Hunderte, wenn nicht Tausende Kinder und Jugendliche haben während des Zweiten Weltkriegs Tagebuch geführt. Es wird Zeit, diese Zeugnisse der Vergangenheit neu zu lesen.
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Am 5. Mai 1945 schien alles vorbei zu sein. Fünfeinhalb Jahre lang war an nichts anderes zu denken gewesen als an das blanke Überleben, doch nun taumelte das Dritte Reich seinem Ende entgegen. Auschwitz war befreit, Hitler tot und zwischen den Hauptquartieren der Kriegsparteien gingen eilige Depeschen hin und her. Kapitulation lag in der Luft.
Auch im Ghetto Theresienstadt, 60 Kilometer nördlich von Prag, einem der letzten aktiven Konzentrationslager, zerfiel die deutsche Herrschaft. Die, die eben noch in SS-Uniform durch die Straßen patrouilliert waren, begaben sich auf die Flucht oder versuchten verzweifelt, rechtzeitig vor dem Eintreffen der Roten Armee an Zivilkleidung zu gelangen. In den Straßen jubelten schon die Freischärler unter der neuen Flagge der Tschechoslowakei.
Inmitten dieser welthistorischen Verwerfungen wurde Alice Ehrmann achtzehn Jahre alt. Zwölf war sie gewesen, als der Krieg begann, mit sechzehn war sie ins Ghetto gekommen, ihre Jugend war ihr geraubt worden, ihr Leben verdankte sie glücklichen Zufällen. Vor ihr, und in ihr, lag nichts als ein großer Scherbenhaufen. An Feiern war nicht zu denken.
Was eigentlich ist, weiß keiner. Ich sehe und höre alles und kann eine Bitterkeit nicht unterdrücken: Feiern – es ist für alles zu spät. Und was sie feiern, die armen Juden, eben aufs blutigste belehrt – fangen sie von Neuem an … Und wie sie feiern, Pöbel, Pöbel. Ich bin traurig und müde, es ist alles sinnlos. Umsonst waren die Jahre, umsonst wurden die 6 Millionen gemartert. Schon der erste Tag nach Beendung, und er sagt nur eines: „umsonst“. Ich denke, wie sinnlos, sinnlos dies ist, und denke mit Bitterkeit daran, welche Menschen das Schicksal aufgespart hat, und ich denke an Dich.
Alice Ehrmanns Tagebuch, geführt im Theresienstädter Ghetto vom 18. Oktober 1944 bis zum 19. Mai 1945, ist eins der unglaublichsten Zeugnisse des Holocaust. Sie begann mit dem Schreiben, als ihr Freund und späterer Mann Ze’ev Shek deportiert wurde. Von Anfang an ist das Tagebuch von einem tiefen Gefühl der Verlorenheit durchzogen, vom Gefühl des Verlustes und der Sinnlosigkeit.
Ehrmann findet für ihre innere Leere eine vehemente Sprache. Ihre schonungslos schroffen Notizen sprechen mit voller poetischer Wucht aus dem Inneren einer versehrten jungen Frau, die zwar überlebte, aber dem Weiterleben keine Hoffnung mehr abringen kann. Auch das endgültige Kriegsende am 8. Mai, der Tag den wir heute „Tag der Befreiung“ nennen, ist für sie kein Grund zum Feiern:
Abends um halb zehn die ersten Russen. Gebrüll und Jubel. Gestern sangen sie tschechische Lieder und trugen Trikoloren, heute singen sie die Internationale und tragen rote Fahnen durch die Stadt. Es ist in mir eine Bitterkeit, ich kann nicht mehr mit ihnen gehen, denn in mir brach etwas. Und an mir liegt eine Last von Jahrhunderten, aufgewühlt und lebendig. Ich habe nur einen Weg, und mich ekelt dies alles an. Menschen ekeln mich an. Indem ich an sie denken muss, kommt über mich eine Hoffnungslosigkeit derer, die alles Unverdaute aller Singenden ertragen müssen.
Natürlich war Alice Ehrmann nicht die einzige, die in jenen Stunden ihre Gedanken und Gefühle schriftlich festhielt. So wie sie schrieben während des Zweiten Weltkriegs Hunderte, höchstwahrscheinlich Tausende Kinder und Jugendliche Tagebücher. Die allermeisten dieser Zeugnisse dürften in den Kriegs- und Fluchtwirren verloren gegangen, verbrannt, zerstört worden sein. Doch etliche haben überlebt und erzählen bis heute, wie junge Menschen auf der ganzen Welt den verheerendsten Krieg und das größte Massenverbrechen in der Geschichte der Menschheit erlebt haben.
Viele dieser Tagebücher mussten Jahrzehnte warten, ehe sie erzählen durften, und manchen, selbst wenn sie überlebt haben, hört bis heute kaum jemand zu. Diese Tagebücher sind der vielleicht größte ungehobene historisch-literarische Schatz des vergangenen Jahrhunderts. In vielen Fällen dauerte es über sechzig Jahre, bis sich jemand für die Zeugnisse dieser Kinder interessierte, viele weitere liegen bis heute unveröffentlicht in Archiven oder privaten Sammlungen.
Für diese Verspätung gibt es viele Gründe. Vor allem schrieb natürlich kaum jemand mit dem festen Vorsatz, das Tagebuch zu veröffentlichen. Vielen kam es nach dem Krieg gar nicht in den Sinn, ihr Dokument an andere Personen oder gar Verlage weiterzureichen. Viele Tagebücher verbrachten Jahrzehnte auf Dachböden oder in staubigen Kisten, ehe sie in den Händen einer Wissenschaftlerin oder eines Archivars landeten, die den Text einer größeren Öffentlichkeit bekannt machen konnten.
Dass aber auch jene Tagebücher, die überlebten, und sogar viele von denen, die veröffentlicht wurden, wenig Aufmerksamkeit erhielten oder ganz dem Vergessen anheimfielen, hat auch mit jenem Text zu tun, der schon seit den Vierzigerjahren das Genre der Kindertagebücher (wenn nicht aller Tagebücher insgesamt) überstrahlte und dominierte: dem Tagebuch der Anne Frank.
Anne Franks Aufzeichnungen aus dem Hinterhaus in der Amsterdamer Prinsengracht traten bereits in den 1950er Jahren einen beispiellosen Erfolgszug rund um die Welt – auch durch Deutschland – an. Das literarische Talent des jungen Mädchens, das den Tagebuchtext noch vor ihrer Deportation für eine spätere Veröffentlichung überarbeitete, und ihr bewegendes Schicksal waren dafür die gewichtigsten Gründe.
Hinzu kam die „Gnade der frühen Entdeckung“, denn zu dem Zeitpunkt, als Anne Franks Vater Otto sich um die Veröffentlichung ihres Tagebuchs bemühte, hatte es noch keine so ausführlichen Berichte über die Judenverfolgung aus erster Hand gegeben.
