Wie hast du Chinesisch gelernt?
In der Schule habe ich mehrere europäische Sprachen gelernt und durfte auch in die Sprachwissenschaft hineinschnuppern. Danach wollte ich eine ganz andere, möglichst ferne Sprache kennenlernen, und am Ende hat meine Neugierde auf die ungewöhnlichen Schriftzeichen den Ausschlag für Chinesisch gegeben. Ich wollte wissen, wie eine Sprache funktioniert, die auf den ersten Blick so gar nicht wie die mir bisher bekannten Sprachen wirkte.
Ich habe also Sinologie und Germanistik studiert. Damals, Mitte der 80er Jahre, gab es in China einen riesigen Wirtschaftsboom, in der Folge haben wir mit sehr hohen Studierendenzahlen angefangen. Aber nahezu zwei Drittel gaben gleich in den ersten Wochen und Monaten vor allem wegen der Schriftzeichen wieder auf. Während des Studiums war ich dann auch zum ersten Mal live in China, mit Anfang zwanzig, damals noch ohne Internet und ohne internationalen Telefonanschluss im Wohnheim, eine einschneidende Erfahrung. Ich studierte in Nanjing, reiste in viele Regionen des Landes und gleich im Anschluss für ein halbes Jahr ins „andere China“, nach Taiwan, via Hongkong und Macao, um möglichst viel China direkt zu erleben. 1989 kam ich schließlich über Peking mit der Transsibirischen Eisenbahn zurück nach Deutschland, nur wenige Monate vor dem Tiananmen-Massaker im Juni, das man rückblickend wohl durchaus als den Beginn der Umkehr Chinas zurück zu Diktatur und Überwachungsstaat ansehen kann.
Reist du heute noch oft nach China?
Insbesondere die Überwachung, aber auch die schlechte Lebensmittelqualität sowie die enorme Umweltverschmutzung und ‑zerstörung verleiden mir heute den Gedanken an einen Aufenthalt dort eher. Politische Dissidenten wie der kritische Reportage-Schriftsteller Liao Yiwu, der sich 2011 zur Flucht aus China gezwungen sah, werden unter der Regierung Xi Jinping als „Landesverräter“, die den „chinesischen Traum“ in den Schmutz ziehen, massiv verfolgt. Ich kann meine Augen vor dieser Situation nicht mehr einfach verschließen, die mir in zu vielen Texten, auch von mir selbst übersetzten, begegnet. Mittlerweile ist mir deshalb Taiwan, das demokratische China, wo ich eine sehr schöne Zeit als DAAD-Lektorin verbracht habe, sympathischer als die VR. So kann ich auch ohne Bedenken Literatur übersetzen, die in der VR China verboten ist, ohne mir Sorgen um mögliche Einreiseprobleme machen zu müssen.
Wie sieht die chinesische Literaturszene aus?
Von der chinesischen Literaturszene kann man eigentlich gar nicht sprechen, denn sie ist alles andere als einheitlich. Chinesischsprachige Literatur wird – daran denkt man ja bei „China“ als erstes – in der VR China geschrieben. Dort ist weiter zu unterscheiden zwischen einer von staatlicher Seite geförderten oder geduldeten Literaturszene und der sogenannten Dissidentenliteratur, die sich mehr oder weniger offen, und mehr oder weniger verfolgt, zum Teil ins Ausland vertrieben, kritisch und gegen die staatliche Zensur mit der Situation im eigenen Land auseinandersetzt. Und natürlich gibt es auch Literatur, die unpolitisch ist oder sein will.
Chinesischsprachige Literatur wird aber auch in Taiwan geschrieben, ein de facto eigenständiges Land mit eigener Regierung und – vor allem unter den jüngeren Generationen – einem unabhängigen Selbstverständnis, multikulturell und seit der Demokratisierung in den 80er und 90er Jahren mit einer immer bunteren Literaturszene. Dort wird heute im Prinzip alles geschrieben, was für ein modernes, vielfältiges und freies Land kennzeichnend ist.
Schließlich gibt es eigene kleine Literaturszenen in der Sonderverwaltungszone Hongkong, wo zur Zeit ebenfalls vor allem junge Menschen gegen das ungeliebte Regime in Peking und die offizielle Politik des „Ein Land, zwei Systeme“ mobil machen, und in Macao, einer ehemals portugiesischen Kolonie, heute das Spielparadies der VR China, und nicht zuletzt in der Diaspora der Auslandschinesen. Beispiele dafür sind der Literaturnobelpreisträger des Jahres 2000, Gao Xingjian, in Frankreich und der bereits erwähnte Liao Yiwu in Deutschland.
