Wir beginnen unsere Weltreise an der Seite von James Noël und seiner Übersetzerin Rike Bolte in Haiti, genauer gesagt: in Port-au-Prince, im Jahr 2010. Und so schnell kommen wir hier auch nicht weg, denn ein Erdbeben – das Erdbeben des noch jungen Jahrhunderts, von den Haitianern lautmalerisch Goudougoudou getauft – hat das Land soeben heimgesucht. Bernard, der Ich-Erzähler in Noëls halb magischem, halb satirischem, immer poetischem Roman Was für ein Wunder, hat das Beben überlebt und platzt nun vor Lebenslust. An der Seite der adretten italienischen NGO-Funktionärin Amore schweift er durch sein Land und porträtiert liebevoll seine Bewohner ebenso wie die internationalen Katastrophenhelfer, ‑manager und ‑touristen, denen es plötzlich ausgeliefert ist.
Wie klingt James Noëls Haiti?
Was für ein Wunder liefert ein regelrechtes Stimmengewirr. Gleich zu Beginn denkt der Protagonist genau darüber nach: er erklärt, er sei „völlig verstimmt“, als er auf dem Rollfeld des Flughafens Toussaint-Louverture von einem Fremden den Hinweis bekommt, man befinde sich nun mal im „Irrenhaus des Jahrhunderts“. Mitten in diesem Szenario versucht dann der schräge Vogel, der Bernard ist, „seine eigene Stimme“ „ausfindig“ zu machen. Und genau darum geht es in Was für ein Wunder: wie klingt die Stimme eines „Verstimmten“, wenn dieser sich selbst zu verorten und gleichzeitig schlau aus seinem Land zu werden versucht, das eine Katastrophe ereilt hat? Bernard ist zwar „durch den Wind“, doch er überblickt die Interessensverflechtungen, die das „unbezifferbar“ verheerte Haiti in der Mangel haben: die Interessen der politischen Eliten, die der internationalen NGOs, die der UNO, etc… und er versteht, dass all dies unter dem Schirm des „Spaghettigerichts der Nationen“ stattfindet! Ein solches Gemengelage sorgt für einigen Krach.
Doch da ist noch etwas anderes: in Haiti gibt es eine literarische Tradition, die sich als Oralittérature bezeichnen lässt. Dazu ließe sich jetzt weit ausholen. Georges Anglade, der 2010 bei dem Erdbeben umgekommen ist – Was für ein Wunder greift dies auf – ist einer der großen Repräsentanten und Theoretiker dieser literarischen Praxis oder, ich zitiere Anglade, dieses „bedeutenden haitianischen Gemeinschaftswerks“ (es gibt dafür den Begriff der Lodyans (= L’audience: Zuhörerschaft). In Was für ein Wunder finden wir viele Erzählungen in diesem Sprech-Tonus versammelt, und mit poetischer Sichtweise und parodierter Mediensprache oder krisenpsychologischem Slang verquickt. Das Zentrum, um das sie sich bewegen, ist das Erdbeben; dazu aber kommen andere ‚Wunderdinge‘.
Ich beantworte die Frage insgesamt bewusst etwas technisch, weil mir wichtig ist, dass daraus kein exotistisches Bild entsteht. „Wie klingt Haiti“? Würde man denn so schnell fragen: „Wie klingt Deutschland?“
Deutschland und die Welt machen gerade eine ganz andere Naturkatastrophe durch. Können wir von James Noël für die Krise lernen?
Zuerst einmal liefert der Roman z.B. Zahlen. Da geht es um Relationen, sogar Statistik. Dann verknüpft der Text Überlegungen zum Umgang mit der Katastrophe – Betonung auf Umgang! – mit Überlegungen zur Geschichte Haitis … und mit solchen zur Zukunft. Zurück zu Corona: Geht es nicht darum, eine soziale, politische und emotionale Sprache zu finden für das, was wir gerade erleben – und zwar nicht nur in Deutschland? Und überhaupt: wie sehr segregiert die Katastrophe in den jeweiligen Ländern, sprich, für wen ist es eine Krise, für wen eine wirkliche Katastrophe? In Was für ein Wunder gibt es einen ‚Stuhlkreis‘ mit Betroffenen, die, von einem Psychologen geleitet, über ihre je persönlichen Situationen sprechen. Eine chorale Erzählung, gleichzeitig geht es um subjektive Sichtweisen.