Die enorme Popularität der Anne Frank führte in der Folge paradoxerweise dazu, dass nicht immer mehr, sondern so gut wie gar keine Tagebücher anderer Kinder ihren Weg zu den Leserinnen und Lesern fanden. Denn wenn, wie es 1951 in einer Rezension in der ZEIT hieß, „das tragische Einzelschicksal dieses halben Kindes [zeigt], wie die Kraft seines unglücklichen Volkes unter dem Druck der Gewalt sich zu behaupten vermag“ – wenn also Anne Frank schon pars pro toto für das gesamte, „unglückliche“, sich aber gleichwohl „behauptende“ jüdische Volk stand, wozu brauchte es dann noch weitere Veröffentlichungen?
Der uniformierte Blick auf die Erfahrungswelt von Kindern und Jugendlichen äußert sich bis heute in den Verlagsankündigungen und Klappentexten von Tagebüchern aus der Zeit des Holocaust. Hier hat der geneigte Leser inzwischen die Wahl zwischen einer französischen Anne Frank, einer ungarischen Anne Frank, verschiedener polnischer Anne Franks, ja sogar einer „nichtjüdischen“ Anne Frank, einer Anne Frank „mit Happy End“, um nur einige Beispiele aufzuführen.
Dass derartige Gleichsetzungen weder literarisch noch historisch noch vergangenheitspolitisch sinnvoll sind und allerhöchstens als schlappe Verkaufsargumente taugen, dürfte auf der Hand liegen. Schließlich gehen die Erfahrungen, die einige der Tagebuch schreibenden Kinder unter der NS-Herrschaft machen mussten, weit über das hinaus, was Anne Frank in ihrem Hinterhaus erlebte.
Eine außergewöhnliche Verfolgungsgeschichte erzählt das Tagebuch von Otto Wolf, das bisher nur auf Tschechisch und in Auszügen auf Englisch veröffentlicht wurde. Wolf war wie Anne Frank einer jener Juden, die sich jahrelang vor den Nazis versteckten – die Geschichte seiner Flucht gleicht aber einem lebensgefährlichen Abenteuer.
Als der gerade fünfzehnjährige Otto gemeinsam im Sommer 1942 gemeinsam mit seinen Eltern Berthold und Růžena sowie seiner älteren Schwester Felicitas angewiesen wurde, ihr Heimatdorf Tršice zu verlassen und sich im nahe gelegenen Olomouc (deutsch Olmütz) zur Deportation zu melden, tauchten sie ab. Mit einem befreundeten Gärtner namens Slávek hatten sie ein Versteck im Wald vorbereitet, in dem sie von nun an fast zwei Jahre lang leben sollten. Die dramatische Flucht dorthin beschreibt Otto in seinem ersten Tagebucheintrag mit charakteristischer Nüchternheit:
Um 2 Uhr nachmittags fahren wir von Tršice nach Olomouc, zur Übersiedlung. Es fährt uns Josef Lón, denn Zdařilová konnte niemanden anderen auftreiben. Der Abschied fällt schwer und wir sind sehr wütend. Wir fahren reichlich schnell, daher sind wir um 4 Uhr nachmittags in Olomouc. Vor der Abfahrt habe ich im Gemeindeamt in Tršice den Wohnungsschlüssel abgegeben und für Licka eine Identitätskarte ausstellen lassen. In Olomouc-Hodolany stiegen wir ab und sagten zu Lón, wir würden einen Arzt und Bekannte aufsuchen. Wir gingen also ungefähr von ½ 5 nachmittags von Olomouc-Hodolany nach Tršice. Lón gab die Pakete in der Schule ab und wir marschierten nach Tršice. Wir liefen unermüdlich bis ¾ 12 in der Nacht. (…) Also im Wald kamen wir erst um Mitternacht an. (…) Viel schlafen wir nicht, wir liegen nur wach. Wir fühlen uns wie geprügelt.
Von nun an lebte die Familie von den Zuwendungen ihres Freundes Slávek – ein Zustand, der inmitten des laufenden Krieges und der Judenverfolgung nicht ohne Spannungen ablief. Das Tagebuch des jungen Otto beschreibt Tag um Tag in kargen Einträgen die stumpfen Stimmungsschwankungen der zwangsisolierten Familie, die Langeweile, das Bangen um die nächste Mahlzeit, ums eigene Überleben.
Als es für die Wolfs in ihrem Waldversteck Anfang 1944 zu unsicher wird, ziehen sie auf den Dachboden einer Familie namens Zbořil, wo sie für ein knappes Jahr versteckt bleiben. Doch gegen Ende des Krieges, als sich die Lage für Juden in der Tschechoslowakei immer weiter zuspitzt, müssen sie erneut umziehen und kommen in einer Scheune unter.
Für Otto ist der Aufenthalt dort nur von kurzer Dauer: Am 18. April wird er von einer Truppe der Wlassow-Armee bei einer Vergeltungsaktion aufgespürt, verschleppt und zwei Tage später, nachdem er sich auch unter Folter geweigert hatte, den Aufenthaltsort seiner Familie preiszugeben, in einem nahe gelegenen Wald erschossen und verscharrt.
Sein Tagebuch aber überlebt, auch weil seine sieben Jahre ältere Schwester Felicitas sich seiner annimmt und es ohne Unterbrechung weiterführt. Die drei Wochen zwischen Ottos Gefangennahme am 18. April und dem Kriegsende am 8. Mai gehören zu den bedrückendsten Tagebuchpassagen überhaupt: Die Familie haust aus Angst vor weiteren Razzien bei Minusgraden und Regen ohne Nahrung im Freien, zunehmend verdreckt, krank und verzweifelt. Doch sie überleben.
Im Wald wurde gekämpft, die Kugeln prallten an Bäumen in unserer Nähe ab, wir versuchten, ihnen auszuweichen, aber schließlich beschlossen wir, dass es keinen anderen Ausweg gäbe, als einen der nassen, mit Erde verschütteten Verschläge zu benutzen. Dann hörten wir endlich jemanden Servuus! schreien. Wir konnten nicht glauben, auf was wir drei Jahre lang gewartet hatten. Meine Mama und ich wollten nicht herausklettern, wir hatten Angst, uns zu früh zu zeigen. Darum haben wir mit Papa im Bunker gewartet, bis wir endlich, schlammbespritzt und in schrecklichem Zustand herauskamen.
Tagebücher sind nicht einfach Bücher, sie sind Tage-Bücher: Sie sind dabei gewesen. Sie selbst sind Zeugen der Geschichte, die sie an der Oberfläche erzählen. Sie sind selbst versteckt worden. Sie haben selbst in dem Schlamm gelegen, der in ihnen beschrieben wird. Anders als Erinnerungen, Erzählungen oder andere im Nachhinein entstandene Erfahrungsberichte sind sie im besten Fall direkte Zeugnisse ihrer eigenen Entstehung und als solche wahr.
Die Texte selbst bezeugen und reflektieren oft genug ihre eigene Entstehung und wachsen so als Objekte über ihre Urheber hinaus. Hastig hingekritzelte Notizen erzählen uns von der Beklemmung der einen Urheber, sorgfältig ausformulierte Einträge von der Langeweile der anderen. Das Papier, die Tinte, die Schrift, die Sprache, die Rechtschreibfehler, sie alle erzählen ihre eigene Geschichte.