Wie hat sich die chinesische Literatur entwickelt?
Wenn man auch mündlich tradierte Formen wie Volkslieder berücksichtigt, reicht die chinesische Literatur über dreitausend Jahre zurück. Wir finden Gedichte in großer Zahl, die berühmtesten aus den Dynastien Tang und Song (7.–13. Jh.), aber auch Prosatexte und Theaterstücke. Bei uns sind neben den Gedichten vor allem die „klassischen“ Romane der Dynastien Ming und Qing (14. Jh.-1911) bekannt, zumeist in der Übersetzung von Franz Kuhn: Der Traum der Roten Kammer, Kin Ping Meh oder Die abenteuerliche Geschichte von Hsi Men und seinen sechs Frauen, Die drei Reiche, Die Räuber vom Liang-Schan-Moor und Die Reise in den Westen.
Die moderne Literatur beginnt in China nach dem Untergang des chinesischen Kaiserreichs (1911) mit der äußerst einflussreichen „4.-Mai-Bewegung“ 1919, die für eine veränderte, moderne und demokratische Gesellschaft, Kultur und für eine allgemeinverständliche, nicht elitäre Literatur in Umgangssprache stritt. Der wahrscheinlich bedeutendste Schriftsteller der damaligen Zeit war Lu Xun (auch Lu Hsün), dessen Kurzgeschichte Das Tagebuch eines Verrückten als Gründungstext der modernen chinesischen Literatur gilt. Sie fängt an mit einem Vorspann in traditioneller Literatursprache und wechselt für die Tagebucheinträge in eine vergleichsweise einfache, der realen Umgangssprache nahe, neue literarische Sprache.
Später kommt es zu einer zunehmenden Ideologisierung der Literatur. Die gegensätzlichen Ziele von Kommunisten und Nationalisten für China, bis 1945 durch die antijapanische Einheitsfront mühsam überdeckt, münden 1945, nach der Niederlage Japans im 2. Weltkrieg, in einen Bürgerkrieg und führen 1949 zur Spaltung Chinas in die VR China unter Mao Zedong und die (autoritär regierte) Republik China unter Chiang Kai-Shek auf der Insel Taiwan. In der VR China verschwindet zuletzt jede Kultur, Kunst und Literatur jenseits der Ideologie während der „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ (1966–1976) vollständig. Nach deren Ende erholt sich die Literaturszene langsam mit neuen Ansätzen wie der sogenannten „Narbenliteratur“ und der „Suche nach den Wurzeln“ sowie der „Obskuren Lyrik“, die sich – nicht unähnlich der Situation in Deutschland nach der Nazi-Diktatur – erneut auf die Suche nach einer neuen, von der Propaganda nicht verbrauchten Sprache begibt. Auf Taiwan ergeht es der Literatur zunächst nur insoweit besser, wie sie im Sinne der dortigen neuen, vom Festland geflohenen nationalistischen Machthaber ist: Romantisierende „Erinnerungsliteratur“ an das Leben auf dem Festland und antikommunistische Propagandaliteratur stehen hoch im Kurs. Die bereits ansässigen Inselbewohner und kritische Stimmen spielen keine Rolle. Erst mit der Demokratisierung des Landes ändert sich dies grundlegend und die taiwanische Literaturszene wird schnell vielfältig und vielstimmig.
Was sollte man unbedingt gelesen haben?
Von den traditionellen Dichtern sollte man auf jeden Fall Li Bai (auch Li Bo, Li Tai-po u. ä.) und Du Fu (Tu Fu) kennen, die gelegentlich als Goethe und Schiller Chinas bezeichnet werden. Dazu kommen die erwähnten klassischen Romane, die einen spannenden Eindruck vom Leben im alten China geben, sowie Shen Fus autobiographische Sechs Aufzeichnungen eines unsteten Lebens. Für die moderne Zeit möchte ich neben Lu Xun auch die anderen Prosa- und Lyrikwerke in der edition pengkun nahelegen. Außerdem finde ich persönlich Die Familie von Ba Jin und das Theaterstück Das Teehaus von Lao She äußerst lesenswert. Auch eine Handvoll Schriftstellerinnen (z. B. Ding Ling, Xiao Hong, Zhang Ailing) könnte man hier mit einflussreichen Werken aufzählen.