Doch Was für ein Wunder zeigt ganz vorrangig, dass es wichtig ist, eine poetische Sprache zu finden. Schließlich bedeutet Katastrophe: das letzte schlimme/große Ereignis eines Gedichts oder Dramas. James Noël „packt sich“ die Sprache, um von der Katastrophe zu reden. Das ist eine verdammt intelligent sinnliche Sprache, sie ist einerseits … „terra-poetisch“ (dieser Begriff zirkuliert gerade so schön anthropozänisch), immerhin geht es um eine sich aufbäumende Erde. Tatsächlich beginnt man beim Lesen des Romans, die Erde auf erotische Weise wahrzunehmen, zu riechen, etc. …
Noch ein Hinweis: es wird ‚ungeheuerlich‘ viel getanzt – und gesummt… und geliebt – in Was für ein Wunder. Ohne Mundschutz. Doch Achtung: UN-Blauhelm-Soldaten schleppen nach dem Erdbeben die Cholera in Haiti ein. Zu all dem gibt der Roman erschütternde Hinweise (auch über die Hygienemaßnahmen). Wer das noch nicht wusste oder vergessen hat: Was für ein Wunder leistet Katastrophenerinnerungshilfe.
„Die Übersetzung war eine Herausforderung“, schreiben Sie im Vorwort und führen an, was alles nicht übersetzbar war. Auf welche Prinzipien kam es Ihnen dennoch an?
Ja, so war es. Vor allem wegen der versteckten Hinweise auf kulturelle und intertextuelle Referenzen sowie solche auf die Voodoo-Religion. Ich bin keine Haiti-Spezialistin. Ich möchte hier ganz explizit meinem Lektor Peter Trier danken – dessen Verlag auf haitianische Literatur fokussiert ist. Wir haben uns überdies auch in Gedanken an das Publikum darauf geeinigt, hier und da Fußnoten zu setzen. Doch es geht ja nun um die poetische Translation. Die vielen Wortspiele, zum Beispiel, die den Roman so „oralliterarisch“ sein lassen. Nicht alles davon ließ sich bewahren. Deswegen habe ich mich teilweise darauf verlegt, kompensatorisch zu paraphrasieren.
Substantiell ist im Roman auch die Lautmalerei. Der originale Text Belle merveille beginnt mit einem „pap pap pap“, das den „papillon“, den Schmetterling ‚einfängt‘, der für die chaostheoretische Poetik des Romans (siehe Butterfly-Effekt) steht, aber auch für die Repräsentation eines Voodoo Geistwesen, Papa Loko. Dann bildet es die Sigle PAP für Aéroport International de Port-au-Prince ab. „Pap pap pap“ wird im Deutschen zu „Schmetter Schmetter Schmetter“, das passt, auch in Bezug auf eine Katastrophengeräuschkulisse; es kann aber keine Brücke zur Flughafen-Sigle herstellen.
Ich kann sagen, dass mich das lautliche „Phänomen“ – oder Wunder -, das Was für ein Wunder ist, euphorisiert hat. Übersetzen ist grundsätzlich ein euphorischer Akt. Es verlangt ein Credo, ein „Ja, ich schaffe es!“ Das ist erotisch! Jouissance. Das heißt, dass ich mit dem Text, den ich übertrage, noch lange nicht verheiratet bin – das wäre Komfortzone -, sondern dass das ein Flirt ist. Auch dort, wo ich vielleicht konzeptuell herausgefordert bin. Zum Beispiel: postfeministisch. Ich schaffe es, für Was für ein Wunder, Begriffe wie „Flammenfrau“ und „Feuerfrau“ stimmig sein zu lassen.
Noch etwas: In Haiti sagt man zum Jenseits „Land ohne Hut“. Auch dieser Begriff bleibt so stehen (wenngleich nicht vom Original begleitet). Wenn Bernard den Schmetterlingsflügelschlag im Ohr rauschen hat, während er versucht, seine vom Erdbeben verursachten Schwindelgefühle in Worte zu fassen, dann können wir uns doch auf ein rauschhaftes Sprechen in Bildern einlassen, und zwar auf Bilder, die nicht alle sofort vertraut erscheinen. Das ist Was für ein Wunder: der Boden verrutscht. Genau das hat Haiti im Januar 2010 erlebt. James Noëls Roman ist ein sprachliches Nachbeben, ein aufwühlender, trickreicher Text über unheilbringende und heilende Kräfte.
