Dein Kollege Tobias Lehmkuhl hat im vergangenen Jahr gesagt, dass eine gute Jurysitzung eine recht „emotionale“ Erfahrung ist. Konnte 2020 überhaupt eine Sitzung stattfinden, und wie emotional war die Diskussion dieses Jahr?
Robin Detje: Die erste Sitzung fand statt, die zweite war eine wirklich anstrengende dreistündige Skypesitzung – ich meine von der reinen Sprechsituation her. Man kann ja beim Skypen nicht einfach zwischendurch aufstehen und sich an der Theke einen Kaffee holen. Das ist im großen Besprechungszimmer im HKW schon viel gemütlicher. Die Sitzung, auf die Tobias Lehmkuhl sich vielleicht bezieht, habe ich verpasst. Ich war immer bei den friedlichen Sitzungen.
Hitzige Diskussionen sind also nicht der Normalzustand bei Jurysitzungen?
Man benutzt in Jurys das stille Gift oder das scharfe Messer. Hitzig wird es natürlich mit dem Messer. Man benutzt aber auch Waffen wie gegenseitigen Respekt oder Zuhören, das ist bei uns weit verbreitet.
Im Jury-Statement heißt es, es sei „der Jury wichtig, anstatt einen der Titel gesondert herauszuheben, die gesamte Shortlist als Konstellation von sechs ausgezeichneten Büchern aufzufassen und das Preisgeld unter allen aufzuteilen.“ Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Ich weiß gar nicht mehr, von wem die Idee kam, aber das wurde sehr kollektiv beschlossen. Das HKW ist sehr unhierarchisch, was toll für die Zusammenarbeit ist. In dieser Lage, die so schwierig ist für alle, „Gipfelstürmer*innen“ auszuzeichnen und zu versuchen, eine Veranstaltung zu machen, von der man gar nicht weiß, ob sie stattfinden kann, wo dann stellvertretend für alle zwei Menschen ausgezeichnet werden … Das Gefühl war eher: Lasst uns in die Breite gehen und auch anerkennen, dass es gerade allen schlecht geht und dass wir alle Unterstützung brauchen.
Der ILP steht unter der Frage: „Zu welchen Formen findet zeitgenössisches Erzählen?“ Welche Antwort habt ihr gefunden?
Die Shortlist zeigt ein Kaleidoskop an Erzählweisen. Der Weg von Geile Deko zu Glückliche Fälle zum Beispiel ist ja ästhetisch ganz, ganz weit. Ich fände eine Art Trendscouting auch sehr uninteressant. Also aus der Shortlist etwas abzuleiten wie „der neue Trend sind Romane, die im Wald spielen“.
Gibt es denn auf der Shortlist Texte, die durch eine ungewöhnliche Form hervorstechen?
Bei James Noël dachte ich zum Beispiel: Wow, das ist aber mutig, einen lyrischen Text hier auszuzeichnen, der gleichzeitig so politisch ist. Geile Deko ist natürlich auch ein Buch, das meine Underground-Sehnsüchte zurück ins Jahr 1984 befriedigt, aber auf eine ganz humorvolle und auch politisch tolle Weise, und dazu in einer tollen Übersetzung. Dann gibt es diese ganz lyrischen und hoch literarischen, märchenhaften Sachen von Yevgenia Belorusets, und es gibt einen ganz politischen Roman aus Bulgarien. Die Spannbreite der Shortlist ist unglaublich weit und beweist eigentlich, dass es keine eindeutigen Trends in der Weltliteratur gibt. Danach haben wir auch nicht gesucht.
Meine Wahrnehmung war, dass es insgesamt mainstreamiger und warenhafter wird, was uns angeboten wird, besonders von den Konzernverlagen. Die Erzählformen und das Material werden erprobter, das ist neuer Wein in alten Schläuchen, damit man das auch sicher verkaufen kann. Ich hatte einen ganzen Stapel von neuer, junger Literatur von schwarzen Autor*innen, wo ich das Gefühl hatte, die wollen die „schwarze Margaret Mitchell“ werden und schreiben jetzt halt das „schwarze“ Vom Winde verweht. Das war ein Trend – eine Branche in Angst um Gewinneinbußen, die immer mehr auf Nummer sicher spielt.
Ein großer Kritikpunkt an Literaturpreisen in den letzten Jahren war, dass die Vergabe und Auswahl sehr marktorientiert sind. Welche Rolle spielen solche außerliterarischen Kriterien wie Unterhaltungswert oder Marktfähigkeit beim ILP, und inwieweit kann man sich als Juror davon lösen?
