Die über­setz­te Gegenwart

Sechs Bücher erhalten in diesem Jahr den Internationalen Literaturpreis. Gemeinsam mit den prämierten Übersetzerinnen und Übersetzern reisen wir einmal um die Welt und stellen die Preisträgerwerke vor.

© Car­los Capella

Wir begin­nen unse­re Welt­rei­se an der Sei­te von James Noël und sei­ner Über­set­ze­rin Rike Bol­te in Hai­ti, genau­er gesagt: in Port-au-Prin­ce, im Jahr 2010. Und so schnell kom­men wir hier auch nicht weg, denn ein Erd­be­ben – das Erd­be­ben des noch jun­gen Jahr­hun­derts, von den Hai­tia­nern laut­ma­le­risch Gou­dou­gou­dou getauft – hat das Land soeben heim­ge­sucht. Ber­nard, der Ich-Erzäh­ler in Noëls halb magi­schem, halb sati­ri­schem, immer poe­ti­schem Roman Was für ein Wun­der, hat das Beben über­lebt und platzt nun vor Lebens­lust. An der Sei­te der adret­ten ita­lie­ni­schen NGO-Funk­tio­nä­rin Amo­re schweift er durch sein Land und por­trä­tiert lie­be­voll sei­ne Bewoh­ner eben­so wie die inter­na­tio­na­len Kata­stro­phen­hel­fer, ‑mana­ger und ‑tou­ris­ten, denen es plötz­lich aus­ge­lie­fert ist.

© Liesl Ujvary

Wir sind in der Lite­ra­tur und nicht in der Wirk­lich­keit unter­wegs, des­halb kön­nen wir flugs ohne Schiff und ohne Flug­zeug den Atlan­tik und ein paar Jah­re über­sprin­gen und mit­ten im bro­deln­den Lon­don der spä­ten 2010er Jah­re lan­den. Isa­bel Waid­ner zeigt uns Sub-Kul­tur in ihren schil­lernds­ten Form- und Sprach­ver­ren­kun­gen. Ihre Über­set­ze­rin Ann Cot­ten lotst uns mit einer bril­lan­ten, selbst­be­wuss­ten Über­set­zung durch den schein­bar post-iden­ti­tä­ren, quee­ren Kos­mos von Waid­ners Hel­din­nen. Der Plot ist dabei Neben­sa­che – auf­re­gen­der ist die wit­zi­ge, freie und zutiefst ori­gi­nel­le Sprache.

© Björn Hänssler

Hin­ter dem Ärmel­ka­nal liegt Fest­lan­d­eu­ro­pa: Frank­reich, Bel­gi­en, Deutsch­land. In Ber­lin holt uns die ukrai­ni­sche Autorin und Künst­le­rin Yev­ge­nia Bel­o­ru­sets ab und nimmt uns mit auf eine Rei­se durch ihr Hei­mat­land. In den Jah­ren 2016–2018 ist neben Foto­stre­cken ein erzäh­le­ri­sches Mosa­ik an Moment­auf­nah­men ent­stan­den, in denen sie vor allem das Leben der Frau­en fest­hält – mal repor­ta­ge­ar­tig, mal mär­chen­haft, per­sön­lich und distan­ziert zugleich. Der Krieg in der Ost­ukrai­ne steht nie im Vor­der­grund, ist jedoch hin­ter­grün­dig über­all prä­sent. Glück­li­che Fäl­le, von Clau­dia Dathe aus dem Rus­si­schen über­setzt und 2019 bei Matthes & Seitz erschie­nen, ist eine quer durch die Regi­on rei­chen­de Samm­lung von Begeg­nun­gen, Gesprä­chen und Geschichten.