Wir sind in der Literatur und nicht in der Wirklichkeit unterwegs, deshalb können wir flugs ohne Schiff und ohne Flugzeug den Atlantik und ein paar Jahre überspringen und mitten im brodelnden London der späten 2010er Jahre landen. Isabel Waidner zeigt uns Sub-Kultur in ihren schillerndsten Form- und Sprachverrenkungen. Ihre Übersetzerin Ann Cotten lotst uns mit einer brillanten, selbstbewussten Übersetzung durch den scheinbar post-identitären, queeren Kosmos von Waidners Heldinnen. Der Plot ist dabei Nebensache – aufregender ist die witzige, freie und zutiefst originelle Sprache.
Wie klingt Isabel Waidners London?
Es ist ein London, das sehr dem entspricht, das ich als Random Walker dort gelegentlich erlebt habe – wobei da die Illusion mitspielen mag, dass beim Lesen die eigene Erfahrung Illustratorni ist. Es sind unauffällige Orte, alltägliche Orte, z. B. Tierbestattungsunternehmen, housing projects also Sozialbauten, Waidner fährt einen entschiedenen und selbstbewussten working-class vibe, der sich mit dem Vibe der Lesbenszene harmonisch mischt. Die Orte sind aber mit Insiderwissen – ich möchte fast sagen, verlinkt. Der Effekt ist, dass man, wo man ankommt, in die Geschichte taucht: aber eine Queer-Geschichte, etwa beim Gay Zoo, eine Geschichte der Technologie wie bei einem historischen Teppich aus einem seltenen Vorläufer von Polyethylentriphosphat, der im Wartesaal eines recht campigen Zahnreparaturladens ist, Architektur- und Filmgeschichte. Als hätte man so eine Brille auf, die einem zu den trüben Vorstädten, durch die man geht, die Details liefert. Und: Wo man hinkommt, gibt es Lesben! Man glaubt es nicht, aber geh mal nach Waidner-Lektüre durch jede beliebige Vorstadt, Dorf, etc., … Es ist schon interessant mit ihrer berühmten Unsichtbarkeit; wenn man durch die Lektüre auf die Ästhetik und particular coolness eingetuned ist, fügen sich plötzlich alle Teile zusammen, und man merkt, Butchness ist schon mehr als einfach nur Frauen in kurzen Hosen.
Worum geht es überhaupt in dem Buch?
Es wird ein Projekt verfolgt, und zwar die Produktion einer Serie, die von verschiedensten sich verkettenden Schwierigkeiten heimgesucht wird, angefangen von der Flucht eines Wellensittichs, die zusammen mit der Prokrastinationswilligkeit einiger handelnder Personen die Geschichte ins Rollen bringt. Die Heldennni eint eine Liebe zum Detail und zu Abwegen. In fast jedem Kapitel kommt ein neuer Ort hinzu, und die unwichtigste Figur des vorigen Kapitels wird zur Hauptfigur. So ist auf der strukturellen Ebene einem binären und hierarchischen Denken und Fühlen vorgebeugt. Das finde ich äußerst schlau. Es geht dann zentral um die Art, wie gemeinsam gearbeitet wird, aufeinander reagiert wird, um die Skills und Traumata mehrerer Generationen queerer Menschen und Räumen, die durch ihre Netzwerke lebbar gemacht werden, queere, bewegliche, solidarische Heimaten vielleicht, wenn das Wort nicht zu ekelhaft ist.
In Geile Deko wimmelt es vor non-binären, oder – wie Sie es übersetzen – „QUILTBASCH Menschen“. Für diese Charaktere verwenden Sie „polnisches Gendering“ und wirbeln die grammatikalischen Genusänderungen durcheinander. Ist das Englische dem Deutschen in dieser Hinsicht überlegen? Oder gar das Deutsche dem Englischen?