Auch wenn eine befreundete Buchhändlerin mir immer sagt: Macht doch mal was, das ich verkaufen kann – dieser Preis hat nicht den Anspruch, marktgängige Bücher auszuzeichnen. Und das hat auch niemand in der Jury versucht. Es gibt vielleicht manchmal eher die Überlegung, na ja, das ist eh schon ein Weltbestseller, das muss nicht auch noch bei uns ausgezeichnet werden. Bei allen Jurymitgliedern gab es dieses Jahr eine große Bereitschaft und ein Bedürfnis, ins Spezielle zu gucken. Mein Anspruch ist, Sachen zu suchen, die uns aus unserer europäischen Perspektive rausreißen und unsern Blick umkehren – die uns bewusst machen, dass Europa ganz schön klein ist.
Oft hat man ja massenweise Übersetzungen aus dem Englischen vor sich und muss dann gezielt schauen, was es noch an interessanten Texten aus anderen Sprachen gibt.
Natürlich versucht man, über das Englische, Amerikanische hinauszuschauen. Das kann aber auch ein Problem werden. Es gibt auch Autoren wie Chigozie Obioma, der als Nigerianer auf Englisch schreibt, weil er – zu Recht – annimmt, dass es keine ausreichend guten Übersetzer aus nigerianischen Sprachen ins Deutsche gibt. Soll man den jetzt rausnehmen? Was ist mit den Leuten, die sich an den Markt anpassen und sagen „Ich werde überhaupt nicht gehört, wenn ich nicht auf Englisch schreibe“? Fällt das jetzt wirklich schon unter: Wir haben zu viel Englisch, wir warten lieber mal auf diese eine Ureinwohnerin, die in ihrer alten Sprache schreibt, damit es uns authentisch genug ist? Dieser Authentizitätswunsch ist vielleicht auch ein bisschen folkloristisch.
Bei der Bewertung von Literatur spielen auch „unausgesprochene Vorurteile“ eine Rolle. Oft wird beispielsweise kritisiert, dass männliche Autoren bei der Preisvergabe bevorzugt werden. Wie sehr war euch als Jury dieses Problem bewusst?
Das war uns sicher allen bewusst, und das war auch immer ein Thema, schon im letzten Jahr. Natürlich wollten wir nicht sechs fünfzigjährige weiße Männer auszeichnen, da ist sich die Jury in dieser Zusammensetzung auch völlig einig. Es gibt keine konservativen Stimmen in dieser Jury, die sagen, das wäre jetzt aber eine Diskriminierung von Männern. Der Literaturbetrieb kann extrem reaktionär sein, solche Stimmen gibt es da durchaus, aber bei uns habe ich das nicht erlebt. Wir achten darauf und finden das, glaube ich, auch alle gut.
Liegt das auch am Selbstverständnis dieses Preises?
Das HKW vertritt natürlich schon einen Begriff von der Welt, der zum Beispiel mir von vornherein gut gefällt, weil da Deutschland – oder Europa – nicht im Mittelpunkt stehen.
In einem Essay für den Perlentaucher kritisiert der Autor Felix Philipp Ingold den „Konsensdruck“ innerhalb der Literaturbranche. Hast du den als Jury-Mitglied je verspürt?
Nein. Ich bin aber auch als so ein biestiger Mensch bekannt, da denken die vielleicht, bei dem müssen wir es gar nicht erst versuchen. Ich glaub auch nicht, dass es so funktioniert, dass jemand anruft und sagt „Mach mal Konsens“. Wenn so etwas vorkommt, dann hat das eher damit zu tun, dass der deutsche Literaturbetrieb sehr eng gestrickt ist. Es gibt zu gute Kontakte zwischen Kritikern, Zeitungen und Verlagen, manche Zeitungen gehören Konzernen, denen auch Buchverlage gehören. Ich glaube wirklich nicht, dass es da direkte Ansagen gibt, aber jede und jeder einzelne haben natürlich ein Bewusstsein dafür, von wem man abhängig ist. Vielleicht gibt es manchmal einen vorauseilenden Konsensgehorsam, das hängt immer davon ab, wer man selbst ist. Es gibt sicher auch manche im Literaturbetrieb, die denken, sie müssten das von vornherein mitdenken und helfen, den Markt am Leben zu erhalten, der sie ernährt. Und die vergessen, wie wichtig Dissens ist.
Der ILP würdigt auch die Arbeit von Übersetzerinnen und Übersetzern. In der Jury bist du jedoch der einzige Übersetzer, und nicht in allen Jury-Statements wird die Übersetzung ausdrücklich kommentiert. Welche Rolle spielt Übersetzungskritik bei euren Jurysitzungen?
Es ist ja immer mindestens ein Übersetzer oder eine Übersetzerin dabei. Und ich sage schon sehr deutlich, wenn ich finde, das geht von der Übersetzung her nicht. Übrigens gar nicht als einziger in der Jury. Weil die Übersetzerinnen und Übersetzer mit ausgezeichnet werden, hat dieser Preis durchaus die Aufgabe, die Verlage ein bisschen zu schulen, dass sie wirklich auch auf die Übersetzung achten. Wir hatten zum Beispiel einen sehr, sehr bekannten Verlag, der ein Werk herausgebracht hat, von dem er gedacht hat, das wird sowieso ein Bestseller, da mache ich die Übersetzung schnell und billig. Das ist ein Desaster geworden, auch für den Autor. Es ist ein tolles Buch, kann aber unseren Preis nicht gewinnen. Diese verlegerische Strategie muss aufhören. Wenn man ein Buch von einem bestimmten Autor oder einer Autorin verlegen will, dann muss man sagen: Wir lieben sie, wir lieben ihn, deshalb bekommt das Buch auch die beste Übersetzung. Das ist die einzige Art und Weise, Bücher mit Herz zu verlegen.
Andererseits gibt es gerade bei den kleineren Verlagen oft Fälle, wo man sagt: Ihr seid supertoll beim Themen- und Autor*innenfinden, ihr müsst das jetzt aber so auf den Stand bringen, dass man das qualitativ gut genug findet. Es gibt Ein-Mann- oder Ein-Frau-Verlage, da merkt man, dass sie keine Energie mehr für das Lektorat haben. Da können wir nur sagen: Wir finden euch gut und sehnen uns danach, dass ihr diesen Sprung macht. Ganz spektakulär ist das jetzt dem eta Verlag gelungen, der sich sehr geschickt Übersetzungsförderung geholt und wirklich Wert darauf gelegt hat. Und es ist eine extrem tolle Übersetzung geworden – so gut möchte ich auch mal übersetzen können. Ein Verlag, der so etwas macht, muss belohnt werden.
Eine Schwierigkeit ist auch Übersetzungskritik ohne Kenntnis des Originals. Wie beurteilt eine Jury Übersetzungen, wenn sie die Ausgangssprache nicht kennt?
Zum Teil holen wir uns in solchen Fällen Gutachten, im letzten Jahr zum Beispiel für ein Buch aus Indien. Und mit etwas Erfahrung kann man schlecht Übersetztes auch gleich erkennen. Zum Beispiel, wenn man das im Kopf zurückübersetzen kann und merkt, da wird jetzt die englische oder französische Grammatik abgebildet. Das lebt einfach noch nicht, das müsste man noch mal neu machen. Man hat schon ein gewisses Schmerzempfinden.
In der Laudatio vom letzten Jahr sagst du über die Gewinnerin Angelica Ammar: „Das Übersetzen ist bei ihr ein auf wunderbare Weise unauffälliger Leistungssport.“ Ist eine Übersetzung dann gut, wenn man ihr nicht anmerkt, dass es eine Übersetzung ist?
Ich möchte nicht, dass die Leute an mich denken, wenn sie was lesen, was ich übersetzt hab. Es soll ein Lesefluss sein, ich möchte aber vergessen werden beim Lesen. Natürlich ist das Ziel, etwas soweit übersetzt zu haben, dass man es lesen kann, ohne dass es übersetzt wirkt. Ich möchte weg sein beim Lesen.
Andererseits verschleiert man so, dass ein Buch aus einer fremden Kultur kommt, die vielleicht gar nicht 1:1 ins Deutsche übertragbar ist.
Das stimmt. Kurz bevor die Corona-Krise ausbrach, waren wir in Vietnam. Und in Hanoi habe ich den Leiter des Goethe-Instituts, Wilfried Eckstein, ein bisschen ausgefragt, weil wir uns in der Jury manchmal ärgern, dass es vietnamesische Literatur nur gibt, wenn jemand nach Amerika auswandert und dann von dort aus schreibt. Das ärgert ihn auch, und er sagt, es gibt einfach ein Problem zwischen den Sprachen. Die vietnamesische Sprache hätte im Grunde kein Abstraktionsvermögen, im Wesentlichen löst sie alles über Beschreibungen und nicht über Begriffe. Er hat uns erzählt, dass mal eine Übersetzung von Kant ins Vietnamesische erschienen ist, die offenbar zum Totlachen war, weil es diese Möglichkeiten, das auszudrücken, nicht gibt. Das bringt einen auf ein unglaublich spannendes Feld. Wie löst man das? Das wäre jetzt noch mal eine völlig andere Ebene, eine Sprache zu erforschen, die so weit weg von unserer ist, die teilweise Spuren von alten Ureinwohnerstämmen hat und dann noch draufgesetztes Chinesisch. Ein tolles Thema! Wenn ich noch mal lebe, beschäftige ich mich damit.
Interessant, dass Unsichtbarkeit für dich so wichtig ist, denn die Unsichtbarkeit der Übersetzer ist ja ein heiß debattiertes Thema in der Szene.
Was ich meine, ist, dass ich mich nicht selbst bewusst in ein Buch reinschreiben will. Natürlich versuche ich bei der Arbeit, mich weitgehend zu vergessen, es ist ja keine Autorschaft. Aber die Unsichtbarkeit der Übersetzerinnen und Übersetzer in der öffentlichen Wahrnehmung ist natürlich ein großes Problem. Trotzdem gibt so eine Ecke, wo ich denke, ich will auch nicht in die Übersetzerkirche gehen. Das dringende Bedürfnis, als gleichwertig mit den Autor*innen anerkannt zu werden, habe ich nicht. Ich diene gerne. Aber natürlich mache ich außer dem Übersetzen auch noch andere Sachen und bekomme verhältnismäßig viel Liebe von außen, das macht es einfacher.
Inwieweit ist ein Preis wie dieser auch Indikator für literarische Qualität?
Von allen Preisen ist dieser der einzige völlig gültige Standard für literarische Qualität in Deutschland. Nein, kleiner Scherz. Dieser Preis ist vielleicht mehr Indikator für eine Qualität, die wir uns öfter wünschen. Wir sind sehr traurig, dass wir nach den preiswürdigen Büchern so lange suchen müssen, dass wir sie bei den Konzernverlagen kaum noch finden. Ich kann nicht für die ganze Jury sprechen, aber nicht nur ich finde, dass unsere Shortlist auch eine Mahnung an die Konzernverlage ist, die da nicht vorkommen: Ihr müsst da mal ein bisschen Leben in die Bude bringen.
Warum braucht ein Literaturpreis überhaupt eine Jury? Man könnte ja zum Beispiel auch die Leserinnen und Leser abstimmen lassen.
Wenn die Chemie stimmt, dann ist eine Jury super, weil alle die Schwächen der anderen ausgleichen. Kollegen, die bei uns für Literaturschönheit plädiert haben, gleichen natürlich meine Schwäche aus, das Politische zu suchen, und das ist sehr wichtig. Es gibt aber natürlich immer wieder Jury-Unfälle. Über die Jury-Entscheidungen des Deutschen Buchpreises war ich in den letzten Jahren oft verzweifelt. Aber jetzt haben wir auch da plötzlich eine Jury, wo man denkt: „Wow, Deutschland kann Generationswechsel!“ Das ist natürlich der Hammer. Da bin ich echt gespannt.
Gab es ein Buch, das du persönlich noch gerne auf der Liste gesehen hättest?
Überraschenderweise nicht. Ich bin ja mit Geile Deko sehr zufrieden und freue mich sehr, dass das Buch auf der Liste steht.
Wie sehr hat man bei der Auswahl im Hinterkopf, dass man vielleicht ein Buch von einer Autorin oder einer Übersetzerin auszeichnen möchte, die einen Preis verdient, weil sie sehr lange schon sehr gute Arbeit leistet?
Natürlich hat man das im Hinterkopf. Man möchte würdige Preisträger*innen finden. Aber es gibt natürlich kein Senioritätsprinzip. Und es soll auch nicht passieren, dass Autor*in oder Übersetzer*in für ein schwaches Buch ausgezeichnet werden, weil sie mal ein tolles geschrieben oder toll übersetzt werden. Es muss schon stimmen. Aber das ist ein Element, das zu dieser Stimmigkeit gehören kann.
Gibt es im Literaturbetrieb allgemein auch eine Tendenz, wenn dann mal so ein gut übersetztes Buch aus einer weniger gängigen Sprache kommt, dieses eine Buch zu mit zu vielen Preisen zu überhäufen?
Ich bin als Juror keine Gouvernante, die sagt: Kinder, ihr dürft nicht zu viel erwarten, ihr hattet schon was Süßes zum Mittag, also gibt’s heute Abend keine Süßspeise mehr. Wenn man etwas liebt, muss man großzügig sein.
Robin Detje ist ausgebildeter Schauspieler und war Theater‑, Film- und Literaturkritiker und Feuilletonredakteur der Zeit und der Berliner Zeitung und Autor der Süddeutschen Zeitung. Heute schreibt er vor allem für Zeit Online. Er ist Autor der Frank-Castorf-Biografie Castorf – Provokation aus Prinzip (2002). Als bildender Künstler gründete er 2009 mit Elisa Duca die Gruppe bösediva, die mit ihren Arbeiten u. a. nach Bangalore und Taipeh eingeladen wurde. Als Literaturübersetzer (unter anderem von Kiran Desai, Denis Johnson, William T. Vollmann, Joshua Cohen, Brit Bennett) wurde er 2014 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse und 2017 mit dem Preis der Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Stiftung ausgezeichnet. Er lebt in Berlin und glaubt nicht, dass das Internet wieder weggeht.