In dieser kleinen, aber feinen Übersetzung beweist Eike Schönfeld in aller Kürze fundiertes Sprachkönnen und ausgeprägtes Stilgefühl.
Mary Ventura und das neunte Königreich
Sylvia Plath
Eike Schönfeld
Englisch
Mary Ventura and the Ninth Kingdom
www.suhrkamp.de/buecher/mary_ventura_und_das_neunte_koenigreich-sylvia_plath_19483.html
Mary Ventura sitzt im Expresszug Richtung Norden, die Landschaft rauscht an ihr vorbei. Sie weiß nur, dass es bis zur Endstation mit dem rätselhaften Namen „Das neunte Königreich“ gehen soll – was genau sie dort erwartet, ist ihr schleierhaft. Der Blick aus dem Fenster zeigt fahle Herbstfelder unter einem grauen, rauchverhangenen Himmel, an dem eine orangefarbene Scheibe hängt. Die düstere Landschaft passt zu ihrem Gemütszustand, denn eigentlich wollte sie diese Reise gar nicht antreten – noch auf dem Bahnsteig hat sie ihre Eltern angefleht, sie sei nicht bereit dafür. Doch die wischen ihre Bedenken mit den Worten fort, irgendwann müsse schließlich jeder mal von zuhause weg. Und mit dem Totschlagargument „Du weißt doch, wie Züge sind. Die warten nicht“ bugsiert ihr Vater sie in den abfahrbereiten Zug. In seinen Worten liegen Vorwurf und Warnung zugleich: Wenn du diese Chance verpasst, wirst du es womöglich dein Leben lang bereuen.
1952 bot Sylvia Plath ihre frühe Erzählung Mary Ventura and the Ninth Kingdom der Zeitschrift Mademoiselle an, deren Literaturpreis sie kurz zuvor gewonnen hatte. Die laut Autorin „irgendwie symbolische Geschichte“ („a vague symbolic tale“), deren Titelheldin den Namen einer Highschool-Freundin von Plath trug, wurde jedoch abgelehnt. Zwei Jahre später erschien sie in einer stark gekürzten und weniger düsteren Fassung unter dem Titel Marcia Ventura and the Ninth Kingdom. Die Urfassung wurde 2019 zum ersten Mal bei Faber & Faber, London veröffentlicht, jetzt ist sie in der Übersetzung von Eike Schönfeld beim Insel Verlag erschienen. Die Lektüre lohnt sich – und zwar nicht nur für eingefleischte Plath-Fans.
Die Atmosphäre ist von Anfang an unverkennbar bedrohlich aufgeladen. Eindringlich wird das ganze Buch von einer Farbsymbolik durchzogen, bei der Grau/Schwarz (für Tod und Trostlosigkeit) und Rot (Blut und Gefahr) mit Grün, Braun und Blau (als Zeichen für Natur, Hoffnung und Neubeginn) kontrastieren. Schwarz ist der Zeiger der Bahnhofsuhr, der unbarmherzig Minute um Minute „abhackt“ („clipped off another minute“), schwarz sind Augen und Uniform des Schaffners, der die Leute am Bahnsteig wie eine willenlose Schafherde zum Zug treibt. Blinkende rote Neonleuchten am Bahnhof verkünden Gefahr, und auch sonst scheint alles in rötliches Licht getaucht: blutrote Lippen, weinrote Plüschsitze, karminrote Röcke und scharlachfarbene Gesichter. Rot ist natürlich auch die Kirsche in Marys Ginger Ale, die „süße Frucht“ der Verführung, und selbst die Zugfahrkarte ist ein rotschwarzes Warnsignal. Den Kontrast in beruhigenden Naturtönen bildet eine freundliche ältere Dame im Zug, die Mary zu Kaffee und Schokolade einlädt. Sie hat erdbraune Kleidung und strahlend blaue Augen, strickt ein Kleid aus „laubgrüner Wolle“ und trinkt ihren Kaffee aus einer grünen Tasse.
Subtil ist das nicht. Doch ich schließe mich der New York Times an, die Plaths Erzählung trotz des vielleicht nicht ganz ausgereiften Stils faszinierend findet:
“Mary Ventura and the Ninth Kingdom“ is clumsy, no getting around that — Plath has a heavy hand, and the novice fiction writer’s conviction that elaborate description will render her world real. We learn the eye color of everyone on board the train; we have coffee explained to us: a “steaming brown liquid.” To drive home the sinister mood, she paints everything plush, bleeding red — the seats, the tickets, the lights, the skirts on passing women.