Beim Gendering gehts ja nicht um einen Wettbewerb – bzw. wenn doch, dann gewinnt sicher die Sprache, die es am unauffälligsten macht. Das ist aber vielleicht gerade beim Gendering ein Kurzschluss: Gendering ist keine Lösung, sondern Aufmerksam-Machen auf ein Problem. Wenn es also darum geht, sich auffälliger als störende, weil nicht ausreichend mitgedachte Realität aufscheinen zu lassen, gewinnt sicher das Deutsche, das ja überhaupt vielleicht die sperrigere, verquerere, umständlichere Sprache ist. Ich sehe, wenn ich ans Deutsche denke, ein Bild von Bauholz, wo sich immer irgendwo ein Eck findet, wo man was festnageln kann – Englisch ist da ein glatteres Material, vielleicht mehr wie Epoxy oder Gußbeton, wo man anders planen, anders denken muss.
Hinter dem Ärmelkanal liegt Festlandeuropa: Frankreich, Belgien, Deutschland. In Berlin holt uns die ukrainische Autorin und Künstlerin Yevgenia Belorusets ab und nimmt uns mit auf eine Reise durch ihr Heimatland. In den Jahren 2016–2018 ist neben Fotostrecken ein erzählerisches Mosaik an Momentaufnahmen entstanden, in denen sie vor allem das Leben der Frauen festhält – mal reportageartig, mal märchenhaft, persönlich und distanziert zugleich. Der Krieg in der Ostukraine steht nie im Vordergrund, ist jedoch hintergründig überall präsent. Glückliche Fälle, von Claudia Dathe aus dem Russischen übersetzt und 2019 bei Matthes & Seitz erschienen, ist eine quer durch die Region reichende Sammlung von Begegnungen, Gesprächen und Geschichten.
Wie klingt Yevgenia Belorusets’ Ukraine?
Der Begriff der Nation ist für das hier vorliegende Buch von Yevgenia Belorusets und für ihr gesamtes Schaffen meiner Meinung nach nicht die passende Bezugsgröße. Weder in ihren Büchern noch in ihren Fotoarbeiten beabsichtigt die Künstlerin, für die Ukraine als Nation zu sprechen bzw. Nation als imaginierte, durch Narrative konstruierte Gemeinschaft zu adressieren. Sie setzt sich in ihren Werken mit sozialen Phänomenen der Gesellschaft auseinander, so etwa in ihrer Fotoserie „Moja komnata“ (Dt. Mein Zimmer), das das private Lebensumfeld von Paaren der LGBT-Community zeigt. Im Mittelpunkt ihrer Arbeiten steht häufig die Frage nach den Auswirkungen politischer und gesellschaftlicher Umbrüche und Krisen auf das Leben des Einzelnen, z.B. in ihrer Fotoserie zu Rückzugsorten von Menschen während der Proteste auf dem Maidan. Im vorliegenden Buch thematisiert sie die Folgen des inzwischen sechs Jahre andauernden Kriegs im Osten der Ukraine für den Einzelnen. Die Stimmen, die sie in ihren Porträts (re-)konstruiert, versetzen uns in eine beklemmende Situation von Zerstörung und Unwägbarkeit, in der entstandene Verluste für die Psyche der Menschen oft viel schlimmer sind als jeglicher materieller Schaden.
Die Autorin lebt in Kiew und Berlin. Wie eng haben Sie bei der Übersetzung des russischen Textes ins Deutsche zusammengearbeitet?
Yevgenia Belorusets und mich verbinden seit vielen Jahren ein enger Austausch und eine fruchtbare Zusammenarbeit. So hatte ich das Privileg, das nunmehr in deutscher Übersetzung vorliegende Buch bereits als Manuskript lesen zu dürfen. Für die Übersetzung haben Yevgenia und ich sehr eng zusammengearbeitet. Die Text leben wesentlich von der durch ausgefeilte sprachliche Formulierungen vermittelten Atmosphäre. Die Protagonistinnen und Protagonisten haben ihre ganz eigene Stimme, die in der Übersetzung getroffen werden muss, sonst verlieren sie ihren Charakter und der gesamte Klang der Situation geht verloren. Die Porträts sind in weiten Teilen als Monologe gestaltet, die nur eine schmale Rahmenhandlung aufweisen. In unserer gemeinsamen Arbeit an der Übersetzung haben wir uns intensiv über den Klang der Stimmen, über die Personen, die sich dahinter verbergen, ihre Charaktere und ihr Umfeld, ihre Prägungen ausgetauscht. Für die Übersetzung war es sehr wichtig, den Klang, die Atmosphäre und die Prägungen zu verstehen und zu erspüren, um sie entsprechend im Deutschen nachzubilden. Es war problemlos möglich, sich persönlich zu treffen – das muss man ja heute in Corona-Zeiten betonen – und wir haben von dieser Möglichkeit ausgiebig Gebrauch gemacht.