Wer die Tagebücher heute, in gedruckten Ausgaben und mit dem Abstand von 75 Jahren liest, mag erwarten, dass sie uns einen gewissermaßen unverstellten Blick auf ihre Urheber erlauben. Doch diese Erwartung läuft oft genug ins Leere: Auch wenn sich manche der jungen Autorinnen und Autoren ihren „anonymen“ Tagebüchern oft freier mitteilen als ihren Freunden oder Verwandten, bleibt ihre eigene Persönlichkeit in vielen der Tagebücher erstaunlich vage.
Wer Otto Wolfs Tagebuch liest, der wird sich der Person Otto Wolf hinterher kaum näher fühlen, als zuvor, so spärlich und nüchtern sind seine Einträge verfasst. Doch man braucht die Identifikation mit dem jungen Autor nicht: Das Dokument spricht für sich.
Die kitschige Idee, dass Tagebücher wie das der Anne Frank ihre Autorin „unsterblich“ machen oder „über den Tod hinaus weiterleben lassen“ könnten, hielt sich nichtsdestotrotz sehr lange. Erst Anfang der 2000er Jahre ermöglichte die Historikerin Alexandra Zapruder mit ihrer bahnbrechenden Publikation Salvaged Pages einen neuen Blick auf diese Quellen. In ihrer Einleitung schrieb sie:
Although publishing more diaries may seem to move the dialogue forward by suggesting that Anne Frank wasn’t the only writer and that young people all over Europe kept diaries, the meaning we glean from them remains locked in a consolatory mold that obscures rather than elucidates what they contribute to our understanding of the Holocaust. Although many diaries can give the tempting illusion that the reader is in the presence of the writer […] it is unfortunately not so. Whether personal or not, private or public, spontaneous or crafted, the content of the diary does not allow us to come to know the writer, its survival does not permit a deceased diarist to „live on“, nor does its existence confer literary immortality upon the person who penned it.
Es mag so scheinen, als bringe die Veröffentlichung weiterer Tagebücher den Dialog voran, als werde dadurch klarer, dass Anne Frank nur eine von vielen Tagebuchschreibern in Europa war. Doch was wir aus ihnen lernen, bleibt in einem Trostförmchen eingeschlossen, das ihren Beitrag zu unserem Verständnis des Holocaust eher verdeckt als offenlegt. Auch wenn sich viele Tagebüchern so lesen, als seien wir direkt dabei: das ist leider eine verführerische Illusion. Das Tagebuch mag persönlicher oder unpersönlicher Natur sein, spontan notiert oder ausformuliert, sein Inhalt bringt uns den Urhebern nicht nahe, ihr Überleben lässt eine verstorbene Tagebuchschreiberin nicht „weiterleben“, und seine Existenz verleiht der Person, die es geschrieben hat, auch keine literarische Unsterblichkeit.
Die Urheber der Tagebücher sind entweder verstorben oder gealtert, doch die Tagebücher selbst – fragmentarisch und unvollständig, wie sie sind – konservieren auf ihre Art einen historischen Moment, zu dem außer ihnen niemand mehr direkten Zugang hat. Sie treten als Objekte in den Vordergrund und wollen bewahrt werden.
„Es kommt mir vor wie ein Unfall“, sagt Zapruder im Interview mit TraLaLit, „wie ein Wink des Schicksals, dass überhaupt irgendwelche dieser Bücher überlebt haben. Sie haben fast etwas Heiliges an sich, wie ein Schatz, weil einfach so viel zerstört wurde.“
Einen solchen Schatz fand im Juli 1945 inmitten der Ruinen des Ghettos Litzmannstadt (polnisch Łódź) ein Mann namens Avraham Benkel. Er hatte als einziger in seiner Familie Auschwitz überlebt; jetzt kehrte an seinen früheren Wohnort zurück, den er aber geplündert und verwüstet vorfand. Doch in einem Nachbarhaus lag ein Büchlein, das den Plünderern des Ghettos offenbar nicht wichtig genug gewesen war. Von außen sah es aus wie ein konventioneller französischer Roman, doch seine Innenseite war über und über bedeckt mit hineingekritzelten Einträgen eines unbekannten Kindes.
Benkel, ahnend, welch wertvolles Zeugnis er vor sich hatte, steckte das Buch ein, bewahrte es sein ganzes Leben lang und übergab es 1970 schließlich der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.
Über den Autor dieser Zeilen ist fast nichts bekannt, außer, dass es ein Junge war, weil er in seinen hebräischen und polnischen Passagen maskuline Verben der ersten Person Singular verwendete. Er schrieb sein Tagebuch nicht nur in die Leerräume eines französischen Romans, er schrieb auch abwechselnd in gleich vier Sprachen (Polnisch, Jiddisch, Hebräisch, Englisch), die er offenbar alle ähnlich gut beherrschte.
Aus dem Buch geht nicht hervor, was den anonymen Autor dazu bewog, seine Tagebucheinträge geradezu manisch repetitiv immer und immer wieder zu übersetzen. Die Vermutung liegt aber nahe, dass er vor einer möglichst großen Leserschaft Zeugnis über das Unrecht ablegen wollte, das ihm widerfuhr, und dass er sich deshalb aller Sprachen bediente, die er beherrschte – ein in der Geschichte des Holocaust wohl einzigartiges Verfahren.
Im Ghetto von Litzmannstadt war der anonyme Autor dem Vernichtungswesen der Nazis deutlich näher als die meisten der anderen Tagebuchschreiber, die uns bekannt sind. Insofern nimmt die Angst vor der Zukunft und der Hass auf die deutschen Peiniger in seinen Aufzeichnungen großen Raum ein.
I meditate over the future – if we have any at all! Then if we should walk the same path our heroic brethren have gone – can we speak about any future – eternity has no future whatever! The death and merdered [dead and murdered] don’t have any calendar! But sure of either life or death we can’t be – maybe that they would be thwarted in their “noble” plan, our infernal, devillish, satanic German fiends – and we shall have the narrowest of escapes? – to tell decent un-German humanity about their deeds! And curse the abominable name for evermore!
Voller Angst grübele ich über die Zukunft nach – falls wir überhaupt eine haben! Denn wenn wir denselben Weg nehmen müßten wie unsere heldenmütigen Brüder, können wir dann von einer Zukunft sprechen – in der Ewigkeit gibt es keinen Kalender! Aber wir können nicht sicher sein, ob wir leben oder sterben werden – mag sein, daß eure „edlen“ Pläne vereitelt werden, ihr höllischen, teuflischen, satanischen deutschen Freunde – und daß wir entkommen, um der anständigen nichtdeutschen Menschheit von ihren Taten zu berichten! Und ihren abscheulichen Namen auf immer zu verfluchen!
Wie das Publikum in Deutschland und anderswo dieses Tagebuch wohl aufgenommen hätte, wäre es anstelle der Aufzeichnungen der Anne Frank 1950 in deutscher Übersetzung erschienen? Einer Nachkriegsgesellschaft, die die Kunst der betroffenheitsrhetorisch ummäntelten Vergangenheitsverdrängung perfektioniert hatte, kam der sanfte Universalismus eines Mädchens, das „trotz allem […] noch an das Gute im Menschen“ glaubte, viel mehr gelegen, als der gerechte Furor dieses anonymen Tagebuchs.
