Im Zentrum von Topols Roman steht eine tschechische Schaustellerfamilie, die seit Jahren durch ganz Europa tourt, um Theatervorstellungen zu geben, bis sie feststellen muss, dass sie in Zeiten der Flüchtlingskrise und des Brexits nicht mehr erwünscht ist. In Bristol werden sie mit den Worten „LEAVE MEANS LEAVE! NO CZECH VERMIN!“ fortgejagt, und auch in Frankreich sind sie nicht willkommen, sodass sie gen Osten reisen und sich schließlich im russisch-ukrainischen Kriegsgebiet wiederfinden. Von dort aus fliehen sie (im BMW von Gérard Dépardieu) zurück nach Böhmen, wo sie an der Sázava, einem Nebenfluss der Moldau, wieder heimisch werden wollen. Doch auch hier hat sich vieles verändert und die Familie hastet am Fluss entlang von einer Misere in die nächste.
Schon durch die Protagonisten wird den Leserinnen und Lesern schnell klar, dass ihnen eine ungewöhnliche Reise bevorsteht: Da gibt es zum einen die Eltern, den schreibenden und schauspielenden Vater und die einäugige Mutter, die beide dem Alkohol nicht gerade abgeneigt sind und die Geburt ihrer Zwillinge unter einer Brücke erleben mussten. Und da gibt es zum anderen die Zwillinge, den „Winzling“, der nicht wächst und den ganzen Roman über im Säuglingszustand verweilt, und „den Jungen“ , der nicht spricht, sich aber stets rührend (oder jedenfalls so gut es geht) um seinen kleineren Zwillingsbruder kümmert. Und neben der Familie gibt es unzählige weitere „abgehängte“ Menschen – haufenweise Prostituierte, Kleinkriminelle oder den zu den Russen übergelaufenen Bruder des Vaters, Iwan. Und auch der tschechische Präsident Miloš Zeman hat einen kurzen Auftritt, denn deutliche Kritik an der aktuellen Politik findet in Topols Roman ebenfalls seinen Platz.
Bei der Lektüre der ersten Romanseiten kann es durchaus passieren, dass man schlicht und einfach überfordert ist. Überfordert vom ersten Satz, der einen Fluch des Vaters darstellt („Wie soll ich mich hier konzentrieren, Himmel und Arsch?“) und dem damit verbundenen plötzlichen Einstieg in die Handlung; aber vor allem überfordert von der Andersartigkeit der Sprache, von der Umgangs- und der Bildsprache, die nur so vor Stilmitteln und Eigenheiten strotzt und ohne Punkt und Komma mit voller Wortwucht auf den Leser einprasselt: „Vaters Heft, bekritzelt bekrakelt, mit Wein und Kaffee bekleckst, saust über das schlafende Kindlein und verschwindet im Plunder.“ Doch merkt man ebenso schnell, dass diese Wörter einen besonderen Klang haben, jeder Satz hat einen besonderen Rhythmus und die Silben überspülen den Leser ohne Rücksicht auf Verluste und ziehen ihn in den Sog des Romans. Nimm diese Alliteration, Leser, und nimm gleich auch noch ein paar Diminutive und den ganzen anderen Plunder dazu!
Zuerst überrascht die Sprache des Romans also, doch wenn man sich darauf einlässt, wird man als Leser belohnt und darf ungehemmt in die Vielfalt der deutschen Sprache eintauchen und auf Komposita-Entdeckungstour gehen. Doch wie ist die Übersetzerin auf all diese wundersamen Worte gestoßen? Eva Profousová ist keine deutsche Muttersprachlerin, sie ist in Tschechien aufgewachsen, zog aber 1983 nach Hamburg und übersetzt seit vielen Jahren tschechische Literatur ins Deutsche. Dass Übersetzerinnen nicht in ihre Muttersprache, sondern in eine Fremdsprache übersetzen, ist eher ungewöhnlich und hat vielleicht dazu beigetragen, dass die deutsche Übersetzung so wortgewaltig und mutig geworden ist. Profousová hat alle möglichen literarischen Quellen verwendet, um die deutsche Sprache von ihrer vielfältigsten Seite zu zeigen. So diente beispielsweise Susanne Langes Übersetzung von Cervantes Don Quijote als Inspirationsquelle für den kreativen Umgang mit Sprache und auch das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm war ein wichtiger Begleiter während des Übersetzungsprozesses, wie die Übersetzerin bei einer Veranstaltung der Weltlesebühne vergangenen Dezember in Münster erzählt.
Bei der Übersetzung des tschechischen Romans habe sie vor allem die Komposita für sich entdeckt, mit denen man nach Lust und Laune neue Worte schöpfen kann, berichtet Profousová. Und das merkt man dem Text an: Die von Profousová kreierten Komposita sind für den sprachbegeisterten Leser eine große Freude. So begegnet man Worten wie „Pummelnonne“, „Latrinenparolen“, „Kollektivkoller“, „Motorreiterin“, „Protohippies und Paläopunks“. Oftmals werden diese kreativen Komposita von klanglich perfekt passenden Adjektiven begleitet, und so zischt und brummt es beim Lesen nur so, weil doppelte Konsonanten, Plosive und Frikative aufeinanderprallen und zu Zungenakrobatik animieren:
In ihre Lederkombis verplombt, prügeln sie auf das Auto ein, nicht einmal der Schwall vom geborstenen Glas kann ihre Begeisterung mindern, bei jedem Schlag spritzen ihnen frische Splitter ins Gesicht, in den Bart, vom Glasgeysir verletzt feiern sie munter weiter, stellen ihre mit Blut verschmierten Gesichter wie eine Opfergabe aus.