Für Gesellschaft und Leben in der heutigen VR China empfehle ich aus meiner eigenen Übersetzer- und Leseerfahrung zuallererst den aus China vertriebenen Reportage-Schriftsteller Liao Yiwu, insbesondere seine autobiographischen Werke, über seine Zeit im Gefängnis und seine Flucht aus China, sowie seine literarisch bearbeiteten Interviews mit Außenseitern und Randexistenzen der chinesischen Gesellschaft, Kriminellen, kriminalisierten politisch Verfolgten, aber auch mit Künstlern, verfolgten Christen und nicht zuletzt mit und über (auch getötete) Demonstranten auf dem Tiananmen-Platz 1989. Man erhält dort beeindruckende, selbst für Kenner Chinas neue Einblicke in die Vielschichtigkeit des Lebens in der bei uns oft so eindimensional wahrgenommenen VR China. Doch auch ein Autor wie Murong Xuecun (Hao Qun) eröffnet mit seinem Roman Chengdu, vergiss mich heut Nacht interessante Perspektiven auf das Leben junger Menschen in China.
Weitere Namen sind der Literaturnobelpreisträger Gao Xingjian, der ebenfalls in Frankreich lebende Schriftsteller und Filmemacher Dai Sijie, die Lyriker Duo Duo, Gu Cheng, Yang Lian, Zhang Zao (Obskure und Postobskure Lyrik) und der Graphic Novel-Verfasser Li Kuanwu, der sich in Bildern im Stil chinesischer Landschaftsmalerei mit dem Eisenbahnbau in Yunnan und dem Leben während der Kulturrevolution befasst.
Was ist noch nicht übersetzt?
Zahlreiche der genannten Werke, Autoren und Autorinnen sind bisher gar nicht bzw. nur in Teilen übersetzt oder könnten eine Neuübersetzung vertragen, die ihre literarischen Qualitäten klarer hervortreten lässt. Ich möchte bei dieser Frage aber wieder Taiwan etwas mehr in den Vordergrund rücken. Taiwan darf international keine Rolle spielen, weil sonst die VR China sofort interveniert. Wirtschaftlich hat man es dennoch geschafft, sich ein eigenes Standing zu erarbeiten, in der Corona-Krise hat man sich durch hervorragendes Krisenmanagement ebenfalls beträchtliches Ansehen erworben. Kulturell versucht man hingegen schon seit geraumer Zeit, auch in Deutschland, mit staatlich geförderten Projekten, zu denen unter anderem eine Übersetzungsförderung für literarische Werke von der Insel gehört, verstärkt zur Kenntnis genommen zu werden, bislang mit mäßigem Erfolg, obwohl es durchaus interessante Autoren und Autorinnen gibt, die über die verschiedensten Themen einer modernen, multikulturellen Gesellschaft schreiben. Besonders erwähnenswert finde ich:
- Shang Qin (1930–2010), einen modernen, surrealistischen Lyriker, der noch zur Kriegsgeneration gehörte,
- Qiu Miaojin, eine lesbische Schriftstellerin, die in Taiwan die Homosexuellen-Literatur mitbegründete und sich 1995 das Leben nahm, ihr bekanntestes Werk ist der modernistische und recht skurrile autobiographische Roman Aufzeichnungen eines Krokodils,
- die Schriftstellerin Marula Liu (Liu Zijie), die unter anderem die später verfilmte Erzählung Sieben Tage Trauer geschrieben hat,
- den Schriftsteller Syaman Rapongan, der zu einer taiwanischen regionalen Minderheit gehört,
- sowie Kan Yaoming und Liu Ka-shiang.
Sie alle erzählen in der ein oder anderen Weise vom Leben, den Menschen, ihrem Denken und den Problemen auf der Insel und dabei auch von globalen Themen wie Umweltzerstörung, gesellschaftlichen Auswirkungen der Globalisierung vor Ort und dem Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft.
Was sind die größten Schwierigkeiten beim Übersetzen aus dem Chinesischen? Wie gehst du damit um?
