio­nell!“, „bril­lant!“, „geni­al!“, „Don­ner­wet­ter!“, „pri­ma!“, „klas­se!“, „bon­for­ti­onös!“, „spit­zen­mä­ßig!“, „gran­di­os!“, selbst „aller­dings“ und „tat­säch­lich“, wobei Klei­ne Schwes­tern und ich „aller­dings“ und „tat­säch­lich“ schon manch­mal benutz­ten. „Außer­or­dent­lich“ war ein emo­tio­nal auf­ge­la­de­nes Wort, zu far­big, zu hoch­ge­sto­chen, zu gewollt; es war ein­fach cha­rak­te­ris­tisch für die Spra­che von der ande­ren Sei­te der See, und „cha­rak­te­ris­tisch“, war nur ein wei­te­res Bei­spiel für sol­che Wörter.

Das Anein­an­der­rei­hen der Wör­ter sorgt dafür, dass die  Gedan­ken­gän­ge und Asso­zia­tio­nen der Prot­ago­nis­tin unge­fil­tert erschei­nen. Über­haupt ist das Auf­lis­ten von Wör­tern, oft han­delt es sich um Syn­ony­me, eine Tech­nik, die Burns immer wie­der ver­wen­det und den Roman so zwar an die Gren­zen der Les­bar­keit bringt, ihm aber auch eine Dring­lich­keit und unbe­zwing­ba­re Ener­gie ver­leiht. Durch sei­ne sprach­li­che Gestal­tung the­ma­ti­siert der Roman zudem das Nach­den­ken der bele­se­nen Prot­ago­nis­tin über ihren eige­nen Umgang mit Spra­che. Sie tes­tet Wör­ter aus (in die­sem Sin­ne einer Über­set­ze­rin ähn­lich), sucht nach pas­sen­den Umschrei­bun­gen, um das zu beschrei­ben, was nicht aus­ge­spro­chen wer­den darf. Spra­che wird so zum Politikum.

Oft folgt Burns einem kli­mak­ti­schen Auf­bau („too much of a colo­rant, too high-fly­ing, too pos­tu­ri­ng”), der in sei­ner Län­ge vari­ie­ren kann und von Kroll sehr prä­zi­se ins Deut­sche mit­über­nom­men wur­de als ein Mit­tel, das dem Schwall eine Struk­tur gibt. Wei­te­re Mit­tel sind nicht nur zahl­rei­che Wort­wie­der­ho­lun­gen, die oft als Moment zum Inne­hal­ten die­nen, son­dern auch Wort­zu­sam­men­set­zun­gen, die in der Über­set­zung fast noch bes­ser funk­tio­nie­ren als im Ori­gi­nal. Aus „voca­bu­la­ry watch­dogs“ wird bei­spiels­wei­se „Voka­bel­wach­hun­de“, aus der „renoun­cer-of-the-sta­te-bomb“ wird „Staats­ver­wei­ge­rer­bom­be“. Bei der Über­set­zung von „his peddling of super­he­ro free­dom-fight­ing to such a noi­sy ext­ent“ als „mit sei­nem Super­hel­den­frei­heits­kämp­fer­ge­fa­sel laut­stark hau­sie­ren [gehen]“, hat sich Kroll die Frei­heit genom­men, das ohne­hin lan­ge Kom­po­si­tum noch mit „Gefa­sel“ zu ergän­zen, um so die Komik noch bes­ser her­vor­zu­he­ben – im Deut­schen pro­blem­los möglich.

Kroll nimmt sich Frei­hei­ten her­aus, wo sie essen­zi­ell für das Gelin­gen des deut­schen Texts sind. Ohne erkenn­ba­re Schwie­rig­kei­ten herrscht sie über die Mas­se an Wör­tern, an Text, die Burns ihr lie­fert, und über­trägt sie mit allen Regis­ter­wech­seln, Anspie­lun­gen und Wort­ket­ten in ein unbe­fan­ge­nes, spie­le­ri­sches, aber auch anspruchs­vol­les Deutsch. Dies sorgt nicht nur für eine ein­dring­li­che und beein­dru­cken­de Lek­tü­re, son­dern macht trotz der erns­ten The­ma­tik auch sehr viel Spaß:

You’re one of the who’s‑it girls, aren’t you? So-and-so was your father, wasn’t he? Your brot­hers, thin­gy, thin­gy, thin­gy and thin­gy, used to play in the hur­ley team, didn’t they? Hop in. I’ll give you a lift.
Du bist doch eine von den Dings­da-Schwes­tern, oder? Der-und-der war dein Vater. Dei­ne Brü­der Dings, Dings, Dings und Dings waren doch im Hur­ling-Team. Spring rein. Ich nehm dich mit.