And yet the story is stirring, in sneaky, unexpected ways.
Zugegeben, „Mary Ventura und das neunte Königreich“ ist holperig – Plath schreibt unbeholfen und ist wie alle angehenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller davon überzeugt, dass ihre Welt durch ausführliche Beschreibungen real wird. Wir erfahren die Augenfarbe von jedem Einzelnen im Zug; uns wird erklärt, dass Kaffee eine „dampfende braune Flüssigkeit“ ist. Damit uns die düstere Stimmung auch ja nicht entgeht, färbt sie alles in sattes, blutendes Rot – die Sitze, die Fahrkarten, die Lichter, die Röcke vorbeigehender Frauen.
Und doch ist die Geschichte auf unbemerkte und unerwartete Weise inspirierend.
Die Bedrohlichkeit der Atmosphäre steigert sich langsam, aber sicher. Schon die Abfahrt des Zuges verheißt nichts Gutes, denn die Unumkehrbarkeit der sich schließenden Türen ist im Englischen nicht zu überhören: „shut … click … all in“ – das war’s, hier kommt keiner mehr raus.
The engine gave a snort, shuddered, and paused. “Board … all ‘board!” a voice yelled from outside. The door to the car slammed shut with a final click, closing them all in.Die Lokomotive stieß erzitternd ein kurzes Prusten aus. „Einsteigen … alles einsteigen!“, brüllte draußen eine Stimme. Die Wagentür ging mit einem endgültigen Knall zu, dann waren sie alle eingeschlossen.
Auch wenn die Übersetzung hier etwas von der bedrängenden Abruptheit des Originals verliert, tritt die Eindringlichkeit später im Deutschen umso deutlicher zutage, als Mary bewusst wird, dass allein sie selbst an ihrer ausweglosen Lage schuld ist:
“It’s still not my fault,” Mary exclaimed vehemently, but the woman’s eyes were upon her, level after blue level of reproach, and Mary felt herself sinking, drowned in shame. The shuttle of the train wheels struck doom into her brain. Guilt, the train wheels clucked like round black birds, and guilt, and guilt, and guilt.„Trotzdem ist es nicht meine Schuld“, rief Mary heftig aus, doch der Blick der Frau lag auf ihr, Stufe um blaue Stufe Tadel, und Mary spürte, wie sie in Scham versank, ertrank. Das Rattern der Räder hämmerte ihr Unheil ins Gehirn. Schuld, schmetterten die Räder wie runde schwarze Vögel, und Schuld und Schuld und Schuld.
In diesem Absatz werden verschiedene Stilmittel gekonnt kombiniert: das komprimierte, auf u- und a‑Lauten aufbauende „Stufe um blaue Stufe Tadel“, die bedrängende Steigerung von „in Scham versank, ertrank“ und die Alliterationen der ratternden Räder, die „Schuld“ schmettern. So hämmert uns die Übersetzung noch viel stärker als das Original buchstäblich ins Hirn, wie entsetzlich sich Mary in diesem Moment fühlt.
Doch bis Mary diese Erkenntnis dämmert, dauert es eine Weile. Erst einmal begleitet sie ihre freundliche Mitreisende in den Speisewagen, wo sie, eingelullt von der komfortablen Umgebung, ihre anfänglichen Bedenken vergisst. Sie beginnt die Fahrt zu genießen und schenkt den warnenden Worten ihrer Mitfahrerin, einer zentralen Aussage des Buches, nicht viel Aufmerksamkeit:
“Yes, my dear,” she said drily. “But remember you pay for it. You pay for it all in the end.”„Ja, schon, meine Liebe“, sagte sie trocken, „aber bedenken Sie, man bezahlt es auch. Am Ende bezahlt man für alles.“
Doch die bösen Vorzeichen verdichten sich: Draußen färbt sich die orangefarbene Sonne rötlich, und als die freundliche Dame hört, dass es für Mary bis zur Endstation gehen soll, wird sie stutzig. Eine andere Frau, die am „Sechsten Königreich“ aussteigen muss, erhält vom Schaffner ein Ticket für ihre „Überfahrt über den Fluss“ („transfer for the river crossing“). Und Marys Begleiterin führt mit dem Schaffner und dem Schokoladenverkäufer undurchsichtige Gespräche über das Schicksal der Passagiere, das anscheinend längst „unter Dach und Fach“ („signed, sealed, and delivered“) ist.