Chinesisch kann vieles offen lassen, da es keine Flexion gibt und die Schriftzeichen unabhängig von der Funktion eines Wortes im Satz immer gleich aussehen. Bezüge werden nicht aufgrund von Wortformen deutlich. Auch Verben werden im Chinesischen nicht konjugiert, man sieht ihnen also Tempus und Modus nicht direkt an. Ein Text oder ein Textabschnitt kann damit, wenn es gewünscht ist, zeitlos und in unklaren Zwischenräumen geschrieben sein, so dass der Leser nicht weiß, ob etwas in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft passiert oder allgemeingültig gedacht ist, ob etwas real, Traum oder irreal ist, ob es Erzählung, direkte oder indirekte Rede ist. Auch das Subjekt muss nicht immer notwendig genannt werden und ist aus dem Verb ohne Konjugation nicht erschließbar, der Numerus kann ebenfalls fehlen, Artikel gibt es nicht. Im Deutschen muss man in all diesen Fällen präziser sein und die sprachlogischen und semantischen Verhältnisse und Bezüge selbst gestalten, um die Übersetzung nachvollziehbar und verständlich zu machen.
Eine andere Schwierigkeit ist die Vielfältigkeit der chinesischen Sprache, die aus der großen Sprecherzahl und dem riesigen Sprachgebiet resultiert: Im chinesischsprachigen Raum gibt es wie im deutschsprachigen D‑A-CH-Raum natürlich ebenfalls verschiedene Dialekte, Soziolekte und Ethnolekte, die sich aufgrund der großen Entfernungen zwischen den Sprechergruppen zum Teil noch wesentlich stärker unterscheiden als bei uns und auch zahlreicher sind. Die Schriftzeichen sind dabei identisch, aber die sprachlichen Strukturen, der Wortschatz und Redewendungen können erheblich voneinander abweichen. Hier hilft neuerdings das Internet ganz ungemein, denn da oft auch Chinesen aus anderen Regionen solche Ausdrucksweisen nicht verstehen und diese nicht unbedingt in chinesischsprachigen Wörterbüchern stehen, fragen sie selbst im Internet danach, und man findet Erklärungen in perfekter chinesischer Hochsprache, manchmal sogar direkt Übersetzungen ins Hochchinesische.
Was kann Chinesisch, was Deutsch nicht kann?
Die Schwäche des Chinesischen ist auch seine Stärke: Das Chinesische kann vieles offen lassen und damit sehr „implizit“ bleiben, was natürlich gerade für literarische Werke reizvoll sein kann. Der Schriftsteller und Sinologe Günter Eich schrieb dazu einmal, das Deutsche ziele auf den wissenschaftlichen, das Chinesische auf den weisen Menschen. Diese Implizitheit zusammen mit den chinesischen Schriftzeichen – zum Teil noch heute, vor allem aber im vormodernen Chinesisch kann ein Schriftzeichen für ein Wort stehen – ermöglicht eine beeindruckende inhaltliche Dichte des Chinesischen, die in hohem Maße der Lyrik zugutekommt, wo beispielsweise in einer Verszeile mit fünf Schriftzeichen sehr viel gesagt und noch mehr impliziert sein kann.
Nicht zuletzt lässt sich mit der visuellen Komponente der chinesischen Schriftzeichen in Texten auch spielen, indem man bestimmte Bedeutungselemente, aus denen die Zeichen sich zusammensetzen, gezielt heraushebt, beispielsweise Schriftzeichen aneinanderreiht oder regelmäßig über einen Text verteilt, die alle das Bedeutungselement „Wasser“ oder „Wort, sprechen“ oder „Mensch“ enthalten. Solche Stilmittel sind in der Übersetzung praktisch nicht nachzuahmen.
Brigitte Höhenrieder studierte in Würzburg, Tübingen, Nanjing und Taipei Sinologie und Germanistik, am Rande Japanologie und Philosophie, promovierte in chinesischer Sprachwissenschaft, war 2009–2014 DAAD-Lektorin in Taipei und ist seit 2018 Dozentin am Arbeitsbereich Interkulturelle Germanistik des FTSK Germersheim der Uni Mainz. Seit den 90er Jahren übersetzt sie aus dem Chinesischen, professionell chinesische Literatur seit etwa 2005. Zusammen mit Hans Peter Hoffmann ist sie Übersetzerin des chinesischen Dissidenten und Schriftstellers Liao Yiwu für den Fischer Verlag. Sie geben gemeinsam die „edition pengkun“ des projektverlags heraus, in der wichtige Werke der chinesischsprachigen Literatur nach 1919 erscheinen. 2018 hat Brigitte außerdem aus dem Englischen „Die Welt des Xi Jinping“ von Kerry Brown übersetzt.