Für Glückliche Fälle vereint Belorusets ihre Tätigkeit als Fotografin und Schriftstellerin und verwischt bewusst die Grenzen von Dokumentation und Fiktion. Wie würden Sie das Verhältnis von Wirklichkeit und Fantasie im Buch beschreiben?
Jede Bezugnahme auf die Wirklichkeit ist gleichzeitig Beschreibung und Fiktion, denn indem ein Autor das eine beschreibt und das andere weglässt, ruft er bei uns als Leser bestimmte Szenen, Erinnerungen und Vorstellungen hervor, mit der wir das Gelesene automatisch ergänzen. Interessant sind erzählte Geschichten immer dann, wenn wir sie für uns ergänzen, ausschmücken, weitererzählen können, wenn uns das leicht fällt, wenn wir Freude daran haben.
Von Kiew sind es nur knapp 1.000 Kilometer bis nach Sofia, doch um in Angel Igovs Roman Die Sanftmütigen zu landen, müssen wir 75 Jahre in der Zeit zurückreisen. Bulgarien steht 1944/45 an der Schwelle vom Zarentum zur sozialistischen Volksrepublik. Vor hastig zusammengestoppelten „Volksgerichten“ sind die Schauprozesse gegen die abgesetzten bürgerlichen Eliten in vollem Gange. Angel Igov hat mit diesem Werk ein jahrzehntelanges literarisches Tabu gebrochen. Er erzählt von Macht und Verantwortung, Gerechtigkeit und Manipulation – und vom Aufstieg des „kleinen Mannes“: Emil Strezov, dessen Frustration und Rachsucht geschickt von den neuen Machthabern instrumentalisiert werden, mausert sich binnen Monaten vom unbedeutenden Jungpoeten aus einem Sofioter Armenviertel zum gnadenlosen Ankläger gegen die etablierten Literaten.
Wie klingt Angel Igovs Sofia?
„Es war der Puls, der Tagesrhythmus, der aus dem Tritt gekommen war. Wellen von Angst und Wellen von Begeisterung brandeten, eine nach der anderen, eine die andere austreibend, über Häuser und Baracken, so dass das Viertel abwechselnd verstummte, in Furcht erstarrte, und dann wieder Trauben von Menschen ausspie, die eben noch in den hintersten Winkeln ihres Zuhauses verkrochen gewesen; binnen weniger Stunden konnte man dieselben Gesichter erst hinter morschen Fenstern, vergilbten Gardinen lauern und plötzlich wieder auf der Straße in einen flutenden Menschenstrom eingehen sehen, doch kurz bevor all die Ströme zu einem stürmischen Meer hätten zusammenfließen und in irgendeine Richtung losbrechen können, kippte die Stimmung wieder um, die Leute stoben auseinander, und die staubigen Straßen waren leer.“
Die Sanftmütigen bricht ein historisches Tabu: Er erzählt von den „Volksgerichten“, die 1944–45 in Schauprozessen nach sowjetischem Vorbild tausende Menschen zum Tod oder zu langen Haftstrafen verurteilten. Welche Rolle spielt der Roman für die kollektive Erinnerungskultur in Bulgarien?
Schwer zu sagen. Eben ist in Bulgarien das neue Buch von Georgi Gospodinov erschienen, ein Gegenwartsroman. Er diagnostiziert seinem Land einen Zustand, wo Vergangenheitsseligkeit und Vergangenheitsvergessenheit in eins gehen, und entwirft die groteske Phantasie eines Referendums, bei dem die Bevölkerung in Ermangelung von Zukunft entscheiden darf, in welches Dezennium seiner Geschichte das Land zurückkehren soll. Alle machen mit, und das Ergebnis ist fatal: Die Hälfte möchte in den Sozialismus zurück, die andere gleich ins 19. Jh., an die Wiege der nationalen Wiedergeburt … Vor dem hier beschworenen Hintergrund von „Erinnerungskultur“ war das Interesse für Igovs historische Fiktion beachtlich. Die Wahrheit der Archive ist das eine – dieser Wahrheit Leben einzuhauchen der eigentliche Akt der Aufklärung.