Drei Fra­gen an Anna-Nina Kroll

Die eng­lisch­spra­chi­ge Kri­tik hat den Roman sehr gelobt, die Leser­stim­men (auf Good­Reads bei­spiels­wei­se) sind aller­dings eher ver­hal­ten. Hat Ihnen der Roman gefallen?

Die nach und nach ein­tru­deln­den Kri­ti­ken der deutsch­spra­chi­gen Pres­se lesen sich genau­so posi­tiv, und auch die Rück­mel­dung der Leser*innen wür­de ich nicht als ver­hal­ten bezeich­nen. Das Buch pro­vo­ziert im Ori­gi­nal wie in der Über­set­zung star­ke Reak­tio­nen, zwi­schen gran­di­os und grot­tig scheint es da nicht viel zu geben. Ich bin natür­lich vor­ein­ge­nom­men und freue mich über alle posi­ti­ven Reak­tio­nen, weil ich das Buch unheim­lich mag. Anna Burns macht begreif­bar, wie tota­li­tä­re Gesell­schaf­ten ticken und wohin Sprach­lo­sig­keit und Gerüch­te füh­ren kön­nen. Es ist fast ein Über­fluss an Spra­che, mit dem sie die­ser Sprach­lo­sig­keit begeg­net, und zusätz­lich, bei aller Düs­ter­keit des The­mas, mit einem herr­lich absur­den Humor. Über die klei­nen Schwes­tern der Prot­ago­nis­tin könn­te ich mich zum Bei­spiel schief­la­chen. Klar, die Lek­tü­re ist nichts für zwi­schen­durch, sie braucht Zeit und Kon­zen­tra­ti­on, aber wer es bis ins letz­te Drit­tel schafft, wird belohnt. Und gera­de weil der Text so dicht ist, hat er einen hohen Wiederlesbarkeitswert.

Die Erzäh­le­rin schweift in ihren Mono­lo­gen oft ab. War es schwie­rig, beim Über­set­zen den roten Faden im Blick zu behalten?

Die kur­ze Ant­wort: Ja. Aber das Ver­lie­ren des roten Fadens gehört ja durch­aus zum Kon­zept. Die Über­for­de­rung der Prot­ago­nis­tin spie­gelt sich in ihren lan­gen Sät­zen und Abschwei­fun­gen wider, sie ver­steckt sich dar­in vor ihrem Ver­fol­ger, die Hand­lung erstarrt zwi­schen­durch so wie sie vor ihm. Wegen der häu­fi­gen Wie­der­ho­lun­gen und Rück­be­zü­ge habe ich mir tat­säch­lich ein klei­nes Glos­sar ange­legt, in dem ich schnell nach­schla­gen konn­te, für wel­che Über­set­zung ich mich jeweils ent­schie­den hat­te. Und auch die lan­ge Rei­he an Geschwis­tern muss­te ich mir ein­mal auf­schrei­ben. Das hat sich ein biss­chen ange­fühlt wie frü­her die Text­auf­ga­ben in Mathe.

Wel­che über­set­ze­ri­schen Aspek­te fan­den Sie bei der Arbeit an die­sem Roman beson­ders interessant?

Beson­ders inter­es­sant, weil beson­ders schwie­rig, fand ich es, die Andeu­tun­gen und das zwi­schen den Zei­len Geschrie­be­ne erst mal selbst zu ent­schlüs­seln und dann auf Deutsch wie­der­zu­ge­ben. In den Nord­ir­land­kon­flikt muss­te ich mich ein biss­chen ein­ar­bei­ten, denn der Roman ist zwar uni­ver­sell les­bar, die Bezü­ge und Euphe­mis­men sind aber trotz­dem ein­deu­tig die der „Trou­bles“. Deut­sche Aus­drü­cke erzeu­gen natür­lich nicht die glei­chen Asso­zia­tio­nen, wobei ich die deutsch spre­chen­den Figu­ren der Sieb­zi­ger ja kaum jedes Schlag­wort auf Eng­lisch aus­spre­chen las­sen kann, das wür­de ziem­lich knirschen.

Über­rascht hat mich, wie sehr ein gutes Hör­buch die Arbeit an der Über­set­zung unter­stüt­zen kann. Beim ers­ten Lesen hat bei mir noch der klaus­tro­pho­bi­sche Ein­druck über­wo­gen, aber die Schau­spie­le­rin Bríd Brennan kit­zelt den Humor des Tex­tes toll her­aus und hat mir oft beim Durch­hal­ten gehol­fen, wenn ich die Sei­te vor lau­ter Buch­sta­ben nicht mehr gese­hen habe.

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