Außer Mary scheint allerdings keiner der Fahrgäste etwas Ungewöhnliches zu bemerken. Und als sie begreift, dass sie in einem Zug ohne Wiederkehr sitzt, Endstation Neuntes Königreich, „das Königreich der Negation, des gefrorenen Willens“ („the kingdom of negation, of the frozen will“), ist es schon fast zu spät. Nur wenn sie jetzt aus der gesellschaftlich anerkannten Normenkonformität ausbricht und die „einzige noch verbliebene Willensbehauptung“ („the one assertion of the will remaining“) in die Tat umsetzt, kann sie sich noch retten.
Die Beschreibung der Reise ist sprachlich bewusst schlicht gehalten. Lebendig wird sie unter anderem dadurch, dass Plath gekonnt aus dem reichen Wortschatz des Englischen in Bezug auf Sprech- und Bewegungsverben schöpft. Menschen wie Dinge geben die unterschiedlichsten Laute von sich, und der Zug wirkt in seiner Betriebsamkeit („gave a snort … shuddered … chugged down the track … was hurtling through the black tunnel … sped on … lurched to a stop … rumbled away“) geradezu wie ein lebendes Wesen. Bei der Wiedergabe dieses Aktionsreichtums steht Schönfelds Übersetzung dem Original in nichts nach: Da wird gerast, geschlurft, sich gesputet und gestolpert, gesäuselt, gekrächzt, gewimmert und geprustet, was das Zeug hält.
Die Erzählung verlangt trotz – oder gerade wegen – ihrer sprachlichen Schlichtheit große Versiertheit des Übersetzers, um auch im Deutschen zu überzeugen. Und das tut sie, selbst wenn man einzelne Wörter vielleicht anders hätte formulieren können. Bei „languid dinner music“ denkt man eher an Musik, die träge aus dem Speisewagen herüberweht, als an „müde Restaurantmusik“. Und wenn es heißt:
A conductor in a black uniform (…) herded the crowd (…) to the platform.Ein Schaffner in schwarzer Uniform (…) schleuste die Menge (…) auf den Bahnsteig.
- dann passt „schleusen“ vom Kontext her zwar gut, doch geht damit das Bild der willenlosen Schaf- oder Viehherde verloren, die (womöglich gar zur Schlachtbank?) getrieben wird.
Doch das macht Schönfeld mit umso großartigeren Formulierungen an anderen Stellen mehr als wett – wie das herrlich treffende „Du wirst einfach nur kribbelig“ („You’re just getting jittery“), mit dem Marys Vater ihre Nervosität kurz vor der Abfahrt herunterspielt. Oder wenn Vokalgleichlaute durch Alliterationen am Wortanfang kompensiert werden:
The lights in the ceiling were hard glaring stars.Die Leuchten an der Decke waren streng starrende Sterne.
Auch der Tonfall der Figuren ist immer überzeugend, seien es Mary Venturas beschwichtigende, aber letztlich desinteressierte Eltern, zwei zankende kleine Jungs im Zug oder die sie gütig-streng tadelnde ältere Dame. Dabei nimmt sich Schönfeld die nötigen strukturellen Freiheiten, um aus der englischen Vorlage einen dynamischen und idiomatischen deutschen Text zu machen, und klebt nicht sklavisch an Wörtern. So wird etwa aus dem „I hate you!“ des kleinen Jungen, der gerade von seinem großen Bruder gehauen wurde, ein erbostes „Du bist gemein!“. Auch wenn sich Geschwister durchaus mal „Ich hasse dich!“ an den Kopf knallen können, wäre dieser Ausdruck bei der insgesamt zurückhaltenden Sprache der Erzählung sicher zu stark gewesen. Gerade in Details wie diesen kommt das feine Sprachgefühl des Übersetzers zum Ausdruck.
Wie der Rest von Plaths Werk wird auch Mary Ventura meist im Kontext ihrer Biographie interpretiert. Wenige Monate, nachdem die Erzählung abgelehnt wurde, unternahm Plath ihren ersten Selbstmordversuch. Wer den Text mit diesem Wissen liest, kann darin natürlich düstere Anspielungen erkennen. Die New York Times liefert aber noch einen anderen, weitaus interessanteren Grund, warum sich die Lektüre lohnt: Es gehe in der Geschichte auch darum, dass Frauen Netzwerke bilden und sich gegenseitig helfen, aus ihrer Unfreiheit herauszukommen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Vor diesem Hintergrund gelesen, liefere die Geschichte eine ganz neue Perspektive – nicht nur auf Sylvia Plath und ihr Werk, sondern auch auf andere, erst in den letzten Jahren neu oder wiederentdeckte Autorinnen (Anm. d. Red.: wie etwa Fran Ross).
