Lina Meruane, 1970 in Santiago de Chile geboren, hat mit Sangre en el ojo ihren vierten Roman vorgelegt, der neben dem internationalen Anne Seghers-Preis (2011) ebenfalls den Literaturpreis Premio Sor Juana Inés de la Cruz (2012) gewann. In diesem Roman schildert die Autorin in autofiktionaler Weise ihren Leidensweg, den sie betritt, als sie zuerst auf dem einen und dann auch auf dem anderen Auge langsam erblindet.
Während einer Party bückt sich Lucina, um ihre Insulinspritze aufzuheben, und als sie sich wieder aufrichtet, bemerkt sie, dass ein dünnes Rinnsal von Blut in ihr Auge eindringt, das erschütternd schönste Blut, das sie je gesehen hat, das unerhörteste aber auch erschreckendste Blut. Diese Blutungen in der Netzhaut machen sie praktisch blind, ob nur vorübergehend oder dauerhaft, weiß sie nicht.
Lucina betritt plötzlich und gänzlich die Welt der Blinden: der Gnade kalter Ärzte ausgeliefert, unfähig, ihren kürzlich erst kennen gelernten Freund zu sehen. Dann muss sie von New York in ihre Heimat Chile zurückkehren, in die verlassene Heimat, die sie nicht mehr beobachten kann; in die Heimat ihrer Eltern, die sie ebenfalls nicht anschauen kann oder will. Die Blindheit reduziert sie schnell auf eine Art hilflose Kindheit, in der jeder Macht über sie hat. Dadurch stellen sich natürlich sofort Fragen wie: Schauen wir wirklich nur mit den Augen? Verstehen wir, was wir sehen? Was sind wir bereit zu tun, um die Macht, die uns der Blick verleiht, wiederzuerlangen? In Lucinas abschreckender Geschichte und ihrer Unfähigkeit, durch dieses Blut hindurch zu sehen, durchschreiten wir als Leserinnen und Leser die verschiedenen Grade der Ohnmacht, die unerbittlich zu Grausamkeit, ja gar zu Hass führt.
Der Roman ist auf Deutsch seit 2018 als Hardcover und seit 2019 als Taschenbuch erhältlich, übersetzt von Susanne Lange. Schon auf einer Veranstaltung im November 2017 in Köln wurde das Buch in Anwesenheit der Autorin vorgestellt. Und schon bei dieser Veranstaltung bin ich über den deutschen Titel gestolpert: „Rot vor Augen“. Aber jetzt erst habe ich Zeit gefunden, beide Bücher, also sowohl das Original in spanischer Sprache, als auch die Übersetzung nebeneinander zu legen.
Fangen wir mit dem Titel an: Sangre en el ojo aus dem Spanischen würde man vermutlich wörtlich mit „Blut in dem Auge“ übersetzen. Der übersetzte Titel im Deutschen kling allerdings etwas gestellt („Rot vor Augen“) und gibt nicht wirklich wieder, was der spanische Titel suggerieren kann und soll. Da wäre einmal die Möglichkeit einer Blutung im Auge, allerdings gibt es dafür natürlich eine direkte Entsprechung im Spanischen: „hemorragia“.
Also handelt es sich hier vielleicht um ein (chilenisches) Sprichwort? Zumal es ja im Deutschen eher heißt „Schwarz vor Augen“, wenn einem beim Sich-wieder-Aufrichten schwindelig wird. Aber wie sieht es aus mit dem chilenischen Sprichwort: „tener la sangre en el ojo“? Das kann kein Zufall sein! Wie alles in diesem Buch ist sicher auch der Titel ganz bewusst gewählt, auch wenn wir manchmal darüber stolpern, dass nicht der Übersetzer, sondern der Verlag den übersetzten Titel vorgibt, um vor allem Fragen des Marketing mit in den Titel einfließen zu lassen. Hier ist aber das Figurative die Idee der Wut, des Rachegelüstes, welches sehr gut beschreibt, was der Protagonistin in dem Roman zugrunde liegt.
Diese Frau, die zwischen permanenter Blindheit und der Wiederherstellung ihres Augenlichts oszilliert, ist eine Figur, die durch Wut, eigentlich durch den wütenden Wunsch, die Krise zu überwinden, angetrieben wird, und diese Energie führt dazu, dass sie jeden, der sich vor sie stellt, ausnutzt. Diese Frau ist bereit, alles zu tun, um nicht das Opfer ihres eigenen Körpers zu werden. Also soll der spanische Titel doch die Stinkwut der Protagonistin suggerieren? An einer Stelle im Text lässt sich ein Hinweis auf den deutschen Titel finden:
“Juraban que mi ansiedad desaparecería apisonada bajo la de
ellos. No te preocupes de nada, repetían a coro, un coro
alborotado y tenso, de nada, porque sumada y multiplicada y
elevada al cuadrado la angustia familiar aplastaría la mía,
que subía, subía, se hinchaba como levadura segregando unabilis sofocante. Se me prendían luces rojas por todas
partes: la palabra cuidados ardía, perder el control
quemaba, regresar era un peligro y operarme en Chile una
condena a la que no pensaba someterme”„Sie schworen mir, meine Angst werde verschwinden, von der
ihren niedergewalzt. Du mach dir keine Sorgen, wiederholten
sie im Chor, ein aufgeregter Chor, zum Zerreißen gespannt,
keinerlei, denn addiert und multipliziert und ins Quadrat
erhoben würde die Familienangst meine eigene zerquetschen,
die jedoch anwuchs, immer weiter, die wie Hefe aufging und
eine erstickende Galle absonderte. Überall hatte ich Rot vor
Augen: Das Wort Pflege glühte, das Wort Kontrollverlust
brannte, Rückkehr war eine Gefahr und Operation in Chile
eine Strafe, der ich mich nicht unterwerfen wollte“
Im Original gehen also alle Alarmglocken an, auch wenn „luces rojos“ sicher wörtlich übersetzt eher „rote Lampen“ als „Alarmglocken“ sind. Aber sollte man bei der Übersetzung nicht auch das Figurative berücksichtigen? Und mit „Rot vor Augen haben“ hat das doch eher weniger zu tun, oder war vielleicht das bildliche „Rot sehen“ gemeint? Diese Textstelle scheint mir nicht gerade geeignet, um daraus den´Titel der deutschen Übersetzung abzuleiten, da hier zunächst in keinster Weise die Wut der Protagonistin zum Ausdruck kommt, sondern eher eine momentane Angst vor den Konsequenzen einer Konfrontation mit der Familie in Chile.
Sie ist an dieser Stelle eher alarmiert vom Chor der Familie, dreht aber nicht durch, weil sie eben nicht Rot sieht. Vielmehr hätte auch in der Übersetzung des Titels die Wut mit anklingen können, die sich hinter dem chilenischen Sprichwort verbirgt. Aber ohne spezifische Kenntnisse eines Landes, ohne auch den – nicht bekannten – soziokulturellen Hintergrund zu berücksichtigen, ist es natürlich ungleich schwerer, Literatur zu übersetzen. Zumindest im Falle einer Übersetzung aus dem Spanischen, was ja neben Spanien auch in 19 anderen Ländern in Lateinamerika auf unterschiedlichste Weise gesprochen wird, sollte man sich möglichst nur an eine Übersetzung von Literatur aus dem Land wagen, welches einem
vertraut ist, und nicht aus irgend einem Land, nur weil dort dieselbe Sprache gesprochen wird.
Die hier gemachten kurzen Anmerkung zeigen deutlich, wie wichtig es für Übersetzer ist, neben der Beherrschung der Ursprungs- und der Zielsprache auch andere Faktoren mit zu berücksichtigen. So ist eine Kenntnis des Landes, aus dem der zu übersetzende Autor stammt, unerlässlich, vor allem dann, wenn man bei dem zu übersetzenden Werk eben auch auf Lokalkolorit oder ein Sprichwort (im Titel des Romans – man bedenke!) stoßen kann. Gleichzeitig sollte auch immer der Werdegang des jeweiligen Schriftstellers mit berücksichtigt werden, um so eine Übersetzung liefern zu können, die dem Publikum in der Zielsprache möglichst das vermittelt, was der Autor in der Ursprungssprache ausdrücken will.
Lina Meruane/Susanne Lange: Rot vor Augen (im spanischen Original: Sangre en el ojo).
Arche 2018 ⋅ 200 Seiten Seiten ⋅ 25 Euro