Der hochintelligente, polyglotte Tagebuchschreiber aus Łódź deutet aber noch auf einen weiteren wichtigen Aspekt der Zeugnisse aus jener Zeit hin. Sein Tagebuch, so wusste er, würde das unermessliche Leid, das ihm und allen um ihn herum widerfuhr, höchstens abbilden, aber nie begreiflich oder gar fühlbar machen können. Auf Polnisch schrieb er, wahrscheinlich im Juli 1944:
Für jemanden, der nicht mit uns zusammen war, wäre es nicht möglich, sich vorzustellen, was wir durchgemacht haben, zu arm ist die menschliche Sprache, um nur den Mangel an Worten zu beschreiben, die nötig wären, unsere Leiden teilweise annähernd zu schildern. Von dem Anspruch, unsere Realität wiederzugeben, ganz zu schweigen.
Wenige Seiten nach diesem Eintrag bricht das Tagebuch ab. Über das Schicksal seines Urhebers ist bis heute nichts bekannt.
Aus den Vernichtungslagern gibt es keine Tagebücher. Die Abwesenheit der Berichte muss uns Nachgeborenen als Bericht genügen. Nur aus den Vorahnungen, den Gerüchten, letztlich: aus dem jähen Abbruch der Einträge können wir auf das Grauen schließen, das so viele Kinder erwartete, als sie, von Tagebuch und Familie getrennt, in den Tod gehen mussten.
Es sind daher die Enden, die letzten Seiten der Tagebücher, die besonders zu uns sprechen. Viele wirken im Nachhinein geradezu prophetisch, allen voran die berühmte Auslöschungsphantasie am Ende des Tagebuchs der Anne Frank, die am 1. August 1944 schrieb:
[…] ten slotte draai ik mijn hart weer om, draai het slechte naar buiten, het goede naar binnen en zoek aldoor naar een middel om te worden, zoals ik zo erg graag zou willen zijn en zoals ik zou kunnen zijn, als … er geén andere mensen in de wereld zouden wonen.
[…] schließlich drehe ich mein Herz wieder um, drehe das Schlechte nach außen, das Gute nach innen und suche dauernd nach einem Mittel, um so zu werden, wie ich sein könnte, wenn … wenn keine anderen Menschen auf der Welt leben würden.
Drei Tage später wurde sie verhaftet und deportiert.
Hélène Berr, eine französische Studentin, die sich im besetzten Paris verstecken musste, aber 1944 entdeckt und nach Bergen-Belsen deportiert wurde, beendete ihr Tagebuch kurz zuvor mit einem Zitat aus Shakespeares Macbeth: „Horror! Horror! Horror!“
Auch der namenlose Junge aus Łódź scheint etwas von dem ihm bevorstehenden Schicksal geahnt zu haben. Sein Tagebuch steigert sich gegen Ende Juli, als die Deutschen das Ghetto vor der Ankunft der Russen aufzulösen suchten, in immer fieberhaftere Verzweiflungsschübe, ehe es in einem nicht mehr datierten, in hebräischer Sprache verfassten Gottesanrufung endet:
Mein Gott, warum gestattest du ihnen zu sagen, du seist neutral? Warum bestrafst du nicht jene, die uns vernichten, mit deinem geballtem Zorn? Sind wir etwa die Sünder und jene die Gerechten? Soll das die Wahrheit sein? Wahrlich, du weißt doch, dass es nicht so ist: Wir sind nicht die Sünder und sie sind nicht der Messias!
Berichte wie den des anonymen Jungen zu übersetzen ist eine besondere Erfahrung. Die Unmittelbarkeit der Vorlagen verlangt allen, die sich daran machen, verdoppeltes Fingerspitzengefühl ab, und nicht immer gelingt die Arbeit.
Die erste Übersetzerin Anne Franks, eine gewisse Anneliese Schütz, über die ansonsten wenig bekannt ist, kannte das Mädchen zwar noch aus Vorkriegszeiten persönlich, machte aber aus dem aufmüpfigen Teenager ein braves, betuliches Stubenmädchen, das es sich in seiner Opferrolle recht gemütlich gemacht hatte. Erst 1986 erschien die bis heute kanonische Neuübersetzung von Mirjam Pressler, die das Tagebuch als rohes, unfertiges Zeitdokument neu lesbar und nach eigenem Bekunden „offener und ehrlicher“ machte.
Dabei ist Anne Franks Tagebuch noch ein literarischer, ja: süffig lesbarer Vertreter seines Genres. Kenneth Kronenberg, der für den bereits erwähnten Sammelband „Salvaged Pages“ Alice Ehrmanns dürre, widerborstige Aufzeichnungen ins Englische zu bringen hatte, merkte im Nachhinein, wie sich seine Übersetzung von ihm seltsam „entfremdet“ hatte.
When I translate personal material (letters, diaries, etc.), I quickly and without much effort seem to „seat“ myself in the writer, identifying and conversing with him or her, becoming something like a channel. Often, I have an almost photographic sense of the original and the translation. That was not the case here. In reflecting on this phenomenon, I can only surmise that the myriad of successive images and feelings, often frightening, which Alice must have set down rapidly and with a constant sense of danger, short-circuited my usual method. Perhaps I translated on something like automatic pilot–and then repressed the memory. Or perhaps it just went through me and was gone.
Wenn ich persönliche Texte (wie Briefe oder Tagebücher) übersetze, dann ist es, als ob ich mich schnell und mühelos in dem Autor oder der Autorin „niederlasse“, eins werde mit ihm oder ihr, konversiere, eine Art Kanal werde. Oft habe ich ein geradezu fotografisches Gedächtnis für Original und Übersetzung. In diesem Fall war es anders. Wenn ich darüber nachdenke, kann ich nur vermuten, dass die ungeheure Abfolge von Bildern und Gefühlen, die Alice schnell und unter steter Bedrohung niedergeschrieben haben muss, meine übliche Methode zum Kurzschluss brachte. Vielleicht übersetzte ich mit einer Art Autopilot und unterdrückte das Gedächtnis. Vielleicht lief es auch einfach durch mich hindurch und war fort.
Ganz ähnlich wie Kronenberg erging es auch Eva Profousová, die im Jahr 2006 das Tagebuch des Petr Ginz aus dem Tschechischen ins Deutsche übersetzte. Hinter den dürren Zeilen dieses zu Beginn seiner Aufzeichnungen 12 Jahre alten Jungen schien keine Stimme hörbar, kein Charakter erkennbar zu sein. Der Mensch Petr Ginz war beim Übersetzen, so beschreibt sie es, „nicht greifbar“.
Übersetzerinnen und Übersetzer haben ein feines Gespür für Texte. Was ihnen beim Übersetzen schwer fällt (auch wenn es hinterher wieder leicht und schnell zu lesen ist), das ist in der Regel auf die eine oder andere Art außergewöhnlich, meistens auf keine schlechte Art.