Ihre Übersetzung hat, zunächst mit der Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse, nun mit dem Internationalen Literaturpreis, einige Aufmerksamkeit für die bulgarische Literatur auf sich gezogen. Welches Meisterwerk aus dem Land würden Sie gerne als nächstes übersetzen?
Gute Frage – und die Antwort ist noch besser: Es geschieht schon! Gerade bereite ich für den Arco Verlag eine Ausgabe der Gedichte von Alexander Vutimski vor, einem „verfluchten“ Sofioter Dichter am Vorabend des 2. Weltkriegs. Und nächstes Jahr soll Die Schleuder von Jordan Radičkov bei eta erscheinen: ein Roman, in den ich mich vor vierzig Jahren als Student verliebt habe. Beides Bücher, die stark ins Heute wirken. Da geht etwas! Möge auch die versprengte Handvoll ÜbersetzerkollegInnen in Wien, Werneuchen, Zürich, Ham‑, Duis‑, Luxemburg und dem alten Schäferdorf Runja wieder etwas Mut schöpfen. Wir machen weiter.
Vor lauter Lesestoff hätten wir fast gar nicht bemerkt, dass wir im Begriff sind, den Okzident hinter uns zu lassen. Jetzt gibt es kein Zurück mehr: Hinter dem Bosporus liegt die Türkei und dahinter Persien – Teheran ist unser nächstes Ziel. Amir Hassan Cheheltan hat der iranischen Hauptstadt bereits vor Jahren in seiner „Teheran-Trilogie“ ein Denkmal gesetzt. In seinem neuesten, 2019 in Jutta Himmelreichs Übersetzung auf Deutsch erschienenen Werk, steigt er noch einmal zu den Ursprüngen seiner eigenen Literaturbegeisterung herab und erzählt, wie er in seinem Elternhaus mit den Werken der klassischen persischen Literatur sozialisiert wurde, während die politischen Verwerfungen um ihn herum immer weiter um sich griffen.
Wie klingt Cheheltans Teheran?
welche prioritäten setzt die menschliche wahrnehmung, wenn man eine zu papier gebrachte stadt betritt? hört, sieht, riecht, schmeckt, spürt man sie zuerst? von autostaus, dichtem smog und verkehrslärm in der metropole ganz zu schweigen, hat iran in den letzten siebzig jahren einen putsch, eine revolution, einen krieg, innere machtkämpfe, kettenmorde an autorinnen, autoren, die massenhinrichtung oppositioneller sowie mehrere gewaltsam erstickte protestbewegungen – nicht nur in teheran – erlebt.
sobald der kaum erträgliche lärm sich legt, hört man die mitglieder des zirkels der literaturliebhaber bisweilen schallend lachen, über anzügliche witze oder freizügige liebesabenteuer, die ihnen das genaue studium ihrer alten dichter offenbart. herzhaftes lachen, in dem der besondere humor und der feine sinn für selbstironie der lyriker und ihrer leser anklingen. auch hitzige debatten kann man verfolgen, über die unerhörte tatsache, dass die großen dichter einst nicht nur weiblichen geliebten huldigten, sondern auch unwiderstehlichen jünglingen ganze verszyklen widmeten.
von der metropole aus zeichnet cheheltan die geschichte seines landes nach, um zu zeigen, wie stark historische ereignisse nicht nur die charaktere seiner werke [be]treffen. auch will er die rolle und bedeutung der frauen würdigen. jüngstes beispiel im jahr 2017 deren mutige proteste gegen den kopftuchzwang. anregungen findet der unermüdliche chronist, den die berliner zeitung den balzac irans nennt, in jedem winkel seiner ruhelosen mega-city.