Eine besondere Leistung hat Profousová mit der Kunstsprache vollbracht, die sie für Iwan, den Bruder des Vaters, erfunden hat. Iwan ist nach Russland gegangen und spricht – als Zeichen seiner Verbundenheit mit dem Land – eine Art Kunstsprache, die ans Russische erinnert. Dieser gelungene Kunstgriff sorgt für eine gehörige Portion Humor und zwingt den Leser regelrecht dazu, die Worte gedanklich so auszusprechen, wie Iwan es tut:
Kchultur, gemeinsam Schatz von Menschcheit, du findest auch? Mechtig Weltchunstler und Artisten Einladung bekommt, und du sprichst Soschtschenko! Chorch, was du sagst!
Oder:
Brat, ich Immobilien kchaufen an liebrreizend Sázava. Ich liebe Josef Lada immerfort! Will leben dort. In Bochemija. Will leben! Bruder, chorch zu … ich chabe Gelt, chaufenweise Berge von Gelt!
Das Lektorat hat Profousová beim Übersetzen passend zum Originaltext offenbar einige Freiheiten gelassen, so sind auch Begriffe aus dem süddeutschen oder österreichischen Raum, die von vielen Lektoren normalerweise gestrichen werden, sowie Umgangssprache ein fester Bestandteil des Romans. Profousová zufolge habe Topol die Umgangssprache in der tschechischen Literatur überhaupt erst etabliert und viele tschechische Autoren zur Verwendung dieser inspiriert. In der Übersetzung ist die verwendete Umgangssprache auch ein auffallendes Merkmal, das allerdings perfekt zum Umfeld und dem ungewöhnlichen Leben der Schaustellerfamilie und der anderen Überlebenskünstler passt. So wird mit grammatischen Tabus gebrochen („sie strauchelte, fiel auf dem seine Hellebarde …“), die Mündlichkeit ist ein allgegenwärtiger Faktor, Akronyme werden ausgeschrieben (BäEhmWäh für BMW) und Fremdwörter werden so geschrieben, wie sie im Roman ausgesprochen werden. Dadurch begegnet man beim Lesen den interessanten Wörtern Juhtjuhben oder Häpyent, die aufzeigen, dass die Lebenswirklichkeit der „Abgehängten“ eine völlig andere ist. Auch Luisel Wojton darf nicht fehlen:
Und stellteuch vor, Männers, dass die Toilettenassistenzen Fetzen von Luisel Wojton tragen, ja, von dieser Papstschneiderei. Da sind so Täschchen für Schrubber und Bürsten angenäht, aber geschickt, damit man ein Stück Busen sieht, nicht zu doll, so wie bei den Stewardessen, wisstihr?
Und all diese sprachlichen Besonderheiten – Komposita, Kunstsprache, Neologismen und Umgangssprache – werden durch Rhythmus und Klang begleitet, die das Tempo und die Verrücktheit der Handlung gekonnt untermalen. Ein Satz wie „Die beiden mit ihren gefatschten Schädeln sehen wie Statisten in einem Videoclip über Krüppeldating aus“ wird dem Leser ungefiltert entgegengepfeffert. Geschaffen wurde eine harte Sprache, die die Hässlichkeit der Realität nicht verschleiert, aber als geschlossenes System dennoch Schönheit verkörpert – die Schönheit und Vielfältigkeit der deutschen Sprache in all ihren Facetten.
Eva Profousová ist mit ihrer Übersetzung die perfekte Symbiose von Form und Inhalt gelungen. Die Sprache spiegelt die irren Wendungen des Geschehens und den überall vorherrschenden Wahnsinn der Gegenwart meisterlich wider. Zwar kostet es den Leser zu Beginn etwas Mühe, in diesen auf allen Ebenen anwesenden Wahnsinn hineinzufinden, doch wird er dafür mit einer berauschenden und politisch hochaktuellen Roadnovel belohnt. Profousovás Übersetzung ist eine Ode an die moderne deutsche Sprache. Und so möchte ich zum Abschluss einen Satz des Romans abwandeln:
Und nur eine wahrlich empfindsame Übersetzerin kann die Hitze nachfühlen, mit der dem Autor mögliche Sprachphantastereien durch das bollernde Hirn schossen.
Jáchym Topol/Eva Profousová: Ein empfindsamer Mensch (im tschechischen Original: Citlivý člověk).
Suhrkamp 2019 ⋅ 494 Seiten ⋅ 25 Euro
www.suhrkamp.de/buecher/ein_empfindsamer_mensch-jachym_topol_42864.html