In diesem Fall deuten die Berichte von Kronenberg und Profousová auf den Umstand hin, dass ihre Texte einen Hohlraum unseres literarischen Bewusstseins besetzen, den wir sonst gar nicht kennen würden. Auf der einen Seite sind wir es gewohnt, Romane und Erzählungen zu lesen. Wir wissen, wie das geht. Und auf der anderen Seite kennen wir historische Quellen und wissen, wie die historische Wissenschaft mit ihnen umgeht.
Die Kindertagebücher gehören in keine dieser Kategorien, oder eigentlich in beide. Sie sind selbst historische Dokumente, aber zugleich sind sie Narrationen von ungeheurer Wirkmacht. Das kalte Handwerkszeug des Historikers wird ihnen ebenso wenig gerecht wie der Ornat blumiger Groschenheftausgaben. Sie sind Kunstform und Zeitdokument zugleich, sie sind Werke eigenen Ranges und wollen als solche gelesen werden.
Diese Doppelnatur der Tagebücher hat ihnen den Erfolg auf dem Buchmarkt bisher verweigert. Auch wenn viele der entdeckten Tagebücher inzwischen auch in Deutschland veröffentlicht wurden: Selbst die herausgebenden Verlage schienen bisweilen unsicher, wo sie einzusortieren seien, man hat den Eindruck, als Genre-Bezeichnung sei den Verantwortlichen mehr als „Anne Frank“ nicht eingefallen. Echte historisch-kritische Ausgaben sind dementsprechend selten.
Dabei könnten uns genau diese Tagebücher einen neuen Blick auf die Geschichte lehren. Vielleicht ist es Zeit, die „Rührung“, „Betroffenheit“, „Ergriffenheit“ oder „Erschütterung“, die in Rezensionen fast schon reflexartig hergebetet wird, hinter uns zu lassen. Vielleicht ist die Zeit 75 Jahre nach Kriegsende reif für eine erinnerungspolitische Schubumkehr.
Die Lektüre der deutschen Ausgaben von vielen Tagebüchern sowie der Rezensionen drängt den Verdacht auf, dass sich Verlage und Leser langsam, aber sicher in eine Ergriffenheitsecke manövriert haben, aus der sie ohne fremde Hilfe nicht mehr herauskommen. Wenn mit der Veröffentlichung von Tagebüchern „à la Anne Frank“ nur noch weiterer Rührteig in die von Zapruder beschriebenen „Trostförmchen“ gefüllt wird, ist das vielleicht noch der sentimentalen Erbauung, nicht aber der historischen Gewissensbildung zuträglich.
Es ist nichts dagegen zu sagen, sich von den Zeilen eines unter grässlicher, existenzieller Bedrohung leidenden Kindes rühren zu lassen. Doch wenn diese Rührung zur anerzogenen Standardreaktion auf solche Tagebücher wird, steht die Publikation weiterer solcher Bücher einer produktiven Auseinandersetzung mit der eigenen, in diesem speziellen Fall: deutschen Geschichte geradezu im Weg.
Rührung funktioniert durch Identifikation. Durch den scheinbaren Wegfall der Unterscheidung von Autor und Erzähler fällt es leicht, sich mit den jungen Autorinnen und Autoren zu identifizieren – die Welt aus ihren Augen zu sehen. Wenn wir die Tagebücher von Alice Ehrmann, Anne Frank, Otto Wolf oder anderen lesen, fühlen wir uns den historischen Personen nahe, glauben mit ihnen zu leiden.
Doch im Gegensatz zu diesen leiden wir nicht. Alice Ehrmann überlebte mit Glück ein Konzentrationslager, Anne Frank wurde vergast, Otto Wolf erschossen – im wirklichen Leben, von real existierenden Menschen, von Deutschen.
Die bloße Identifikation mit den Opfern führt in diesem Fall in eine Sackgasse, der wir nur entkommen, wenn wir den Blick noch einmal weiten.
Den ‚Totengrund‘ werde ich so schnell nicht vergessen“, schreibt die zwölfjährige Hilke am 2. Juli 1941 in ihr Tagebuch. Daheim in Hamburg war es für das Mädchen und ihren zwei Jahre älteren Bruder Henning unter den fortdauernden Bombardements zu gefährlich geworden, deshalb verbrachten sie ihre Ferien in der Lüneburger Heide, in einem „Bauernhaus mit Strohdach (ohne elektrisches Licht)“ im Norden der Lüneburger Heide. Im „Totengrund“, einem romantischen Heidestück in der Nähe von Wilsede, machten die Kinder einen aufregenden Fund:
Wir fanden dort 3 junge Hasen. Die Mutter war fort und ein Habicht kreiste über ihrem Nest. Wir nahmen sie mit nach Hause. Eins starb unterwegs, und ich legte es unter eine Tanne. Die zwei anderen nahmen wir mit nach Hamburg. Da sie noch nicht alleine trinken konnten mussten wir ihnen mit einem Strohhalm Milch einflössen. Nach 3 Wochen starb das 2. Das 3. nannten wir Heidi. Jetzt ist Heidi schon groß und kann alleine trinken.
Tags drauf berichtet Hilke von einem Wettschwimmen mit den Jungmädeln, später in diesem Sommer erhält sie ihr Zeugnis und freut sich auf vier Wochen im Harz („Hoffentlich finden wir viele Blaubeeren“), muss aber hinterher berichten, es habe „fast immer Regen“ gegeben, was sie aber nicht davon abhielt, „sehr viele Pilze“ zu finden und festzustellen: „So dunkle Tannen habe ich mir immer gewünscht.“
Erst wenn man das Tagebuch der jungen Hilke liest, einem ganz normalen Kind aus einer bürgerlichen, nichtjüdischen Durchschnittsfamilie, gewinnt man ein Gefühl für die Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen während der Kriegsjahre, und die mörderische Ungerechtigkeit des NS-Regimes.
Dabei besteht Hilkes Kriegserfahrung keineswegs nur aus Häschen- und Pilzfunden. Zu den eindrücklichsten Passagen ihres Kriegstagebuchs zählen die späteren Beschreibungen der Verwüstungen in Deutschland und ihrer abenteuerlichen Reisen quer durch das zerstörte Land.
Und dennoch liest sich ihr Tagebuch fast wie ein Negativ all der anderen Tagebücher von verfolgten und deportierten Kindern, und ist genau deshalb so aufschlussreich. Wenn wir lesen, wie Hilke im Sommer 1942 reiten lernt, dann werden die Freiheitsphantasien einer Anne Frank fast schon körperlich spürbar. Wenn sie im April 1945 schreibt, „das Schlimmste“ sei, „von den Angehörigen getrennt zu sein“, dann kann man kaum anders als an die Beschreibungen von Alice Ehrmann, Helga Weiss und anderen aus dem Theresienstädter Ghetto zu denken, in dem SS-Offiziere Angehörige bewusst auseinanderrissen.