Der Autor beschreibt seine intellektuelle Erwachsenwerdung im Literaturkreis seines Vaters – doch am Ende des Buches steht der Untergang dieser Welt. Wie ist es heute um die iranische Literaturszene bestellt?
literatur entsteht zum einen in eigens für kreatives schreiben eingerichteten instituten, ideologisch genehme texte von eher geringer qualität. cheheltan vergleicht sie aufgrund der offiziell vorgegebenen themenpalette mit wohnungen ohne bäder, toiletten und schlafzimmer, in denen alltag sich abspielt, ohne auch nur ansatzweise die intimsphäre ihrer charaktere zu thematisieren. insbesondere jüngere, in der islamischen republik aufgewachsene autorinnen, autoren, nehmen eingriffe in ihre werke fast selbstverständlich in kauf oder zensieren sich bereits selbst.
zu nennen ist auch die art von literatur, die zwar außerhalb der genannten institute entsteht, durch die zensur aber bis zur leblosigkeit entstellt wird. zensoren, offiziell ‚rezensenten‘ genannt, machen mitunter auch vor ins persische übertragenen werken ausländischer autorinnen, autoren nicht halt. bertolt brechts mutter courage beispielsweise gilt als obszön. autokorrektur-programme erleichtern die arbeit, wenn zB an die stelle von „wein“ entweder „kaffee“ oder ein [„erfrischungs-]getränk“ treten muss. in einem kochbuch sollte „wein“ durch „essig“ ersetzt werden.
trotz – und wegen – des wissens um die staatlichen eingriffe herrscht große nachfrage nach übersetzten werken aus dem arabischen raum, den USA, der türkei, europa. und selbst klassische iranische dichter bleiben vor eingriffen in ihre werke nicht verschont. hingewiesen sei auch auf autorinnen, autoren, die von der veröffentlichung ihrer werke in iran ganz absehen, sie stattdessen im ausland im persischen original und/ oder in übersetzung publizieren, um ausländische märkte zu erschließen, solange der heimische markt ihnen verwehrt bleibt.
unterdessen gelingt es namhaften im lande schreibenden autorinnen und autoren, zwischen ihren textzeilen raum zu lassen, in dem man ausgiebig lesen kann. hier wird der mechanismus der [selbst-]zensur ausgehebelt, sozusagen von der not zur tugend. namhafte privat betriebene verlage veröffentlichen solche werke im engen rahmen des möglichen und sind quasi wegweiser zu den nischen, in denen gute literatur sich zu behaupten sucht. cheheltan unterrichtet kreatives schreiben. auch fariba vafi, 2017 trägerin des in frankfurt am main verliehenen liBeraturpreises, veranstaltete, der an den preis geknüpften bedingung gemäß, schreibwerkstätten. die autorin wird in kürze – wie übrigens herr cheheltan im jahr 2009 – als stipendiatin des DAAD-künstlerprogramms in berlin erwartet. in naher zukunft machen hoffentlich weitere aus dem persischen übersetzende kolleginnen, kollegen uns einzigartige literatur aus dem land zugänglich, das eine jahrhundertealte literarische tradition hat, und dessen große dichter ihre deutschen kollegen bekanntlich schon vor jahrhunderten inspiriert haben.
Zu welchen Übersetzungen ins Deutsche sollten Leserinnen und Leser greifen, die sich für die von Cheheltan beschriebenen altpersischen Dichtungen interessieren?
zum einstieg sei hier eine sehr kleine, leicht zugängliche auswahl von werken genannt. werkzeug, mittels dessen man verse in den hier genannten werken anders lesen könnte als bisher, hat der lesezirkel uns an die hand gegeben.
- atabay, cyrus und kurt scharf (hg.): hafis, rumi, omar chajjam. die schönsten gedichte aus dem klassischen persien, c.h. beck, münchen, 2009
- atabay, cyrus: hafis, liebesgedichte, insel taschenbuch, frankfurt am main, 1980
- attar: das buch der leiden, c.h. beck, münchen, 2017
- firdausi: das buch der könige. übertragen von uta v. witzleben, diederichs, düsseldorf, 1961
- ferdosi-rückert: schahnameh, das buch der könige, w. von keitz (hg.), neuausgabe in 3 bänden, e‑publi, berlin 2017–19
- rumi, dschalaluddin : gedichte aus dem diwan, c.h. beck, münchen, 2016
- schimmel, annemarie: rumi. ich bin wind und du bist feuer, chalice, xanten, 2003
- sa’adi, muslih ad-din: der rosengarten, c.h. beck, münchen, 1998
- saadis bostan. aus dem persischen von friedrich rückert, wallstein verlag, göttingen, 2013
- deutsche übersetzungen klassischer lyrik des orients online unter
http://www.deutsche-liebeslyrik.de/orient/orient.htm
Wir haben Europa endgültig hinter uns gelassen, vor uns liegt eine lange letzte Reise. Wir durchqueren das Zweistromland, fliegen über die arabische Wüste, schwimmen durch das Rote Meer, reiten durchs Niltal und schließlich durch die endlose Sahara, ehe wir im Nigeria Chigozie Obiomas ankommen, gerade noch rechtzeitig für eine Gerichtsverhandlung epischen Ausmaßes.