Was die Erzählung außerdem lesenswert macht, sind die vielen Fragen, die sie aufwirft und offen lässt: Wer ist die Frau, die Mary Ventura zum Ausstieg ermuntert – Frau Flora? Retterin der verlorenen Seelen? oder Fährfrau ins Jenseits (laut Guardian „a ferryman of souls, updated for the railway age“)? Ist Marys Flucht aus dem Zug ein Sprung in die Freiheit oder eine Allegorie für Selbstmord? Und wohin fährt der Zug seine lethargischen Passagiere – ins öde Erwachsenleben mit all seinen gesellschaftlichen Erwartungen und Verpflichtungen? in den Tod? oder ganz woandershin?
Wohin die Reise auch geht, sie liefert nicht nur Stoff zum Nachdenken, sondern lässt den Leserinnen und Lesern auch genügend Raum für eigene Assoziationen. Schließlich bringen wir alle unsere eigenen Lebens- und Leseerfahrungen in die Lektüre eines Textes mit. In mir hat Mary Ventura unterschiedlichste Saiten angezupft – von „Frühling, lass dein blaues Band …“ bis zu Robert Frosts berühmtem Gedicht The Road Not Taken, von Alice im Wunderland, mit dem es die absurde Unausweichlichkeit teilt, bis hin zu Momos identitätslosen Grauen Herren, die den Menschen wertvolle Lebenszeit stehlen. Natürlich sind diese Assoziationen ganz und gar persönlich, einige mögen weit hergeholt sein, manche sind fest in der deutschen Kulturgeschichte verwurzelt und waren garantiert nicht von der Autorin beabsichtigt – aber hervorgerufen hat sie allesamt Mary Ventura und das neunte Königreich. Und Eike Schönfeld sorgt mit seiner klangvollen Übersetzung dafür, dass man sich nun auch auf Deutsch von dieser kargen, rätselhaften Erzählung inspirieren lassen kann.
Drei Fragen an Eike Schönfeld
Wie interpretieren Sie als Übersetzer das „Neunte Königreich“?
Mary Ventura erscheint als behütete, lebensferne, geradezu hilflose junge Frau. Nicht einmal das Fahrtziel auf ihrer Bahnkarte, eben das „Neunte Königreich“, sagt ihr etwas. Im Zug erscheint ihr alles neu und staunenswert, aber auch zunehmend bedrohlich. Man könnte die Zugfahrt als erzwungene Reise ins wirkliche Leben sehen, vor dem die nette ältere Mitreisende sie noch rechtzeitig bewahrt. Sylvia Plath hatte zu der Zeit, 1952, schon Suizid-Gedanken und unternahm ein halbes Jahr nach Beendigung des „Neunten Königreichs“, im August 1953, ihren ersten Selbstmordversuch. Es wäre daher nicht abwegig, dieses als Metapher für das reale Leben zu verstehen. Dann wäre das Ziel ihrer (Lebens-)Flucht, die paradiesische Parklandschaft, in die sie am Ende gelangt, eine Art elysisches Reich des Todes.
Die New York Times nennt Plaths Jugenderzählung „clumsy“. Hatten Sie hier und da im Text das Gefühl oder den Wunsch, optimierend eingreifen zu müssen, wollen, können?
Rein sprachlich hätte ich gar nichts optimieren wollen, vor allem die Dialoge haben mir gefallen, ihr Stil hat einen frischen Witz. Vermisst habe ich dagegen eine gewisse erzählerische Ausgewogenheit: Einerseits lesen wir minutiöse Beschreibungen realer Details, dann geschehen wieder große Sprünge im Phantastischen, und besonders am Ende geht mir alles, verglichen zur Zugfahrt, etwas zu schnell.
Warum sollte man dieses Buch auch als Nicht-Plath-Fan gelesen haben?
Sylvia Plath hat diese Kurzgeschichte mit neunzehn Jahren geschrieben. Davor hatte sie schon über zehn Jahre lang Gedichte verfasst, die teilweise auch veröffentlicht wurden. Sie verfügte also über eine schriftstellerische Routine. Trotzdem ist es erstaunlich, in dem Alter schon einen solchen Text zu produzieren. Ich könnte mir daher vorstellen, dass die Erzählung, vor allem im Hinblick auf Stil und Beobachtungsgabe, für junge Menschen mit Schreibambitionen Anregung und Ermunterung sein könnte. Gut wäre allerdings, wenn sie keine Todessehnsucht hätten …