Hilke, die später einen englischen Arzt heiratete, den sie durch einen gemeinsamen jüdischen Bekannten kennen gelernt hatte, war kein glühender Nazi, keine Gewaltverherrlicherin, keine Judenhasserin, auch wenn sie die Hakenkreuzflagge bis zuletzt so hoch achtete, dass sie empört den Raum verließ, als diese in den letzten Kriegstagen zum Geschirrabtrocknen zweckentfremdet wurde. Mit derlei Kategorien kommt man bei einem Menschen, der bei Kriegsende 16 Jahre alt war und sich keiner Verbrechen schuldig gemacht hat, nicht weit.
Doch auch wenn die Deportationen und Vernichtungen in ihrem Tagebuch nicht vorkommen, gehört Hilkes Tagebuch zur Geschichte des Holocaust. Denn im Gegensatz zu den Tagebüchern von Alice, Anne, Otto & Co. schildert sie das Leben der meisten Deutschen, die weder SS-Schergen noch KZ-Insassen waren und das System, ob wissentlich oder nicht, bis 1945 am Laufen hielten.
Wer die Frage nach historischer Schuld und Verantwortung im 21. Jahrhundert neu stellen will, der muss Hilkes Tagebuch lesen.
Und doch ist etwas an diesem Tagebuch beunruhigend. Das liegt nicht an der jungen und eigentlich nicht unsympathischen, höchstens etwas naiven Hilke, sondern an ihrer Schwester Geseke, die das Buch im Jahr 2009 zuerst in englischer Übersetzung und dann auch in Deutschland herausbrachte.
Auch Geseke Clark war Anne Frank und das allgegenwärtige Anne-Frank-Klischee selbstverständlich bekannt – ob sie weitere Tagebücher aus jener Zeit kannte, wissen wir nicht. Doch anstatt das Zeitdokument ihrer Schwester, wie es zu erwarten gewesen wäre, diesem Klischee gegenüberzustellen, unternahm sie offensichtlich den Versuch, es diesem zuzuordnen! In ihrem Vorwort schreibt sie:
Ich hoffe, dass diese Geschichte jungen Lesern von heute ein wenig helfen wird, ihr Verständnis für die Kriegsauswirkungen auf Kinder und Völker zu vertiefen. Vielleicht kann dieses Büchlein sie auch zu der Einsicht inspirieren, dass wir Menschen im Grunde alle eine große Familie sind. Ganz gleich, zu welchem Land wir gehören – auf der anderen Seite der Grenze befinden sich Brüder und Schwestern mit ähnlichen Problemen und Freuden wie den unseren. Ich hoffe, dass diese bewegende Geschichte vielleicht einige unserer jungen Leute dazu motivieren wird, auf eine bessere, friedlichere Welt hinzuwirken.
Wie kann das sein? Wie soll ein Buch, das Kindern und wie Erwachsenen die Geschichte einer offensichtlich systemkonformen Jugendlichen erzählt, uns vermitteln, dass wir „im Grunde alle eine große Familie sind“?
Im Jahr 1999 erschien in Israel ein Buch, das, wäre es in deutscher Übersetzung erschienen, das Zeug zum erinnerungspolitischen Paukenschlag gehabt hätte. In jahrelanger Detailarbeit hatte die Kulturwissenschaftlerin Zohar Shavit, selbst Jahrgang 1951, einen Korpus von über 300 deutschen Kinder- und Jugendbüchern zum Holocaust ausgewertet und beschrieb, ausgehend von ihrer Lektüre, die deutsche Erinnerungskultur als „Past without Shadow“, als „Vergangenheit ohne Schatten“, als gigantische kollektive Verdrängungsleistung, die sich in der Lektüre für junge Leserinnen und Leser auf ganz besondere Weise manifestiere.
In Deutschland, so ihr Fazit, habe sich seit 1945 ein Narrativ etabliert, das nicht die Erinnerung an die systematische Vernichtung der Juden wachhalte, sondern vielmehr die Erinnerung an das Leid der deutschen Bevölkerung, das unter den Folgen des Krieges genauso gelitten habe wie alle anderen.
It is […] hard not to notice that the horrors of the period, as well as German responsibility for them, are almost entirely purged in German children’s literature books […]. As an alternative, they offer a “story” that features the Germans as the prime and sometimes the sole victims of the Third Reich and the Holocaust. In fact, the making of Germans into the main victims lies at the heart of the “historical narrative.”
Es ist schwer zu übersehen, dass die Schrecken dieser Zeit und die deutsche Verantwortung für sie aus der deutschen Kinderliteratur fast gänzlich getilgt wurden. Als Alternative bieten sie eine „Geschichte“, in der die Deutschen die hauptsächlichen, manchmal sogar die einzigen Opfer des Dritten Reiches und des Holocaust waren. Die Vorstellung, die Deutschen seien die hauptsächlichen Opfer gewesen, liegt im Kern des „historischen Narrativs“.
Das prominenteste Beispiel für diese Form der Geschichtsklitterei dürfte Hans Peter Richters Pseudo-Tagebuch „Damals war es Friedrich“ sein. 1961 erschienen, gehört es bis heute zum Kanon der deutschen Schullektüre und bildet für viele Heranwachsende den ersten Kontaktpunkt mit der deutschen NS-Vergangenheit.
Richter schildert aus der Sicht eines namenlosen, arischen Ich-Erzählers, geboren Mitte der Zwanzigerjahre, und eines gleichaltrigen jüdischen Nachbarsjungen namens Friedrich die zunehmende Ausgrenzung und Entrechtung der Juden zwischen 1933 und 1944. Von klein auf mit Friedrich befreundet, beobachtet der Ich-Erzähler ungläubig und machtlos, wie sich die Lage für diesen immer dramatischer verschlimmert, bis er schließlich, von einem brutalen NS-Luftschutzwart aus dem Luftschutzkeller vertrieben, im Bombenhagel ums Leben kommt.
„Damals war es Friedrich“ ist in vieler Hinsicht ein Musterbeispiel für Shavits Analyse. Denn entgegen seiner unverkennbar hehren Absicht, Jugendliche für das Leid während der NS-Zeit zu sensibilisieren, ermöglicht es auch eine geradezu kontra-historische Lesart, in der die Deutschen nicht die Täter, sondern eigentlich die Guten waren.
In der erwähnten Schlussszene ist es nämlich einzig und allein der als Unsympath charakterisierte Luftschutzwart Resch, der dem inzwischen verwaisten Friedrich während des Luftangriffs den Zutritt zum Bunker verwehrt. Nachdem ein Feldwebel (!) den Wart auffordert, Friedrich doch für die Dauer des Angriffs einzulassen, doziert dieser: „Wissen Sie, was das ist? Das ist ein Jude!“, woraufhin es „von allen Seiten“ (sic!) tönt: „Er soll den Jungen drinlassen!“
Nach dem Angriff finden der Luftschutzwart und Friedrichs Familie den leblosen Friedrich in einem Hauseingang:
Vater zog Mutter beim Ärmel.
Mutter schlug die Hände vors Gesicht.
Herr Resch hob den Fuß und trat Friedrich.
Friedrich rollte aus dem geschützten Hauseingang auf den Plattenweg. Von der rechten Schläfe zog sich eine Blutspur bis zum Kragen.
Meine Hand verkrampfte sich in den dornigen Rosensträuchern.
„Sein Glück, dass er so umgekommen ist“, sagte Herr Resch.