© Roman Ekimov/ PANDA

Von Kiew sind es nur knapp 1.000 Kilo­me­ter bis nach Sofia, doch um in Angel Igovs Roman Die Sanft­mü­ti­gen zu lan­den, müs­sen wir 75 Jah­re in der Zeit zurück­rei­sen. Bul­ga­ri­en steht 1944/45 an der Schwel­le vom Zaren­tum zur sozia­lis­ti­schen Volks­re­pu­blik. Vor has­tig zusam­men­ge­stop­pel­ten „Volks­ge­rich­ten“ sind die Schau­pro­zes­se gegen die abge­setz­ten bür­ger­li­chen Eli­ten in vol­lem Gan­ge. Angel Igov hat mit die­sem Werk ein jahr­zehn­te­lan­ges lite­ra­ri­sches Tabu gebro­chen. Er erzählt von Macht und Ver­ant­wor­tung, Gerech­tig­keit und Mani­pu­la­ti­on – und vom Auf­stieg des „klei­nen Man­nes“: Emil Stre­zov, des­sen Frus­tra­ti­on und Rach­sucht geschickt von den neu­en Macht­ha­bern instru­men­ta­li­siert wer­den, mau­sert sich bin­nen Mona­ten vom unbe­deu­ten­den Jung­poe­ten aus einem Sofio­ter Armen­vier­tel zum gna­den­lo­sen Anklä­ger gegen die eta­blier­ten Literaten.

© pri­vat

Vor lau­ter Lese­stoff hät­ten wir fast gar nicht bemerkt, dass wir im Begriff sind, den Okzi­dent hin­ter uns zu las­sen. Jetzt gibt es kein Zurück mehr: Hin­ter dem Bos­po­rus liegt die Tür­kei und dahin­ter Per­si­en – Tehe­ran ist unser nächs­tes Ziel. Amir Hassan Cheh­el­tan hat der ira­ni­schen Haupt­stadt bereits vor Jah­ren in sei­ner „Tehe­ran-Tri­lo­gie“ ein Denk­mal gesetzt. In sei­nem neu­es­ten, 2019 in Jut­ta Him­mel­reichs Über­set­zung auf Deutsch erschie­ne­nen Werk, steigt er noch ein­mal zu den Ursprün­gen sei­ner eige­nen Lite­ra­tur­be­geis­te­rung her­ab und erzählt, wie er in sei­nem Eltern­haus mit den Wer­ken der klas­si­schen per­si­schen Lite­ra­tur sozia­li­siert wur­de, wäh­rend die poli­ti­schen Ver­wer­fun­gen um ihn her­um immer wei­ter um sich griffen.

© Chris­tia­ne Bergmann

Wir haben Euro­pa end­gül­tig hin­ter uns gelas­sen, vor uns liegt eine lan­ge letz­te Rei­se. Wir durch­que­ren das Zwei­strom­land, flie­gen über die ara­bi­sche Wüs­te, schwim­men durch das Rote Meer, rei­ten durchs Nil­tal und schließ­lich durch die end­lo­se Saha­ra, ehe wir im Nige­ria Chi­go­zie Obio­mas ankom­men, gera­de noch recht­zei­tig für eine Gerichts­ver­hand­lung epi­schen Ausmaßes.

Ange­klagt ist der Chi, der Schutz­geist, eines Man­nes namens Chi­no­so. Eigent­lich müss­te er erst nach dem Able­ben sei­nes „Schütz­lings“ dort aus­sa­gen, doch die Gescheh­nis­se in des­sen Leben zwin­gen ihn, früh­zei­tig vor das Gericht im himm­li­schen Ort Elu­ig­we zu tre­ten und sich zu recht­fer­ti­gen. Bild­reich und schein­bar all­wis­send erzählt der Schutz­geist in Das Wei­nen der Vögel, ins Deut­sche gebracht von Nico­lai von Schwe­der-Schrei­ner, von Chi­non­so und sei­ner Freun­din Nda­li, von der Ableh­nung und Demü­ti­gung ihrer Fami­lie und davon, wie er sei­ne Hüh­ner­farm in Umu­a­hia ver­kauf­te, um in Zypern einen Abschluss in Betriebs­wirt­schaft zu machen.

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