Die über­setz­te Gegenwart

Sechs Bücher erhalten in diesem Jahr den Internationalen Literaturpreis. Gemeinsam mit den prämierten Übersetzerinnen und Übersetzern reisen wir einmal um die Welt und stellen die Preisträgerwerke vor.

© Car­los Capella

Wir begin­nen unse­re Welt­rei­se an der Sei­te von James Noël und sei­ner Über­set­ze­rin Rike Bol­te in Hai­ti, genau­er gesagt: in Port-au-Prin­ce, im Jahr 2010. Und so schnell kom­men wir hier auch nicht weg, denn ein Erd­be­ben – das Erd­be­ben des noch jun­gen Jahr­hun­derts, von den Hai­tia­nern laut­ma­le­risch Gou­dou­gou­dou getauft – hat das Land soeben heim­ge­sucht. Ber­nard, der Ich-Erzäh­ler in Noëls halb magi­schem, halb sati­ri­schem, immer poe­ti­schem Roman Was für ein Wun­der, hat das Beben über­lebt und platzt nun vor Lebens­lust. An der Sei­te der adret­ten ita­lie­ni­schen NGO-Funk­tio­nä­rin Amo­re schweift er durch sein Land und por­trä­tiert lie­be­voll sei­ne Bewoh­ner eben­so wie die inter­na­tio­na­len Kata­stro­phen­hel­fer, ‑mana­ger und ‑tou­ris­ten, denen es plötz­lich aus­ge­lie­fert ist.

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Wie klingt James Noëls Haiti?

Was für ein Wun­der lie­fert ein regel­rech­tes Stim­men­ge­wirr. Gleich zu Beginn denkt der Prot­ago­nist genau dar­über nach: er erklärt, er sei „völ­lig ver­stimmt“, als er auf dem Roll­feld des Flug­ha­fens Tous­saint-Lou­ver­tu­re von einem Frem­den den Hin­weis bekommt, man befin­de sich nun mal im „Irren­haus des Jahr­hun­derts“. Mit­ten in die­sem Sze­na­rio ver­sucht dann der schrä­ge Vogel, der Ber­nard ist, „sei­ne eige­ne Stim­me“ „aus­fin­dig“ zu machen. Und genau dar­um geht es in Was für ein Wun­der: wie klingt die Stim­me eines „Ver­stimm­ten“, wenn die­ser sich selbst zu ver­or­ten und gleich­zei­tig schlau aus sei­nem Land zu wer­den ver­sucht, das eine Kata­stro­phe ereilt hat? Ber­nard ist zwar „durch den Wind“, doch er über­blickt die Inter­es­sens­ver­flech­tun­gen, die das „unbe­zif­fer­bar“ ver­heer­te Hai­ti in der Man­gel haben: die Inter­es­sen der poli­ti­schen Eli­ten, die der inter­na­tio­na­len NGOs, die der UNO,  etc… und er ver­steht, dass all dies unter dem Schirm des „Spa­ghet­ti­ge­richts der Natio­nen“ statt­fin­det! Ein sol­ches Gemenge­la­ge sorgt für eini­gen Krach.

Doch da ist noch etwas ande­res: in Hai­ti gibt es eine lite­ra­ri­sche Tra­di­ti­on, die sich als Ora­lit­té­ra­tu­re bezeich­nen lässt. Dazu lie­ße sich jetzt weit aus­ho­len. Geor­ges Angla­de, der 2010 bei dem Erd­be­ben umge­kom­men ist – Was für ein Wun­der greift dies auf – ist einer der gro­ßen Reprä­sen­tan­ten und Theo­re­ti­ker die­ser lite­ra­ri­schen Pra­xis oder, ich zitie­re Angla­de, die­ses „bedeu­ten­den hai­tia­ni­schen Gemein­schafts­werks“ (es gibt dafür den Begriff der Lody­ans (= L’audience: Zuhö­rer­schaft). In Was für ein Wun­der fin­den wir vie­le Erzäh­lun­gen in die­sem Sprech-Tonus ver­sam­melt, und mit poe­ti­scher Sicht­wei­se und par­odier­ter Medi­en­spra­che oder kri­sen­psy­cho­lo­gi­schem Slang ver­quickt. Das Zen­trum, um das sie sich bewe­gen, ist das Erd­be­ben; dazu aber kom­men ande­re ‚Wun­der­din­ge‘.

Ich beant­wor­te die Fra­ge ins­ge­samt bewusst etwas tech­nisch, weil mir wich­tig ist, dass dar­aus kein exo­tis­ti­sches Bild ent­steht. „Wie klingt Hai­ti“? Wür­de man denn so schnell fra­gen: „Wie klingt Deutschland?“

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Deutsch­land und die Welt machen gera­de eine ganz ande­re Natur­ka­ta­stro­phe durch. Kön­nen wir von James Noël für die Kri­se lernen?

Zuerst ein­mal lie­fert der Roman z. B. Zah­len. Da geht es um Rela­tio­nen, sogar Sta­tis­tik. Dann ver­knüpft der Text Über­le­gun­gen zum Umgang mit der Kata­stro­phe – Beto­nung auf Umgang! – mit Über­le­gun­gen zur Geschich­te Hai­tis … und mit sol­chen zur Zukunft. Zurück zu Coro­na: Geht es nicht dar­um, eine sozia­le, poli­ti­sche und emo­tio­na­le Spra­che zu fin­den für das, was wir gera­de erle­ben – und zwar nicht nur in Deutsch­land? Und über­haupt: wie sehr seg­re­giert die Kata­stro­phe in den jewei­li­gen Län­dern, sprich, für wen ist es eine Kri­se, für wen eine wirk­li­che Kata­stro­phe? In Was für ein Wun­der gibt es einen ‚Stuhl­kreis‘ mit Betrof­fe­nen, die, von einem Psy­cho­lo­gen gelei­tet, über ihre je per­sön­li­chen Situa­tio­nen spre­chen. Eine chora­le Erzäh­lung, gleich­zei­tig geht es um sub­jek­ti­ve Sichtweisen.

Doch Was für ein Wun­der zeigt ganz vor­ran­gig, dass es wich­tig ist, eine poe­ti­sche Spra­che zu fin­den. Schließ­lich bedeu­tet Kata­stro­phe: das letz­te schlimme/große Ereig­nis eines Gedichts oder Dra­mas. James Noël „packt sich“ die Spra­che, um von der Kata­stro­phe zu reden. Das ist eine ver­dammt intel­li­gent sinn­li­che Spra­che, sie ist einer­seits … „ter­ra-poe­tisch“ (die­ser Begriff zir­ku­liert gera­de so schön anthro­po­zä­nisch), immer­hin geht es um eine sich auf­bäu­men­de Erde. Tat­säch­lich beginnt man beim Lesen des Romans, die Erde auf ero­ti­sche Wei­se wahr­zu­neh­men, zu rie­chen, etc. … 

Noch ein Hin­weis: es wird ‚unge­heu­er­lich‘ viel getanzt  – und gesummt… und geliebt – in Was für ein Wun­der. Ohne Mund­schutz. Doch Ach­tung: UN-Blau­helm-Sol­da­ten schlep­pen nach dem Erd­be­ben die Cho­le­ra in Hai­ti ein. Zu all dem gibt der Roman erschüt­tern­de Hin­wei­se (auch über die Hygie­ne­maß­nah­men). Wer das noch nicht wuss­te oder ver­ges­sen hat:  Was für ein Wun­der leis­tet Katastrophenerinnerungshilfe.

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„Die Über­set­zung war eine Her­aus­for­de­rung“, schrei­ben Sie im Vor­wort und füh­ren an, was alles nicht über­setz­bar war. Auf wel­che Prin­zi­pi­en kam es Ihnen den­noch an?

Ja, so war es. Vor allem wegen der ver­steck­ten Hin­wei­se auf kul­tu­rel­le und inter­tex­tu­el­le Refe­ren­zen sowie sol­che auf die Voo­doo-Reli­gi­on. Ich bin kei­ne Hai­ti-Spe­zia­lis­tin. Ich möch­te hier ganz expli­zit mei­nem Lek­tor Peter Trier dan­ken – des­sen Ver­lag auf hai­tia­ni­sche Lite­ra­tur fokus­siert ist. Wir haben uns über­dies auch in Gedan­ken an das Publi­kum dar­auf geei­nigt, hier und da Fuß­no­ten zu set­zen. Doch es geht ja nun um die poe­ti­sche Trans­la­ti­on. Die vie­len Wort­spie­le, zum Bei­spiel, die den Roman so „oral­li­te­ra­risch“ sein las­sen. Nicht alles davon ließ sich bewah­ren. Des­we­gen habe ich mich teil­wei­se dar­auf ver­legt, kom­pen­sa­to­risch zu paraphrasieren.

Sub­stan­ti­ell ist im Roman auch die Laut­ma­le­rei. Der ori­gi­na­le Text Bel­le mer­veil­le beginnt mit einem „pap pap pap“, das den „papil­lon“, den Schmet­ter­ling ‚ein­fängt‘, der für die cha­os­theo­re­ti­sche Poe­tik des Romans (sie­he But­ter­fly-Effekt) steht, aber auch für die Reprä­sen­ta­ti­on eines Voo­doo Geist­we­sen, Papa Loko. Dann bil­det es die Sig­le PAP für Aéro­port Inter­na­tio­nal de Port-au-Prin­ce ab. „Pap pap pap“ wird im Deut­schen zu „Schmet­ter Schmet­ter Schmet­ter“, das passt, auch in Bezug auf eine Kata­stro­phen­ge­räusch­ku­lis­se; es kann aber kei­ne Brü­cke zur Flug­ha­fen-Sig­le herstellen.

Ich kann sagen, dass mich das laut­li­che „Phä­no­men“ – oder Wun­der –, das Was für ein Wun­der ist, eupho­ri­siert hat. Über­set­zen ist grund­sätz­lich ein eupho­ri­scher Akt.  Es ver­langt ein Cre­do, ein „Ja, ich schaf­fe es!“  Das ist ero­tisch! Jouis­sance. Das heißt, dass ich mit dem Text, den ich über­tra­ge, noch lan­ge nicht ver­hei­ra­tet bin – das wäre Kom­fort­zo­ne -, son­dern dass das ein Flirt ist. Auch dort, wo ich viel­leicht kon­zep­tu­ell her­aus­ge­for­dert bin.  Zum Bei­spiel: post­fe­mi­nis­tisch. Ich schaf­fe es, für Was für ein Wun­der, Begrif­fe wie „Flam­men­frau“ und „Feu­er­frau“ stim­mig sein zu lassen.

Noch etwas: In Hai­ti sagt man zum Jen­seits „Land ohne Hut“. Auch die­ser Begriff bleibt so ste­hen (wenn­gleich nicht vom Ori­gi­nal beglei­tet). Wenn Ber­nard den Schmet­ter­lings­flü­gel­schlag im Ohr rau­schen hat, wäh­rend er ver­sucht, sei­ne vom Erd­be­ben ver­ur­sach­ten Schwin­del­ge­füh­le in Wor­te zu fas­sen, dann kön­nen wir uns doch auf ein rausch­haf­tes Spre­chen in Bil­dern ein­las­sen, und zwar auf Bil­der, die nicht alle sofort ver­traut erschei­nen. Das ist Was für ein Wun­der: der Boden ver­rutscht. Genau das hat Hai­ti im Janu­ar 2010 erlebt. James Noëls Roman ist ein sprach­li­ches Nach­be­ben, ein auf­wüh­len­der, trick­rei­cher Text über unheil­brin­gen­de und hei­len­de Kräfte.

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© Liesl Ujvary

Wir sind in der Lite­ra­tur und nicht in der Wirk­lich­keit unter­wegs, des­halb kön­nen wir flugs ohne Schiff und ohne Flug­zeug den Atlan­tik und ein paar Jah­re über­sprin­gen und mit­ten im bro­deln­den Lon­don der spä­ten 2010er Jah­re lan­den. Isa­bel Waid­ner zeigt uns Sub-Kul­tur in ihren schil­lernds­ten Form- und Sprach­ver­ren­kun­gen. Ihre Über­set­ze­rin Ann Cot­ten lotst uns mit einer bril­lan­ten, selbst­be­wuss­ten Über­set­zung durch den schein­bar post-iden­ti­tä­ren, quee­ren Kos­mos von Waid­ners Hel­din­nen. Der Plot ist dabei Neben­sa­che – auf­re­gen­der ist die wit­zi­ge, freie und zutiefst ori­gi­nel­le Sprache.

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Wie klingt Isa­bel Waid­ners London?

Es ist ein Lon­don, das sehr dem ent­spricht, das ich als Ran­dom Wal­ker dort gele­gent­lich erlebt habe – wobei da die Illu­si­on mit­spie­len mag, dass beim Lesen die eige­ne Erfah­rung Illus­tra­tor­ni ist. Es sind unauf­fäl­li­ge Orte, all­täg­li­che Orte, z. B. Tier­be­stat­tungs­un­ter­neh­men, housing pro­jects also Sozi­al­bau­ten, Waid­ner fährt einen ent­schie­de­nen und selbst­be­wuss­ten working-class vibe, der sich mit dem Vibe der Les­ben­sze­ne har­mo­nisch mischt. Die Orte sind aber mit Insi­der­wis­sen – ich möch­te fast sagen, ver­linkt. Der Effekt ist, dass man, wo man ankommt, in die Geschich­te taucht: aber eine Que­er-Geschich­te, etwa beim Gay Zoo, eine Geschich­te der Tech­no­lo­gie wie bei einem his­to­ri­schen Tep­pich aus einem sel­te­nen Vor­läu­fer von Poly­ethy­len­tri­phos­phat, der im War­te­saal eines recht cam­pi­gen Zahn­re­pa­ra­tur­la­dens ist, Archi­tek­tur- und Film­ge­schich­te. Als hät­te man so eine Bril­le auf, die einem zu den trü­ben Vor­städ­ten, durch die man geht, die Details lie­fert. Und: Wo man hin­kommt, gibt es Les­ben! Man glaubt es nicht, aber geh mal nach Waid­ner-Lek­tü­re durch jede belie­bi­ge Vor­stadt, Dorf, etc., … Es ist schon inter­es­sant mit ihrer berühm­ten Unsicht­bar­keit; wenn man durch die Lek­tü­re auf die Ästhe­tik und par­ti­cu­lar cool­ness ein­ge­tu­n­ed ist, fügen sich plötz­lich alle Tei­le zusam­men, und man merkt, Butch­ness ist schon mehr als ein­fach nur Frau­en in kur­zen Hosen.

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Wor­um geht es über­haupt in dem Buch?

Es wird ein Pro­jekt ver­folgt, und zwar die Pro­duk­ti­on einer Serie, die von ver­schie­dens­ten sich ver­ket­ten­den Schwie­rig­kei­ten heim­ge­sucht wird, ange­fan­gen von der Flucht eines Wel­len­sit­tichs, die zusam­men mit der Pro­kras­ti­na­ti­ons­wil­lig­keit eini­ger han­deln­der Per­so­nen die Geschich­te ins Rol­len bringt. Die Hel­denn­ni eint eine Lie­be zum Detail und zu Abwe­gen. In fast jedem Kapi­tel kommt ein neu­er Ort hin­zu, und die unwich­tigs­te Figur des vori­gen Kapi­tels wird zur Haupt­fi­gur. So ist auf der struk­tu­rel­len Ebe­ne einem binä­ren und hier­ar­chi­schen Den­ken und Füh­len vor­ge­beugt. Das fin­de ich äußerst schlau. Es geht dann zen­tral um die Art, wie gemein­sam gear­bei­tet wird, auf­ein­an­der reagiert wird, um die Skills und Trau­ma­ta meh­re­rer Gene­ra­tio­nen quee­rer Men­schen und Räu­men, die durch ihre Netz­wer­ke leb­bar gemacht wer­den, que­e­re, beweg­li­che, soli­da­ri­sche Hei­ma­ten viel­leicht, wenn das Wort nicht zu ekel­haft ist.

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In Gei­le Deko wim­melt es vor non-binä­ren, oder – wie Sie es über­set­zen – „QUILTBASCH Men­schen“. Für die­se Cha­rak­te­re ver­wen­den Sie „pol­ni­sches Gen­de­ring“ und wir­beln die gram­ma­ti­ka­li­schen Genus­än­de­run­gen durch­ein­an­der. Ist das Eng­li­sche dem Deut­schen in die­ser Hin­sicht über­le­gen? Oder gar das Deut­sche dem Englischen?

Beim Gen­de­ring gehts ja nicht um einen Wett­be­werb – bzw. wenn doch, dann gewinnt sicher die Spra­che, die es am unauf­fäl­ligs­ten macht. Das ist aber viel­leicht gera­de beim Gen­de­ring ein Kurz­schluss: Gen­de­ring ist kei­ne Lösung, son­dern Auf­merk­sam-Machen auf ein Pro­blem. Wenn es also dar­um geht, sich auf­fäl­li­ger als stö­ren­de, weil nicht aus­rei­chend mit­ge­dach­te Rea­li­tät auf­schei­nen zu las­sen, gewinnt sicher das Deut­sche, das ja über­haupt viel­leicht die sper­ri­ge­re, ver­que­re­re, umständ­li­che­re Spra­che ist. Ich sehe, wenn ich ans Deut­sche den­ke, ein Bild von Bau­holz, wo sich immer irgend­wo ein Eck fin­det, wo man was fest­na­geln kann – Eng­lisch ist da ein glat­te­res Mate­ri­al, viel­leicht mehr wie Epo­xy oder Guß­be­ton, wo man anders pla­nen, anders den­ken muss.

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© Björn Hänssler

Hin­ter dem Ärmel­ka­nal liegt Fest­lan­d­eu­ro­pa: Frank­reich, Bel­gi­en, Deutsch­land. In Ber­lin holt uns die ukrai­ni­sche Autorin und Künst­le­rin Yev­ge­nia Bel­o­ru­sets ab und nimmt uns mit auf eine Rei­se durch ihr Hei­mat­land. In den Jah­ren 2016–2018 ist neben Foto­stre­cken ein erzäh­le­ri­sches Mosa­ik an Moment­auf­nah­men ent­stan­den, in denen sie vor allem das Leben der Frau­en fest­hält – mal repor­ta­ge­ar­tig, mal mär­chen­haft, per­sön­lich und distan­ziert zugleich. Der Krieg in der Ost­ukrai­ne steht nie im Vor­der­grund, ist jedoch hin­ter­grün­dig über­all prä­sent. Glück­li­che Fäl­le, von Clau­dia Dathe aus dem Rus­si­schen über­setzt und 2019 bei Matthes & Seitz erschie­nen, ist eine quer durch die Regi­on rei­chen­de Samm­lung von Begeg­nun­gen, Gesprä­chen und Geschichten.

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Wie klingt Yev­ge­nia Bel­o­ru­sets’ Ukraine?

Der Begriff der Nati­on ist für das hier vor­lie­gen­de Buch von Yev­ge­nia Bel­o­ru­sets und für ihr gesam­tes Schaf­fen mei­ner Mei­nung nach nicht die pas­sen­de Bezugs­grö­ße. Weder in ihren Büchern noch in ihren Foto­ar­bei­ten beab­sich­tigt die Künst­le­rin, für die Ukrai­ne als Nati­on zu spre­chen bzw. Nati­on als ima­gi­nier­te, durch Nar­ra­ti­ve kon­stru­ier­te Gemein­schaft zu adres­sie­ren. Sie setzt sich in ihren Wer­ken mit sozia­len Phä­no­me­nen der Gesell­schaft aus­ein­an­der, so etwa in ihrer Foto­se­rie „Moja kom­na­ta“ (Dt. Mein Zim­mer), das das pri­va­te Lebens­um­feld von Paa­ren der LGBT-Com­mu­ni­ty zeigt. Im Mit­tel­punkt ihrer Arbei­ten steht häu­fig die Fra­ge nach den Aus­wir­kun­gen poli­ti­scher und gesell­schaft­li­cher Umbrü­che und Kri­sen auf das Leben des Ein­zel­nen, z.B. in ihrer Foto­se­rie zu Rück­zugs­or­ten von Men­schen wäh­rend der Pro­tes­te auf dem Mai­dan. Im vor­lie­gen­den Buch the­ma­ti­siert sie die Fol­gen des inzwi­schen sechs Jah­re andau­ern­den Kriegs im Osten der Ukrai­ne für den Ein­zel­nen. Die Stim­men, die sie in ihren Por­träts (re-)konstruiert, ver­set­zen uns in eine beklem­men­de Situa­ti­on von Zer­stö­rung und Unwäg­bar­keit, in der ent­stan­de­ne Ver­lus­te für die Psy­che der Men­schen oft viel schlim­mer sind als jeg­li­cher mate­ri­el­ler Schaden.

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Die Autorin lebt in Kiew und Ber­lin. Wie eng haben Sie bei der Über­set­zung des rus­si­schen Tex­tes ins Deut­sche zusammengearbeitet?

Yev­ge­nia Bel­o­ru­sets und mich ver­bin­den seit vie­len Jah­ren ein enger Aus­tausch und eine frucht­ba­re Zusam­men­ar­beit. So hat­te ich das Pri­vi­leg, das nun­mehr in deut­scher Über­set­zung vor­lie­gen­de Buch bereits als Manu­skript lesen zu dür­fen. Für die Über­set­zung haben Yev­ge­nia und ich sehr eng zusam­men­ge­ar­bei­tet. Die Text leben wesent­lich von der durch aus­ge­feil­te sprach­li­che For­mu­lie­run­gen ver­mit­tel­ten Atmo­sphä­re. Die Prot­ago­nis­tin­nen und Prot­ago­nis­ten haben ihre ganz eige­ne Stim­me, die in der Über­set­zung getrof­fen wer­den muss, sonst ver­lie­ren sie ihren Cha­rak­ter und der gesam­te Klang der Situa­ti­on geht ver­lo­ren. Die Por­träts sind in wei­ten Tei­len als Mono­lo­ge gestal­tet, die nur eine schma­le Rah­men­hand­lung auf­wei­sen. In unse­rer gemein­sa­men Arbeit an der Über­set­zung haben wir uns inten­siv über den Klang der Stim­men, über die Per­so­nen, die sich dahin­ter ver­ber­gen, ihre Cha­rak­te­re und ihr Umfeld, ihre Prä­gun­gen aus­ge­tauscht. Für die Über­set­zung war es sehr wich­tig, den Klang, die Atmo­sphä­re und die Prä­gun­gen zu ver­ste­hen und zu erspü­ren, um sie ent­spre­chend im Deut­schen nach­zu­bil­den. Es war pro­blem­los mög­lich, sich per­sön­lich zu tref­fen – das muss man ja heu­te in Coro­na-Zei­ten beto­nen – und wir haben von die­ser Mög­lich­keit aus­gie­big Gebrauch gemacht.

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Für Glück­li­che Fäl­le ver­eint Bel­o­ru­sets ihre Tätig­keit als Foto­gra­fin und Schrift­stel­le­rin und ver­wischt bewusst die Gren­zen von Doku­men­ta­ti­on und Fik­ti­on. Wie wür­den Sie das Ver­hält­nis von Wirk­lich­keit und Fan­ta­sie im Buch beschreiben?

Jede Bezug­nah­me auf die Wirk­lich­keit ist gleich­zei­tig Beschrei­bung und Fik­ti­on, denn indem ein Autor das eine beschreibt und das ande­re weg­lässt, ruft er bei uns als Leser bestimm­te Sze­nen, Erin­ne­run­gen und Vor­stel­lun­gen her­vor, mit der wir das Gele­se­ne auto­ma­tisch ergän­zen. Inter­es­sant sind erzähl­te Geschich­ten immer dann, wenn wir sie für uns ergän­zen, aus­schmü­cken, wei­ter­erzäh­len kön­nen, wenn uns das leicht fällt, wenn wir Freu­de dar­an haben.

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© Roman Ekimov/ PANDA

Von Kiew sind es nur knapp 1.000 Kilo­me­ter bis nach Sofia, doch um in Angel Igovs Roman Die Sanft­mü­ti­gen zu lan­den, müs­sen wir 75 Jah­re in der Zeit zurück­rei­sen. Bul­ga­ri­en steht 1944/45 an der Schwel­le vom Zaren­tum zur sozia­lis­ti­schen Volks­re­pu­blik. Vor has­tig zusam­men­ge­stop­pel­ten „Volks­ge­rich­ten“ sind die Schau­pro­zes­se gegen die abge­setz­ten bür­ger­li­chen Eli­ten in vol­lem Gan­ge. Angel Igov hat mit die­sem Werk ein jahr­zehn­te­lan­ges lite­ra­ri­sches Tabu gebro­chen. Er erzählt von Macht und Ver­ant­wor­tung, Gerech­tig­keit und Mani­pu­la­ti­on – und vom Auf­stieg des „klei­nen Man­nes“: Emil Stre­zov, des­sen Frus­tra­ti­on und Rach­sucht geschickt von den neu­en Macht­ha­bern instru­men­ta­li­siert wer­den, mau­sert sich bin­nen Mona­ten vom unbe­deu­ten­den Jung­poe­ten aus einem Sofio­ter Armen­vier­tel zum gna­den­lo­sen Anklä­ger gegen die eta­blier­ten Literaten.

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Wie klingt Angel Igovs Sofia?

„Es war der Puls, der Tages­rhyth­mus, der aus dem Tritt gekom­men war. Wel­len von Angst und Wel­len von Begeis­te­rung bran­de­ten, eine nach der ande­ren, eine die ande­re aus­trei­bend, über Häu­ser und Bara­cken, so dass das Vier­tel abwech­selnd ver­stumm­te, in Furcht erstarr­te, und dann wie­der Trau­ben von Men­schen aus­spie, die eben noch in den hin­ters­ten Win­keln ihres Zuhau­ses ver­kro­chen gewe­sen; bin­nen weni­ger Stun­den konn­te man die­sel­ben Gesich­ter erst hin­ter mor­schen Fens­tern, ver­gilb­ten Gar­di­nen lau­ern und plötz­lich wie­der auf der Stra­ße in einen flu­ten­den Men­schen­strom ein­ge­hen sehen, doch kurz bevor all die Strö­me zu einem stür­mi­schen Meer hät­ten zusam­men­flie­ßen und in irgend­ei­ne Rich­tung los­bre­chen kön­nen, kipp­te die Stim­mung wie­der um, die Leu­te sto­ben aus­ein­an­der, und die stau­bi­gen Stra­ßen waren leer.“

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Die Sanft­mü­ti­gen bricht ein his­to­ri­sches Tabu: Er erzählt von den „Volks­ge­rich­ten“, die 1944–45 in Schau­pro­zes­sen nach sowje­ti­schem Vor­bild tau­sen­de Men­schen zum Tod oder zu lan­gen Haft­stra­fen ver­ur­teil­ten. Wel­che Rol­le spielt der Roman für die kol­lek­ti­ve Erin­ne­rungs­kul­tur in Bulgarien?

Schwer zu sagen. Eben ist in Bul­ga­ri­en das neue Buch von Geor­gi Gos­po­di­nov erschie­nen, ein Gegen­warts­ro­man. Er dia­gnos­ti­ziert sei­nem Land einen Zustand, wo Ver­gan­gen­heits­se­lig­keit und Ver­gan­gen­heits­ver­ges­sen­heit in eins gehen, und ent­wirft die gro­tes­ke Phan­ta­sie eines Refe­ren­dums, bei dem die Bevöl­ke­rung in Erman­ge­lung von Zukunft ent­schei­den darf, in wel­ches Dez­en­ni­um sei­ner Geschich­te das Land zurück­keh­ren soll. Alle machen mit, und das Ergeb­nis ist fatal: Die Hälf­te möch­te in den Sozia­lis­mus zurück, die ande­re gleich ins 19. Jh., an die Wie­ge der natio­na­len Wie­der­ge­burt … Vor dem hier beschwo­re­nen Hin­ter­grund von „Erin­ne­rungs­kul­tur“ war das Inter­es­se für Igovs his­to­ri­sche Fik­ti­on beacht­lich. Die Wahr­heit der Archi­ve ist das eine – die­ser Wahr­heit Leben ein­zu­hau­chen der eigent­li­che Akt der Aufklärung.

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Ihre Über­set­zung hat, zunächst mit der Nomi­nie­rung für den Preis der Leip­zi­ger Buch­mes­se, nun mit dem Inter­na­tio­na­len Lite­ra­tur­preis, eini­ge Auf­merk­sam­keit für die bul­ga­ri­sche Lite­ra­tur auf sich gezo­gen. Wel­ches Meis­ter­werk aus dem Land wür­den Sie ger­ne als nächs­tes übersetzen? 

Gute Fra­ge – und die Ant­wort ist noch bes­ser: Es geschieht schon! Gera­de berei­te ich für den Arco Ver­lag eine Aus­ga­be der Gedich­te von Alex­an­der Vutim­ski vor, einem „ver­fluch­ten“ Sofio­ter Dich­ter am Vor­abend des 2. Welt­kriegs. Und nächs­tes Jahr soll Die Schleu­der von Jor­dan Radič­kov bei eta erschei­nen: ein Roman, in den ich mich vor vier­zig Jah­ren als Stu­dent ver­liebt habe. Bei­des Bücher, die stark ins Heu­te wir­ken. Da geht etwas! Möge auch die ver­spreng­te Hand­voll Über­set­zer­kol­le­gIn­nen in Wien, Wer­neu­chen, Zürich, Ham‑, Duis‑, Luxem­burg und dem alten Schä­fer­dorf Run­ja wie­der etwas Mut schöp­fen. Wir machen weiter.

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© pri­vat

Vor lau­ter Lese­stoff hät­ten wir fast gar nicht bemerkt, dass wir im Begriff sind, den Okzi­dent hin­ter uns zu las­sen. Jetzt gibt es kein Zurück mehr: Hin­ter dem Bos­po­rus liegt die Tür­kei und dahin­ter Per­si­en – Tehe­ran ist unser nächs­tes Ziel. Amir Hassan Cheh­el­tan hat der ira­ni­schen Haupt­stadt bereits vor Jah­ren in sei­ner „Tehe­ran-Tri­lo­gie“ ein Denk­mal gesetzt. In sei­nem neu­es­ten, 2019 in Jut­ta Him­mel­reichs Über­set­zung auf Deutsch erschie­ne­nen Werk, steigt er noch ein­mal zu den Ursprün­gen sei­ner eige­nen Lite­ra­tur­be­geis­te­rung her­ab und erzählt, wie er in sei­nem Eltern­haus mit den Wer­ken der klas­si­schen per­si­schen Lite­ra­tur sozia­li­siert wur­de, wäh­rend die poli­ti­schen Ver­wer­fun­gen um ihn her­um immer wei­ter um sich griffen.

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Wie klingt Cheh­elt­ans Teheran?

wel­che prio­ri­tä­ten setzt die mensch­li­che wahr­neh­mung, wenn man eine zu papier gebrach­te stadt betritt? hört, sieht, riecht, schmeckt, spürt man sie zuerst? von auto­staus, dich­tem smog und ver­kehrs­lärm in der metro­po­le ganz zu schwei­gen, hat iran in den letz­ten sieb­zig jah­ren einen putsch, eine revo­lu­ti­on, einen krieg, inne­re macht­kämp­fe, ket­ten­mor­de an autorin­nen, autoren, die mas­sen­hin­rich­tung oppo­si­tio­nel­ler sowie meh­re­re gewalt­sam erstick­te pro­test­be­we­gun­gen – nicht nur in tehe­ran – erlebt.

sobald der kaum erträg­li­che lärm sich legt, hört man die mit­glie­der des zir­kels der lite­ra­tur­lieb­ha­ber bis­wei­len schal­lend lachen, über anzüg­li­che wit­ze oder frei­zü­gi­ge lie­bes­aben­teu­er, die ihnen das genaue stu­di­um ihrer alten dich­ter offen­bart. herz­haf­tes lachen, in dem der beson­de­re humor und der fei­ne sinn für selbst­iro­nie der lyri­ker und ihrer leser anklin­gen. auch hit­zi­ge debat­ten kann man ver­fol­gen, über die uner­hör­te tat­sa­che, dass die gro­ßen dich­ter einst nicht nur weib­li­chen gelieb­ten hul­dig­ten, son­dern auch unwi­der­steh­li­chen jüng­lin­gen gan­ze vers­zy­klen widmeten.

von der metro­po­le aus zeich­net cheh­el­tan die geschich­te sei­nes lan­des nach, um zu zei­gen, wie stark his­to­ri­sche ereig­nis­se nicht nur die cha­rak­te­re sei­ner wer­ke [be]treffen. auch will er die rol­le und bedeu­tung der frau­en wür­di­gen. jüngs­tes bei­spiel im jahr 2017 deren muti­ge pro­tes­te gegen den kopf­tuch­zwang. anre­gun­gen fin­det der uner­müd­li­che chro­nist, den die ber­li­ner zei­tung den bal­zac irans nennt, in jedem win­kel sei­ner ruhe­lo­sen mega-city.

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Der Autor beschreibt sei­ne intel­lek­tu­el­le Erwach­sen­wer­dung im Lite­ra­tur­kreis sei­nes Vaters – doch am Ende des Buches steht der Unter­gang die­ser Welt. Wie ist es heu­te um die ira­ni­sche Lite­ra­tur­sze­ne bestellt?

lite­ra­tur ent­steht zum einen in eigens für krea­ti­ves schrei­ben ein­ge­rich­te­ten insti­tu­ten, ideo­lo­gisch geneh­me tex­te von eher gerin­ger qua­li­tät. cheh­el­tan ver­gleicht sie auf­grund der offi­zi­ell vor­ge­ge­be­nen the­men­pa­let­te mit woh­nun­gen ohne bäder, toi­let­ten und schlaf­zim­mer, in denen all­tag sich abspielt, ohne auch nur ansatz­wei­se die intim­sphä­re ihrer cha­rak­te­re zu the­ma­ti­sie­ren. ins­be­son­de­re jün­ge­re, in der isla­mi­schen repu­blik auf­ge­wach­se­ne autorin­nen, autoren, neh­men ein­grif­fe in ihre wer­ke fast selbst­ver­ständ­lich in kauf oder zen­sie­ren sich bereits selbst.

zu nen­nen ist auch die art von lite­ra­tur, die zwar außer­halb der genann­ten insti­tu­te ent­steht, durch die zen­sur aber bis zur leb­lo­sig­keit ent­stellt wird. zen­so­ren, offi­zi­ell ‚rezen­sen­ten‘ genannt, machen mit­un­ter auch vor ins per­si­sche über­tra­ge­nen wer­ken aus­län­di­scher autorin­nen, autoren nicht halt. ber­tolt brechts mut­ter cou­ra­ge bei­spiels­wei­se gilt als obs­zön. auto­kor­rek­tur-pro­gram­me erleich­tern die arbeit, wenn zB an die stel­le von „wein“ ent­we­der „kaf­fee“ oder ein [„erfrischungs-]getränk“ tre­ten muss. in einem koch­buch soll­te „wein“ durch „essig“ ersetzt werden.

trotz – und wegen – des wis­sens um die staat­li­chen ein­grif­fe herrscht gro­ße nach­fra­ge nach über­setz­ten wer­ken aus dem ara­bi­schen raum, den USA, der tür­kei, euro­pa. und selbst klas­si­sche ira­ni­sche dich­ter blei­ben vor ein­grif­fen in ihre wer­ke nicht ver­schont. hin­ge­wie­sen sei auch auf autorin­nen, autoren, die von der ver­öf­fent­li­chung ihrer wer­ke in iran ganz abse­hen, sie statt­des­sen im aus­land im per­si­schen ori­gi­nal und/ oder in über­set­zung publi­zie­ren, um aus­län­di­sche märk­te zu erschlie­ßen, solan­ge der hei­mi­sche markt ihnen ver­wehrt bleibt.

unter­des­sen gelingt es nam­haf­ten im lan­de schrei­ben­den autorin­nen und autoren, zwi­schen ihren text­zei­len raum zu las­sen, in dem man aus­gie­big lesen kann. hier wird der mecha­nis­mus der [selbst-]zensur aus­ge­he­belt, sozu­sa­gen von der not zur tugend. nam­haf­te pri­vat betrie­be­ne ver­la­ge ver­öf­fent­li­chen sol­che wer­ke im engen rah­men des mög­li­chen und sind qua­si weg­wei­ser zu den nischen, in denen gute lite­ra­tur sich zu behaup­ten sucht. cheh­el­tan unter­rich­tet krea­ti­ves schrei­ben. auch fari­ba vafi, 2017 trä­ge­rin des in frank­furt am main ver­lie­he­nen liBe­ra­tur­prei­ses, ver­an­stal­te­te, der an den preis geknüpf­ten bedin­gung gemäß, schreib­werk­stät­ten. die autorin wird in kür­ze – wie übri­gens herr cheh­el­tan im jahr 2009 – als sti­pen­dia­tin des DAAD-künst­ler­pro­gramms in ber­lin erwar­tet. in naher zukunft machen hof­fent­lich wei­te­re aus dem per­si­schen über­set­zen­de kol­le­gin­nen, kol­le­gen uns ein­zig­ar­ti­ge lite­ra­tur aus dem land zugäng­lich, das eine jahr­hun­der­te­al­te lite­ra­ri­sche tra­di­ti­on hat, und des­sen gro­ße dich­ter ihre deut­schen kol­le­gen bekannt­lich schon vor jahr­hun­der­ten inspi­riert haben.

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Zu wel­chen Über­set­zun­gen ins Deut­sche soll­ten Lese­rin­nen und Leser grei­fen, die sich für die von Cheh­el­tan beschrie­be­nen alt­per­si­schen Dich­tun­gen interessieren?

zum ein­stieg sei hier eine sehr klei­ne, leicht zugäng­li­che aus­wahl von wer­ken genannt. werk­zeug, mit­tels des­sen man ver­se in den hier genann­ten wer­ken anders lesen könn­te als bis­her, hat der lese­zir­kel uns an die hand gegeben.

· ata­bay, cyrus und kurt scharf (hg.): hafis, rumi, omar cha­j­jam. die schöns­ten gedich­te aus dem  klas­si­schen per­si­en, c.h. beck, mün­chen, 2009
· ata­bay, cyrus: hafis, lie­bes­ge­dich­te, insel taschen­buch, frank­furt am main, 1980
· attar: das buch der lei­den, c.h. beck, mün­chen, 2017
· fird­au­si: das buch der köni­ge. über­tra­gen von uta v. witz­le­ben, diede­richs, düs­sel­dorf, 1961
· fer­do­si-rück­ert: schahn­a­meh, das buch der köni­ge, w. von keitz (hg.), neu­aus­ga­be in 3 bän­den, e‑publi, ber­lin 2017–19
· rumi, dscha­la­lud­din : gedich­te aus dem diwan, c.h. beck, mün­chen, 2016
· schim­mel, anne­ma­rie: rumi. ich bin wind und du bist feu­er, cha­li­ce, xan­ten, 2003
· sa’adi, mus­lih ad-din: der rosen­gar­ten, c.h. beck, mün­chen, 1998
· saa­dis bostan. aus dem per­si­schen von fried­rich rück­ert, wall­stein ver­lag, göt­tin­gen, 2013
· deut­sche über­set­zun­gen klas­si­scher lyrik des ori­ents online unter 
http://www.deutsche-liebeslyrik.de/orient/orient.htm

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© Chris­tia­ne Bergmann

Wir haben Euro­pa end­gül­tig hin­ter uns gelas­sen, vor uns liegt eine lan­ge letz­te Rei­se. Wir durch­que­ren das Zwei­strom­land, flie­gen über die ara­bi­sche Wüs­te, schwim­men durch das Rote Meer, rei­ten durchs Nil­tal und schließ­lich durch die end­lo­se Saha­ra, ehe wir im Nige­ria Chi­go­zie Obio­mas ankom­men, gera­de noch recht­zei­tig für eine Gerichts­ver­hand­lung epi­schen Ausmaßes.

Ange­klagt ist der Chi, der Schutz­geist, eines Man­nes namens Chi­no­so. Eigent­lich müss­te er erst nach dem Able­ben sei­nes „Schütz­lings“ dort aus­sa­gen, doch die Gescheh­nis­se in des­sen Leben zwin­gen ihn, früh­zei­tig vor das Gericht im himm­li­schen Ort Elu­ig­we zu tre­ten und sich zu recht­fer­ti­gen. Bild­reich und schein­bar all­wis­send erzählt der Schutz­geist in Das Wei­nen der Vögel, ins Deut­sche gebracht von Nico­lai von Schwe­der-Schrei­ner, von Chi­non­so und sei­ner Freun­din Nda­li, von der Ableh­nung und Demü­ti­gung ihrer Fami­lie und davon, wie er sei­ne Hüh­ner­farm in Umu­a­hia ver­kauf­te, um in Zypern einen Abschluss in Betriebs­wirt­schaft zu machen.

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Wie klingt Chi­go­zie Obio­mas Nige­ria?>

Chi­go­zie Obio­mas Nige­ria klingt nicht so exo­tisch wie z.B. Amos Tutuo­las  My Life in the Bush of Ghosts, wobei man anfangs ja direkt in die Welt der Igbo-Geis­ter und Göt­ter gewor­fen wird und die Ankunft des Schutz­geis­tes auf der Erde dann an die Ouver­tü­re der gran­dio­sen Comic­ver­fil­mung Black Pan­ther erin­nert, danach wird es dann aber nüch­ter­ner. Ich habe erfreu­li­cher­wei­se eine nige­ria­ni­sche Schwä­ge­rin und war vor ein paar Jah­ren in Nige­ria. Das bei Obio­ma beschrie­be­ne Stra­ßen­bild, die Schil­de­rung des sozia­len Gefü­ges und die all­ge­mei­ne Atmo­sphä­re dort fand ich sehr evo­ka­tiv und nach­voll­zieh­bar. Inter­es­sant dann auch der Kon­trast zu der Pha­se, die in Zypern spielt.

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Der Erzäh­ler in Das Wei­nen der Vögel ist der „Chi“ der Haupt­fi­gur, sein Schutz­geist. Der Roman beinhal­tet vie­le sol­cher uns Euro­päe­rin­nen und Euro­pä­ern frem­den Kon­zep­te der Igbo-Kos­mo­lo­gie. Wie wirkt sich das auf den Über­set­zungs­pro­zess aus?

Erst mal respekt­ein­fö­ßend und ver­wir­rend, aber letzt­end­lich ensteht dadurch ein mär­chen­haf­ter, geheim­nis­vol­ler Ton und eine hilf­rei­che, berei­chern­de Per­spek­ti­ve und schö­ne Abwechs­lung. Die Arbeit an den Rea­lis­mus­pas­sa­gen war dann aller­dings doch meis­tens eine Erleich­te­rung, zumal die Anspra­chen des Schutz­geis­tes oft sehr geschickt ver­klau­su­liert sind. Man muss das ja auch erst mal alles ver­ste­hen. Im zwei­ten Durch­gang hat­te ich zumin­dest das Gefühl, dem Leser da mehr zumu­ten zu kön­nen als anfangs ange­nom­men. Auf jeden Fall haben wir nichts geglät­tet oder angeglichen.

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Der Groß­teil des Romans ist in „der Spra­che des Wei­ßen Man­nes“, Eng­lisch, geschrie­ben, aber auch Pidgin und Igbo kom­men vor und blei­ben im eng­li­schen Ori­gi­nal unüber­setzt. Wie geht man als deut­scher Über­set­zer damit um?

Da gibt es ja unter­schied­li­che Auf­fas­sun­gen und Her­an­ge­hens­wei­sen. Die einen fin­den es doof, wenn das typi­sche „o“ als Anhäng­sel ste­hen bleibt, die ande­ren fin­den es wich­tig. Ich habe in Rezen­sio­nen zu Über­set­zun­gen ande­rer nige­ria­ni­scher Autoren gele­sen, man kön­ne es gar nicht rich­tig machen, es gin­ge ent­we­der etwas ver­lo­ren oder sei anders­rum zu irri­tie­rend. Fin­de ich bei­des über­trie­ben. Wir haben Pidgin-Stel­len der Situa­ti­on ent­spre­chend nor­mal schlicht gelas­sen und Igbo-Stel­len ein­fach ste­hen gelas­sen, meis­tens ergab sich der Sinn von allei­ne oder er wur­de sowie­so im Ori­gi­nal auf Eng­lisch wie­der­holt. Trotz­dem, ohne mei­ne Schwä­ge­rin hät­te ich hier vor eini­gen Rät­seln gestan­den. Mein her­vor­ra­gen­der Lek­tor Han­nes Ulb­rich hat dann jeweils ein­ge­schätzt, wie gut eine Stel­le funk­tio­niert, und damit war es abge­seg­net. Letzt­end­lich ist es ja mehr Lite­ra­tur als lin­gu­is­ti­sche oder folk­lo­ris­ti­sche Stu­die. Nicht­de­sto­trotz kommt alles vor, auch die mit­un­ter leicht frem­de Logik und die schrä­gen Metaphern.

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