Mit diesem ungeheuren Diktum endet das Buch. Mit einem Mal steht noch der eine „Bösewicht“ des Buches, der in der Konstruktion des Romans als abscheulicher Repräsentant des Regimes fungierte, als Wohltäter da, der dem jungen Juden den Gang in die Gaskammer erspart hat. Von dieser Szene, die, man muss es noch einmal betonen, bis heute zur Standardlektüre an deutschen Schulen gehört, ist es nicht weit zu den abstrusesten Geschichtsverdrehereien.
Mit seiner grotesken Schlussszene und dem kitschig-naiven Geschichtsbild, in dem die meisten Deutschen eigentlich gut waren, weil sie eigentlich nichts gegen Juden hatten und entweder nur nicht den Mumm oder die Mittel hatten oder genug damit zu tun, mit dem eigenen schlimmen Schicksal fertig zu werden, um sich für diese in irgendeiner Form stark zu machen, steht Damals war es Friedrich für eine ganze Tradition deutscher Selbstillusionierung angesichts des Holocaust, die inzwischen Regalmeter an Büchern und Filmen füllt.
Doch ist es nicht letztlich nur ein Kinderbuch? Muss man den gesamten erinnerungspolitischen Ballast von 75 Jahren Nachkriegszeit ausgerechnet in den Kinderzimmern und Klassenräumen abladen? Zohar Shavit stellt sich diese Fragen ebenfalls, weist aber auf die identitätsbildende Funktion dieser Bücher hin:
I contend that, despite the low cultural status of children’s literature, the books in question play a fundamental role in the construction of the Germans‘ past image. Images perceived at a young age are internalized and tend to remain, becoming a cornerstone in historical memory and knowledge. The books in question […] participate in determining the world-view of children, and due to the socializing function of children’s literature they take part in establishing attitudes that the children carry into adulthood.
Aus meiner Sicht spielen diese Bücher trotz des niedrigen kulturellen Status der Kinderliteratur eine fundamentale Rolle bei der Konstruktion des deutschen Geschichtsbildes. Bilder, die man in jungen Jahren aufnimmt, werden internalisiert und tendenziell nicht vergessen, sie werden zum Grundstein der Erinnerung und des historischen Wissens. Diese Bücher haben Anteil am Weltbild von Kindern, und da Kinderliteratur auch eine Sozialisierungskomponente hat, formen sie Haltungen, die ins Erwachsenenalter mitgenommen werden.
In Zeiten, in denen 3 Prozent der Deutschen glauben, ihre Vorfahren seien Befürworter des Nationalsozialismus gewesen, während 30 Prozent ihre Familie im Widerstand verorten, in Zeiten, in denen rassistisches Denken wieder in Mode zu kommen scheint und Bundespolitiker die NS-Zeit als „Vogelschiss in der deutschen Geschichte“ bezeichnen, ist Shavits Analyse aktueller denn je.
Im Jahr 2020 scheint die Erinnerungskultur in Deutschland an einem Wendepunkt angekommen. Wenn die letzte Anekdote aus dem Führerbunker über die Sender gejagt, wenn das letzte Denkmal fertig gestellt, der letzte KZ-Wächter verurteilt, die letzten Zeitzeugen verstorben sind – was dann?
Bevor ihre Sammlung von Kindertagebüchern aus dem Holocaust im Jahr 2002 unter dem Titel „Salvaged Pages“ erscheinen konnte, arbeitete und recherchierte die Historikerin Alexandra Zapruder zehn Jahre lang im United States Holocaust Memorial Museum. Als das Buch nach mühevoller editorischer Arbeit endlich fertig war, rechnete sie mit ein paar Rezensionen, vielleicht Einladungen zu Vorträgen auf Kongressen, und schließlich mit der unvermeidlichen Frage, worauf sie ihr historisches Interesse als nächstes richten sollte.
Doch auch wenn das Buch rezensiert und sie zu Vorträgen eingeladen wurde, geschah etwas Unerwartetes: Lehrerinnen und Lehrer begannen sich für ihr Buch zu interessieren. Also begann Zapruder, zunächst zögernd, aber immer begeisterter, aus ihrem Buch eine Ressource für den Geschichtsunterricht zu machen. In den folgenden Jahren erschienen ein Dokumentarfilm, eine E‑Book-Ausgabe ihrer Sammlung mit zahlreichen Fotos und Hintergrundinfos zu den Tagebüchern sowie eine Online-Datenbank mit Arbeitsmaterialien zu jenen Tagebuchschreiberinnen und ‑schreibern, die in ihrer Sammlung vorkamen.
Der erinnerungspolitische Diskurs zum Holocaust in den Vereinigten Staaten war Anfang der 2000er Jahre, vielleicht stärker noch als in Deutschland, von jenem oben beschriebenen Anne-Frank-Klischee bestimmt. Im Zentrum vieler Geschichtsstunden stand nicht die kritische Auseinandersetzung mit historischen Quellen, sondern eher eine Art wolkiger Bekenntnisethik zur „Hoffnung für die ganze Menschheit“.
Vor diesem Hintergrund wirkte Zapruders vielstimmige Sammlung von Tagebüchern wie eine Revolution. Im Vorwort zur zweiten Auflage beschrieb sie im Jahr 2015 ihre Erfahrungen aus der Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen:
The diaries never fail to provoke thoughts and questions; individually, they break down the Holocaust experience into moments that reflect the complexity of a life; taken together, they offer complementary and sometimes contradictory accounts that defy simplification and generalization. And although these texts cannot restore the lives of their writers or redeem their deaths, they can and do preserve memory and complicate, in the best possible way, our understanding of this historical past.
Die Tagebücher regen jedes Mal zum Nachdenken und Nachfragen an; für sich genommen, brechen sie die Erfahrung des Holocaust in Einzelmomente auf, in denen die Komplexität eines Lebens aufscheint; zusammen ergeben sie komplementäre und manchmal widersprüchliche Berichte, die vor Vereinfachungen und Verallgemeinerungen gefeit sind. Und auch wenn diese Texte ihre Urheber nicht ins Leben zurückholen, erhalten sie das Gedenken am Leben und machen unser Bild von der Geschichte, im bestmöglichen Sinne, ein Stück komplizierter.
Ins Deutsche ist Zapruders Buch nie übersetzt worden, und nach einer Ausgabe eines der Kindertagebücher (abgesehen von dem der omnipräsenten Anne Frank) explizit für junge Leserinnen und Leser wird man ebenfalls lange suchen müssen.
Dabei liegt der literarische und pädagogische Wert des Genres auf der Hand. Die Tagebücher laden, wie Zapruder es beschreibt, nicht nur zur Identifikation mit ihren jungen Autorinnen und Autoren und ihren Schicksalen ein. Sie bieten auch eine ideale Ausgangsbasis für ein modernes, altersgerechtes und zugleich quellenkritisches Geschichtsverständnis.
Damit sei aber nicht gesagt, dass all diese Tagebücher nur für Kinder und Jugendliche interessant seien. Zusammengenommen ergeben sie für Leserinnen und Leser aller Altersstufen einen vielstimmigen, paneuropäischen Chor, einen Querschnitt durch jene Generation, die dem alten Europa entstammte und ein neues bereits in sich trug, das ohne die Verbrechen der Nazis in den Vierzigerjahren hätte entstehen können.
