Lite­ra­ri­sche Hin­ter­las­sen­schaf­ten und Glo­bal Archives

Immer mehr Vor- und Nachlässe von Literaturübersetzerinnen und Literaturübersetzern werden archiviert. Damit könnte die Sichtbarkeit ihrer Arbeit langfristig sicherstellt werden. Von

Liegen hier vielleicht literarische Schätze von Literaturübersetzerinnen und Literaturübersetzern vergraben? Bild: Carolina Prysyazhnyuk
Das 11. Schwei­zer Sym­po­si­um für lite­ra­ri­sche Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer wid­me­te sich im Novem­ber 2019 dem The­ma Archi­vie­rung. Zur Ein­füh­rung nahm Gabrie­la Stöck­li, Lei­te­rin des Über­set­zer­hau­ses Loo­ren, ihre Zuhö­re­rin­nen und Zuhö­rer mit auf eine Rei­se zu Archi­ven und Lite­ra­tur­häu­sern in der Schweiz und Euro­pa. Zugleich ist es eine Rei­se durch die Zeit: vom (Arbeits-)Leben über das Able­ben bis hin zum Nach­le­ben von Lite­ra­tur­über­set­ze­rin­nen und Literaturübersetzern.

Wir begin­nen am Schluss, im Jen­seits und bei den gro­ßen Fra­gen, und nähern uns dann nach und nach dem All­tag von Über­set­zen­den und dem Hier und Jetzt.

1. Sta­ti­on: Nachleben

Was las­sen Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer zurück? Was haben ihre Hin­ter­las­sen­schaf­ten uns Lite­ra­tur­in­ter­es­sier­ten, Über­set­zer­kol­le­gen, Wis­sen­schaft­le­rin­nen und (ande­ren) kanon­bil­den­den Instan­zen zu sagen? Eine ers­te Sta­ti­on für die­se Fra­ge sind die Archi­ve: staat­li­che oder uni­ver­si­tä­re Lite­ra­tur­ar­chi­ve, aber auch Stadt­ar­chi­ve, Hand­schrif­ten­ab­tei­lun­gen oder Bur­ger­ge­mein­den, mit oder ohne Bud­get für Ankäu­fe. Sie alle haben Nach­läs­se von Autorin­nen, von Ver­la­gen oder von „Gelehr­ten“. Die­se haben sie ent­we­der geschenkt bekom­men, als Vor­lass (also zu Leb­zei­ten) oder post­hum von den Erben erwor­ben, zu einer bestimm­ten Nut­zung über­nom­men, etc. Der Wege und Vari­an­ten, wie dies geschieht, sind vie­le, und es geschieht im Ein­klang mit einem klar defi­nier­ten Sam­mel­auf­trag, bzw. der Inter­pre­ta­ti­on des Sam­mel­auf­trags. Dazu kommt die Pflicht, mit den zumeist öffent­li­chen Mit­teln, also Steu­er­gel­dern, mög­lichst umsich­tig zu haushalten.

Lite­ra­tur­ar­chi­ve haben eine sehr kom­ple­xe Auf­ga­be: Sie müs­sen „das an Autoren frü­he­rer Zei­ten ver­meint­lich oder wirk­lich durch gerin­ge Wert­schät­zung und ande­re Unter­las­sun­gen began­ge­ne ‚Unrecht‘ kom­pen­sie­ren, das Vor­han­de­ne pfle­gen sowie das vor­aus­sicht­lich Blei­ben­de anti­zi­pie­ren“ (Lüt­te­ken, 64). Natür­lich muss man an die­ser Stel­le „Autoren“ durch „Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer“ ergänzen.

Eine klei­ne Umfra­ge bei ver­schie­de­nen Lite­ra­tur­ar­chi­ven hat erge­ben, dass es bis­her kei­ne Samm­lungs­stra­te­gien gibt, um gezielt nach Archi­ven von Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zern zu suchen. Auch schei­nen in der Schweiz noch kei­ne Über­set­zer oder deren Erbin­nen mit einem Über­ga­be­an­ge­bot in einem Archiv vor­ge­spro­chen zu haben. Dass den­noch schon eini­ges an Mate­ri­al vor­han­den ist, hat damit zu tun, dass Über­set­ze­rin­nen oft noch ande­res tun, oder anders­her­um betrach­tet: Vie­le Autoren haben auch über­setzt, und ihre Über­set­zun­gen, Brief­wech­sel mit den (Ori­gi­nal-) Autoren oder Lek­to­rin­nen, sowie Fas­sun­gen der Über­tra­gun­gen sind dann natür­lich in den Archi­ven auch zu fin­den. Mate­ri­al von Über­set­zern als Teil des Bestands „ihrer“ Autoren wird seit Lan­gem gezielt gesam­melt. Das Schwei­ze­ri­sche Lite­ra­tur­ar­chiv (SLA) hat bei­spiels­wei­se Kor­re­spon­den­zen von Chris­toph Fer­ber mit den von ihm über­setz­ten Lyri­kern Remo Fasa­ni, Gior­gio und Gio­van­ni Orel­li erwor­ben und im Kata­log die­sen Autoren zuge­ord­net. Wei­te­re inter­es­san­te Fun­de ber­gen Archi­ve von Ver­la­gen oder Agenturen.

Die Recher­che hat also erge­ben, dass es erst sehr weni­ge eigen­stän­di­ge Fonds von Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zern in den Archi­ven gibt. Tat­sa­che ist aber auch, dass sich bei die­sem The­ma gera­de eini­ges ändert und das Inter­es­se der Archi­ve an den Doku­men­ten von Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zern, in ihrem eige­nen Namen und um ihrer selbst wil­len, zunimmt. Das ist die gro­ße posi­ti­ve Über­ra­schung die­ser klei­nen Rei­se: Die Türen ste­hen reih­um offen, weit offen sogar. Es gibt sogar Inter­es­se an einer sys­te­ma­ti­sche­ren Samm­lung von Über­set­zer­ar­chi­ven. Dazu San­dra Rich­ter, die Direk­to­rin des Deut­schen Lite­ra­tur­ar­chivs in Marbach:

Über­set­zer­vor- und nach­läs­se geben Ein­blick in das Leben eines Wer­kes jen­seits sei­ner Sprach- und Kul­tur­gren­zen. Über­set­zer sind dort tat­säch­lich zwei­te Schöp­fer, die­je­ni­gen, die das Aus­gangs­werk neu und nach­bil­den. Im Hin­blick dar­auf sam­meln wir aus­ge­wähl­te Vor- und Nach­läs­se von Über­set­zern. (Per E‑Mail am 31.10.2019)

Auch Irm­gard Wirtz Eybl, die Direk­to­rin des SLA, kann sich grund­sätz­lich vor­stel­len, Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer in der zukünf­ti­gen Samm­lungs­stra­te­gie sys­te­ma­tisch zu berücksichtigen.

Nun mah­len die Müh­len staat­li­cher Betrie­be eher lang­sam, und auch die Res­sour­cen wach­sen meist nicht pro­por­tio­nal zu den zusätz­li­chen Auf­ga­ben, so dass eine Anpas­sung der Samm­lungs­stra­te­gie in die­se Rich­tung guter Argu­men­te bedarf. Mehr noch: Es ist anzu­neh­men, dass die Not­wen­dig­keit einer Tria­ge eher noch zuneh­men wird, denn die Archi­ve müs­sen auch einem wach­sen­den Druck sei­tens Autoren, Phi­lo­lo­gin­nen und ande­ren „Gelehr­ten“ begeg­nen, die ein zuneh­men­des „Nach­lass­be­wusst­sein“ haben, so nann­te es Jan Bür­ger vom Deut­schen Lite­ra­tur­ar­chiv in Mar­bach bei einer Ver­an­stal­tung. Noch zuge­spitz­ter for­mu­liert es Anett Lüt­te­ken von der Zen­tral­bi­blio­thek Zürich: Sie dia­gnos­ti­ziert eine veri­ta­ble „Vor­lass-Eupho­rie“ (Lüt­te­ken, 65), und meint damit natür­lich den Markt, in dem für begehr­te Ware mit­un­ter statt­li­che Sum­men die Hand wech­seln. In die­sem Span­nungs­feld agie­ren die Lite­ra­tur­ar­chi­ve: Sie müs­sen quan­ti­ta­ti­ve und qua­li­ta­ti­ve Selek­tio­nen vor­neh­men, ihre Prio­ri­tä­ten immer wie­der über­prü­fen und wol­len dabei nichts verpassen.

Das The­ma „Über­set­zung und Archiv“ ist am Puls der Zeit. Es scheint sogar fast en vogue: Im Herbst 2019 fan­den par­al­lel gleich drei Fach­ta­gun­gen dazu statt, im Deut­schen Lite­ra­tur­ar­chiv in Mar­bach, Caen und Paris, in Zusam­men­ar­beit mit dem IMEC (Insti­tut Mémoi­res de l’édition con­tem­po­rai­ne). Das The­ma: „Über­set­zer­nach­läs­se in Glo­ba­len Archiven/Fonds de tra­duc­teurs dans les archi­ves glo­ba­les“. Im Ankün­di­gungs­text hieß es:

„Welt­li­te­ra­tur als übersetzte Lite­ra­tur“: Das mag der Grund­satz einer trans­na­tio­na­len und glo­ba­len Per­spek­ti­ve auf Lite­ra­tur sein, in der die Figur des Über­set­zers als Noma­de der Mehr­spra­chig­keit eine zen­tra­le Rol­le für die Lite­ra­tur­ver­mitt­lung spielt. Neben ande­ren Akteu­ren wie Autorin­nen und Autoren, Lek­to­rin­nen und Lek­to­ren und Ver­la­gen sind es aus die­ser Per­spek­ti­ve zwei­fel­los die Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer, die letzt­end­lich sprach­lich die Lite­ra­tu­ren der Welt in Bewe­gung set­zen. Geht man davon aus, dass das Über­set­zen selbst eine Art kon­stan­te Pro­duk­ti­on und Revi­si­on von Wis­sen ist, können Übersetzernachlässe als Quel­le betrach­tet wer­den, in der sich das neue und immer wie­der infra­ge gestell­te Wis­sen in einem eige­nen epis­te­mo­lo­gi­schen Sta­tus strukturiert.

Wenn tra­di­tio­nel­le Archi­ve sich selbst „glo­ba­le Archi­ve“ nen­nen und Welt­li­te­ra­tur mit Über­set­zung gleich­ge­setzt wird, bedeu­tet das in ers­ter Linie eine Ver­schie­bung in der Wahr­neh­mung: Die schon bestehen­de Mehr­spra­chig­keit rückt ins Gesichts­feld, und die Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer, die die­se pro­to­ty­pisch ver­kör­pern, wer­den ver­mehrt wahr­ge­nom­men. Sie betre­ten die Sze­ne selbst­be­wuss­ter, rol­len­be­wuss­ter und akti­ver, und sie pochen dar­auf, berück­sich­tigt zu wer­den. Aber noch ist es zu früh, in Jubel aus­zu­bre­chen. Inter­es­san­ter ist es, nach den Grün­den für die­se offe­nen Türen zu suchen. War­um soll das nächs­te Gebiet, das die Über­set­zer­zunft für sich erobert, aus­ge­rech­net das Lite­ra­tur­ar­chiv sein? Wel­che Kon­stel­la­tio­nen ermög­li­chen eine sol­che Öff­nung und Wahr­neh­mungs­ver­schie­bung? Ich habe dazu ver­schie­de­nen Fach­leu­ten die fol­gen­den Fra­gen gestellt: Wel­ches Plus brin­gen Nach­läs­se von Über­set­ze­rin­nen in Lite­ra­tur­ar­chi­ven (im Kon­trast etwa zu „nor­ma­len“ Autoren­nach­läs­sen)? Wel­che Erkennt­nis­se kön­nen For­schen­de der­einst aus sys­te­ma­tisch gesam­mel­ten Über­set­zer­nach­läs­sen gewin­nen oder zu wel­chen neu­ar­ti­gen Fra­ge­stel­lun­gen könn­ten die­se füh­ren? Dazu ein State­ment von Marie Lui­se Knott, Vor­stands­mit­glied des Deut­schen Über­set­zer­fonds und zusam­men mit Andre­as Tret­ner Kura­to­rin der Aus­stel­lung Urbans Orbit im Lite­ra­ri­schen Col­lo­qui­um Ber­lin, 2017, zum Nach­lass des Über­set­zers Peter Urban:

Der Reich­tum unse­rer Spra­che und Lite­ra­tur ist ohne den Aus­tausch mit den Lite­ra­tu­ren der Welt nicht denk­bar. Doch wis­sen wir immer noch zu wenig vom über­set­ze­ri­schen Tun, das sich ja nicht in fer­ti­gen Manu­skrip­ten und Ver­lags­kor­re­spon­den­zen erschöpft – eine Leer­stel­le in unse­rem kul­tu­rel­len Bewusst­sein. Über­set­zer sind Kul­tur­ver­mitt­ler jen­seits der ein­zel­nen kon­kre­ten Pro­jek­te und jeder Über­set­zer unter­nimmt eige­ne Erkun­dungs­gän­ge in sti­lis­ti­sche Eigen­hei­ten der frem­den wie der eige­nen Spra­che. Sei­ne Arbeits­ma­te­ria­li­en wie sei­ne zahl­lo­sen Kor­re­spon­den­zen geben wert­vol­le Hin­wei­se dar­über, wie sie aus der Frem­de in unse­rer Spra­che sprach­schöp­fen. (Per E‑Mail am 31.10.2019)

Ire­ne Weber Hen­king vom Cent­re de tra­duc­tion lit­té­rai­re de Lau­sanne iden­ti­fi­ziert gleich meh­re­re neue Erkenntnishorizonte:

Die Auf­nah­me von Über­set­zer­nach­läs­sen in den Archi­ven ist die ein­zi­ge Mög­lich­keit, damit sich die For­schung ein kom­plet­tes Bild der Lite­ra­tur­land­schaft eines Lan­des schaf­fen kann. Der Anteil der Über­set­zun­gen auf dem Buch­markt beträgt je nach Land und Text­gat­tung zwi­schen 20% und 70%. Die sys­te­ma­ti­sche Erfas­sung von Über­set­zer­nach­läs­sen wür­de zum Bei­spiel Stu­di­en zur Ent­ste­hung eines natio­na­len Lite­ra­tur­ka­nons ermög­li­chen, der nicht nur aus dem „Eige­nen“ gewach­sen ist, son­dern nur auf­grund der „frem­den“ Ein­flüs­se und ins­be­son­de­re auf dem Umweg über die Über­set­zun­gen ent­ste­hen konn­te. Dies zei­gen etwa ver­schie­de­ne his­to­ri­sche Stu­di­en zur Ent­ste­hung der Natio­nal­li­te­ra­tu­ren im Mittelalter.
Auch Text­gat­tun­gen wur­den und wer­den über das Über­set­zen ein­ge­führt, etwa das Sonett oder die Gra­phic Novel. Eini­ge wich­ti­ge Autoren der Gegen­warts­li­te­ra­tur haben ihre Poe­tik via die Aus­ein­an­der­set­zung mit und Über­set­zun­gen von frem­den Lite­ra­tu­ren geschaf­fen, zum Bei­spiel Phil­ip­pe Jac­cot­tet, Fabio Pus­ter­la oder Zsuz­san­na Gah­se. (Per E‑Mail am 3.11.2019)

Über­set­zungs­ge­schich­te ist also Lite­ra­tur­ge­schich­te, oder im Umkehr­schluss zuge­spitzt: kei­ne Lite­ra­tur­ge­schich­te ohne Übersetzungsgeschichte.

Lan­ge haben wir uns an der ers­ten Sta­ti­on unse­rer Rei­se auf­ge­hal­ten. Bei der nächs­ten ver­wei­len wir nur ganz kurz.

2. Sta­ti­on: Ableben

Der Tod ist ein dra­ma­ti­scher Moment. Und einer, der Dra­men her­vor­ru­fen kann, die man gar mit allen Mit­teln ver­mei­den woll­te. Es geht hier ins­be­son­de­re um den letz­ten Wil­len und um den ent­schei­den­den Ein­fluss recht­li­cher Fra­gen in wich­ti­gen Lebens­la­gen. Wuss­ten Sie zum Bei­spiel, dass ein Tes­ta­ment kom­plett hand­schrift­lich abge­fasst sein muss, dass recht­lich zwi­schen Erb­ein­set­zung und Legat unter­schie­den wird? Dass beim Umgang mit Nach­läs­sen sowohl das Urhe­ber­recht wie auch das Per­sön­lich­keits­recht ins Spiel kommt, und dass die­se bei­den Rech­te mit­un­ter mit­ein­an­der in Kon­flikt gera­ten? Es wird klar:  Rat­sam ist, zu Leb­zei­ten und bei guter geis­ti­ger Gesund­heit Rat bei Fach­leu­ten zu suchen, damit der letz­te Wil­le unan­fecht­bar ist. Und schon geht es wei­ter zur letz­ten Sta­ti­on unse­rer Reise.

3. Sta­ti­on: (Arbeits-)Leben

Wir kom­men im Hier und Jetzt an. Soll­ten Sie sich beim Lesen gefragt haben: „Und was geht mich das an?“, dann ist jetzt der Moment, wie­der ins Boot zu steigen.

Alle Lite­ra­tur­über­set­ze­rin­nen und Lite­ra­tur­über­set­zer soll­ten Fach­per­so­nen sein, was eige­ne per­sön­li­che Daten und Doku­men­te angeht. Bei die­sem The­ma bli­cken vie­le in die Luft oder betre­ten zu Boden: Was ist nun genau mit mei­nen Fotos? War­um ist die­se zehn Jah­re alte PDF-Datei nicht mehr les­bar? Wie war das noch mit der Syn­chro­ni­sie­rung von Daten in der Cloud? Und die Sicher­heit? Denn nur wer sach­ge­recht mit sei­nen Doku­men­ten umgeht, kann dar­auf hof­fen, sie in eini­gen Jah­ren noch zur Ver­fü­gung zu haben oder sie gar der­einst der Nach­welt zur Ver­fü­gung zu stellen.

Sei­en wir rea­lis­tisch: Nur eini­ge weni­ge von uns wer­den ihre per­sön­li­chen Archi­ve ent­we­der zu Leb­zei­ten als Vor­lass ver­kau­fen oder nach dem Able­ben als Nach­lass einem Lite­ra­tur­ar­chiv über­ge­ben las­sen. Unser Ziel ist es des­halb auch nicht, alle auf „Nach­lass­be­wusst­sein“ zu trim­men oder zur „Vor­lass­eu­pho­rie“ anzu­sta­cheln. Andre­as Tret­ner hat bei einem Tele­fo­nat die inter­es­san­te Fra­ge gestellt: „Wie macht man sei­nen Nach­lass wert­voll?“ Mit Wert mein­te er wahr­schein­lich nicht nur den Markt­wert, son­dern auch einen Mehr­wert für das eige­ne Schaf­fen und für die Ver­mitt­lung der Übersetzertätigkeit.

Ein Bei­spiel für eine sol­che „Wert­schöp­fung“ sind die seit 2017 auf der Web­site des Pro­gramms TOLEDO des Deut­schen Über­set­zer­fonds publi­zier­ten, von Auré­lie Mau­rin kura­tier­ten TOLE­DO-Jour­na­le. Es sind Arbeits­jour­na­le von Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zern in ganz unter­schied­li­chen For­ma­ten. Sie doku­men­tie­ren den Ent­ste­hungs­pro­zess einer Über­set­zung, sie brin­gen Ord­nung in die Wirr­nis ver­schie­de­ner Fas­sun­gen, prä­sen­tie­ren Glos­sa­re, visu­el­les Recher­che­ma­te­ri­al oder gar mul­ti­me­dia­le Col­la­gen. Wenn sie für die Publi­ka­ti­on auf­be­rei­tet wer­den, sind sie damit auch eine Art öffent­li­ches Archiv. Ihr Mehr­wert besteht dar­in, dass sie krea­ti­ve Pro­zes­se doku­men­tie­ren und das lite­ra­ri­sche Über­set­zen attrak­tiv ver­mit­teln. Sie haben also eine Außenwirkung.

Genau­so wich­tig ist aber der mehr­fach bezeug­te Nut­zen für die Ver­fas­se­rin­nen und Ver­fas­ser selbst, jen­seits einer Publi­ka­ti­on. Ein Jour­nal hilft Denk­pro­zes­se zu struk­tu­rie­ren, Gedan­ken in bewuss­te­re Bah­nen zu len­ken und Asso­zia­ti­ons­ket­ten in Wor­te zu fas­sen. Es ist Gedächt­nis­stüt­ze und for­dert her­aus zu einer ver­bind­li­chen Hal­tung gegen­über dem Text sowie zu einer stän­di­gen, die krea­ti­ve Arbeit beglei­ten­den Reflexion.

Abschlie­ßend lässt sich sagen: Die kul­tu­rel­le Groß­wet­ter­la­ge scheint aktu­ell güns­tig zu sein, um Ver­bor­ge­nes ans Licht zu holen. Über­set­ze­rin­nen und Über­set­zer wer­den zuneh­mend als Autorin­nen und Autoren aner­kannt. Und zwar als sol­che mit einer eige­nen künst­le­ri­schen Bio­gra­fie und mit einer eige­nen Poe­tik. Wenn die­se bei­den Ten­den­zen sinn­voll mit­ein­an­der ver­bun­den wer­den, schaut ein gro­ßer Gewinn für alle her­aus: Es war­ten Ent­de­ckun­gen und Wie­der­ent­de­ckun­gen auf uns, die unser Ver­ständ­nis von Spra­che und Lite­ra­tur erwei­tern wer­den. Über die Über­set­zung nach­zu­den­ken bedingt eine Öff­nung des Nach­den­kens über Lite­ra­tur. Die Zeit dafür ist über­reif. Denn im Wesen der Über­set­zung ist ein­ge­schrie­ben, was vie­le suchen: die Wahr­neh­mung und ein stra­te­gi­scher Umgang mit den Gren­zen von Spra­che, Kul­tur und Iden­ti­tät sowie das Nach­den­ken für die blin­den Fle­cken des eige­nen Selbst­ver­ständ­nis­ses. Viel­leicht war der Zeit­punkt nie güns­ti­ger als heu­te für die Erobe­rung der Lite­ra­tur­ar­chi­ve durch die Über­set­ze­rin­nen und Übersetzer.

Lite­ra­tur­hin­wei­se:

Lüt­te­ken, Anett: „Das Lite­ra­tur­ar­chiv – Vor­ge­schich­te eines Spät­lings“, in: Ste­fan Mau­rer et al., Archi­ve für Lite­ra­tur, De Gruy­ter 2018, S. 63–88.

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