Angeklagt ist der Chi, der Schutzgeist, eines Mannes namens Chinoso. Eigentlich müsste er erst nach dem Ableben seines „Schützlings“ dort aussagen, doch die Geschehnisse in dessen Leben zwingen ihn, frühzeitig vor das Gericht im himmlischen Ort Eluigwe zu treten und sich zu rechtfertigen. Bildreich und scheinbar allwissend erzählt der Schutzgeist in Das Weinen der Vögel, ins Deutsche gebracht von Nicolai von Schweder-Schreiner, von Chinonso und seiner Freundin Ndali, von der Ablehnung und Demütigung ihrer Familie und davon, wie er seine Hühnerfarm in Umuahia verkaufte, um in Zypern einen Abschluss in Betriebswirtschaft zu machen.
Wie klingt Chigozie Obiomas Nigeria?
Chigozie Obiomas Nigeria klingt nicht so exotisch wie z.B. Amos Tutuolas My Life in the Bush of Ghosts, wobei man anfangs ja direkt in die Welt der Igbo-Geister und Götter geworfen wird und die Ankunft des Schutzgeistes auf der Erde dann an die Ouvertüre der grandiosen Comicverfilmung Black Panther erinnert, danach wird es dann aber nüchterner. Ich habe erfreulicherweise eine nigerianische Schwägerin und war vor ein paar Jahren in Nigeria. Das bei Obioma beschriebene Straßenbild, die Schilderung des sozialen Gefüges und die allgemeine Atmosphäre dort fand ich sehr evokativ und nachvollziehbar. Interessant dann auch der Kontrast zu der Phase, die in Zypern spielt.
Der Erzähler in Das Weinen der Vögel ist der „Chi“ der Hauptfigur, sein Schutzgeist. Der Roman beinhaltet viele solcher uns Europäerinnen und Europäern fremden Konzepte der Igbo-Kosmologie. Wie wirkt sich das auf den Übersetzungsprozess aus?
Erst mal respekteinfößend und verwirrend, aber letztendlich ensteht dadurch ein märchenhafter, geheimnisvoller Ton und eine hilfreiche, bereichernde Perspektive und schöne Abwechslung. Die Arbeit an den Realismuspassagen war dann allerdings doch meistens eine Erleichterung, zumal die Ansprachen des Schutzgeistes oft sehr geschickt verklausuliert sind. Man muss das ja auch erst mal alles verstehen. Im zweiten Durchgang hatte ich zumindest das Gefühl, dem Leser da mehr zumuten zu können als anfangs angenommen. Auf jeden Fall haben wir nichts geglättet oder angeglichen.
Der Großteil des Romans ist in „der Sprache des Weißen Mannes“, Englisch, geschrieben, aber auch Pidgin und Igbo kommen vor und bleiben im englischen Original unübersetzt. Wie geht man als deutscher Übersetzer damit um?
Da gibt es ja unterschiedliche Auffassungen und Herangehensweisen. Die einen finden es doof, wenn das typische „o“ als Anhängsel stehen bleibt, die anderen finden es wichtig. Ich habe in Rezensionen zu Übersetzungen anderer nigerianischer Autoren gelesen, man könne es gar nicht richtig machen, es ginge entweder etwas verloren oder sei andersrum zu irritierend. Finde ich beides übertrieben. Wir haben Pidgin-Stellen der Situation entsprechend normal schlicht gelassen und Igbo-Stellen einfach stehen gelassen, meistens ergab sich der Sinn von alleine oder er wurde sowieso im Original auf Englisch wiederholt. Trotzdem, ohne meine Schwägerin hätte ich hier vor einigen Rätseln gestanden. Mein hervorragender Lektor Hannes Ulbrich hat dann jeweils eingeschätzt, wie gut eine Stelle funktioniert, und damit war es abgesegnet. Letztendlich ist es ja mehr Literatur als linguistische oder folkloristische Studie. Nichtdestotrotz kommt alles vor, auch die mitunter leicht fremde Logik und die schrägen Metaphern.