Die Tagebuchschreiberinnen und ‑schreiber kamen aus allen sozialen Schichten, schreiben in den verschiedensten Sprachen von Französisch bis Litauisch, sind reich oder arm, teilweise extrem religiös oder säkular, hochgebildet oder ungebildet, sie sterben im Krieg oder überleben und sind so alle gemeinsam Teil der Geschichte Europas.
Im jüdischen Museum von Budapest liegt ein kleines, in bestickten Stoff eingebundenes Büchlein. Es ist nie verlegt oder gar übersetzt worden, und über seine junge Verfasserin Éva Weinmann ist wenig bekannt, außer dass sie 1928 geboren wurde und 1946 an Leukämie starb und in Budapest beigesetzt wurde.
In ihrem Tagebuch, das sie 1941 zu ihrem 13. Geburtstag geschenkt bekam und bis Februar 1945 führte, beschreibt sie in einfacher Sprache ihr Leben in einer jüdischen Mittelschichtfamilie in Budapest. Sie beschreibt die Schule, ihr Verhältnis zu Jungen und die Ereignisse in ihrer Familie.
„Ich habe ein Kleid, einen Rock, eine Bluse, einen Frühlingsmantel und ein paar wunderschöne Absatzschuhe bekommen“, schreibt Éva im März 1943. „Handschuhe bekomme ich auch noch. Jetzt verabschiede ich mich, mein kleines liebes Tagebuch, im Radio läuft nämlich tolle Musik, die ich mir anhören will.“
1944 schien Éva Weinmann schon das Interesse an ihrem Tagebuch verloren zu haben, doch im Juli nahm sie das Schreiben mit anderem Stift und in deutlich veränderter Schrift wieder auf:
Mein liebes, kleines Tagebuch, leider bringt mich eine sehr traurige Zeit dazu, wieder auf deine Seiten zu schreiben. Im fünften Jahr des Krieges ist Europas Schrecken, Hitler, auch hier angekommen. Auch hier hat das angefangen, was in allen anderen europäischen Ländern herrscht, die Judenverfolgung. Hier geht es nun schon seit fünf Monaten so. In ganz Ungarn sind nur noch wir hier. Wo die anderen sind, weiß allein der liebe Gott. Einer von ihnen wurde interniert, bis jetzt war er hier in der Páva utca, aber nun hat man ihn mitgenommen. […] Mein Gott, rette sie vor dem Schlimmsten, vor dem Tod! […] Diese Woche wurde gegen das Schwein Hitler ein Attentat verübt, aber leider hat es nicht geklappt. Ich habe zwar auch schon gehört, er sei krepiert, aber das glaube ich eher nicht.
Kann man die Bedrängnis jener Zeit mit einfacheren Worten ausdrücken? Éva Weinmann war keine Literatin, sie schrieb nur für sich, aber genau wie alle anderen Tagebücher zeigt auch ihres die Weltgeschichte in einer neuen, ihrer ganz eigenen Perspektive.
Unvermeidlich gerät auch die Familie Weinmann im Jahr 1944 ins Visier der Nazis und muss um ihr Leben fürchten, in einem langen Tagebucheintrag vom 4. November des Jahres schildert sie, wie sie sich immer wieder mithilfe verschiedener Tricks der Deportation zu entziehen versuchten.
Éva hatte Glück und erlebte den Einmarsch der Roten Armee in Budapest. Das Tagebuch bricht am 11. Februar 1945 mitten in einem angefangenen Satz ab, in einem zeittypischen Eintrag voller gemischter Gefühle:
Ich liege im Bett und schreibe. Ich bin erkältet. Gott sei Dank sind wir schon zu Hause, wir können das Zimmer heizen und es ist schön warm. Die Lage hat sich leider nicht gebessert. Die Russen wohnen in unserem Haus und wollen jede Nacht hier schlafen. Heute nach haben zwei im Zimmer nebenan geschlafen. Die Esszimmermöbel haben sie mitgenommen. Den Jungs aus Kispest geht es, Gott sei Dank, gut. Nur von Frédi habe ich nichts gehört. Wir …
Die Geschichte Europas ist nicht nur eine große Abfolge von Gesetzen, Schlachten und Verträgen. Die Geschichte Europas ist genauso die Geschichte von Éva Weinmann, die Geschichte von Alice Ehrmann, die Geschichte von Hilke Clark. Die Geschichte Europas ist unsere Geschichte.
Diese Geschichte zu bewahren und das Gedenken aufrecht zu erhalten, ist die immer wieder neue Aufgabe jeder Generation. Und an jedem Tag, der vergeht und an dem Menschen versterben, wächst die Gefahr, dass leere Schablonen unser Bild der Geschichte bestimmen, oder dass die Geschichte ganz in Vergessenheit gerät.
Die Aussicht, das Geschriebene könne vergeblich sein und alsbald in Vergessenheit geraten, klingt in erstaunlich vielen dieser Tagebücher an, ausgesprochen oder unausgesprochen. Wenn die jungen Autorinnen und Autoren verzweifeln, dann nicht nur an der Politik oder an Gott, sondern auch an der Aussichtslosigkeit ihres eigenen Schreibens.
Die junge rumänische Jüdin Miriam Korber, die mit ihrer Familie aus ihrer rumänischen Heimat ins Ghetto Dschurin in Transnistrien deportiert wurde, brachte dies im Sommer 1942 in einem verzweifelten Tagebucheintrag zum Ausdruck:
Was ich hier schreibe, ist umsonst. Niemand wird es lesen, und wenn ich davonkomme, werde ich alles verbrennen, was sich auf diese verfluchte Zeit in Dschurin bezieht. Und trotzdem schreibe ich.
Dieses unglaubliche „und trotzdem“ ist der immerwährende Auftrag an nachfolgende Generationen. Wir sollten diese Tagebücher nicht deshalb lesen, um diese jungen Menschen zu bewundern oder zu bemitleiden. Wir sollten sie nicht lesen, um ihrem Leid irgendeinen Sinn abzuringen. Wir sollten sie nicht lesen, um aus ihnen irgendwelche große Thesen über den Verlauf der Geschichte oder das Wesen der Menschheit abzuleiten.
Wir sollten sie lesen, weil irgendwo in Europa ein Kind nicht aufhörte zu schreiben, als alles sinnlos war.
Das Titelbild zeigt eine (unbekannte) junge Frau, die noch kurz vor ihrer Deportation aus dem Ghetto Litzmannstadt einen letzten Brief schreibt. Es stammt von dem jüdischen Fotografen und Ghetto-Insassen Mendel Grossman. Bildquelle: USHMM.
Die Zitate aus dem Tagebuch Otto Wolfs hat Hana Hadas aus dem Tschechischen übersetzt. Das Tagebuch der Éva Weinmann hat Timea Tankó für diesen Beitrag zusammengefasst und in Auszügen übersetzt. Alle weiteren Zitate entstammen den veröffentlichten Ausgaben der Bücher: