Wir beginnen am Schluss, im Jenseits und bei den großen Fragen, und nähern uns dann nach und nach dem Alltag von Übersetzenden und dem Hier und Jetzt.
1. Station: Nachleben
Was lassen Übersetzerinnen und Übersetzer zurück? Was haben ihre Hinterlassenschaften uns Literaturinteressierten, Übersetzerkollegen, Wissenschaftlerinnen und (anderen) kanonbildenden Instanzen zu sagen? Eine erste Station für diese Frage sind die Archive: staatliche oder universitäre Literaturarchive, aber auch Stadtarchive, Handschriftenabteilungen oder Burgergemeinden, mit oder ohne Budget für Ankäufe. Sie alle haben Nachlässe von Autorinnen, von Verlagen oder von „Gelehrten“. Diese haben sie entweder geschenkt bekommen, als Vorlass (also zu Lebzeiten) oder posthum von den Erben erworben, zu einer bestimmten Nutzung übernommen, etc. Der Wege und Varianten, wie dies geschieht, sind viele, und es geschieht im Einklang mit einem klar definierten Sammelauftrag, bzw. der Interpretation des Sammelauftrags. Dazu kommt die Pflicht, mit den zumeist öffentlichen Mitteln, also Steuergeldern, möglichst umsichtig zu haushalten.
Literaturarchive haben eine sehr komplexe Aufgabe: Sie müssen „das an Autoren früherer Zeiten vermeintlich oder wirklich durch geringe Wertschätzung und andere Unterlassungen begangene ‚Unrecht‘ kompensieren, das Vorhandene pflegen sowie das voraussichtlich Bleibende antizipieren“ (Lütteken, 64). Natürlich muss man an dieser Stelle „Autoren“ durch „Übersetzerinnen und Übersetzer“ ergänzen.
Eine kleine Umfrage bei verschiedenen Literaturarchiven hat ergeben, dass es bisher keine Sammlungsstrategien gibt, um gezielt nach Archiven von Übersetzerinnen und Übersetzern zu suchen. Auch scheinen in der Schweiz noch keine Übersetzer oder deren Erbinnen mit einem Übergabeangebot in einem Archiv vorgesprochen zu haben. Dass dennoch schon einiges an Material vorhanden ist, hat damit zu tun, dass Übersetzerinnen oft noch anderes tun, oder andersherum betrachtet: Viele Autoren haben auch übersetzt, und ihre Übersetzungen, Briefwechsel mit den (Original-) Autoren oder Lektorinnen, sowie Fassungen der Übertragungen sind dann natürlich in den Archiven auch zu finden. Material von Übersetzern als Teil des Bestands „ihrer“ Autoren wird seit Langem gezielt gesammelt. Das Schweizerische Literaturarchiv (SLA) hat beispielsweise Korrespondenzen von Christoph Ferber mit den von ihm übersetzten Lyrikern Remo Fasani, Giorgio und Giovanni Orelli erworben und im Katalog diesen Autoren zugeordnet. Weitere interessante Funde bergen Archive von Verlagen oder Agenturen.
Die Recherche hat also ergeben, dass es erst sehr wenige eigenständige Fonds von Übersetzerinnen und Übersetzern in den Archiven gibt. Tatsache ist aber auch, dass sich bei diesem Thema gerade einiges ändert und das Interesse der Archive an den Dokumenten von Übersetzerinnen und Übersetzern, in ihrem eigenen Namen und um ihrer selbst willen, zunimmt. Das ist die große positive Überraschung dieser kleinen Reise: Die Türen stehen reihum offen, weit offen sogar. Es gibt sogar Interesse an einer systematischeren Sammlung von Übersetzerarchiven. Dazu Sandra Richter, die Direktorin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach:
Übersetzervor- und nachlässe geben Einblick in das Leben eines Werkes jenseits seiner Sprach- und Kulturgrenzen. Übersetzer sind dort tatsächlich zweite Schöpfer, diejenigen, die das Ausgangswerk neu und nachbilden. Im Hinblick darauf sammeln wir ausgewählte Vor- und Nachlässe von Übersetzern. (Per E‑Mail am 31.10.2019)
Auch Irmgard Wirtz Eybl, die Direktorin des SLA, kann sich grundsätzlich vorstellen, Übersetzerinnen und Übersetzer in der zukünftigen Sammlungsstrategie systematisch zu berücksichtigen.
Nun mahlen die Mühlen staatlicher Betriebe eher langsam, und auch die Ressourcen wachsen meist nicht proportional zu den zusätzlichen Aufgaben, so dass eine Anpassung der Sammlungsstrategie in diese Richtung guter Argumente bedarf. Mehr noch: Es ist anzunehmen, dass die Notwendigkeit einer Triage eher noch zunehmen wird, denn die Archive müssen auch einem wachsenden Druck seitens Autoren, Philologinnen und anderen „Gelehrten“ begegnen, die ein zunehmendes „Nachlassbewusstsein“ haben, so nannte es Jan Bürger vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach bei einer Veranstaltung. Noch zugespitzter formuliert es Anett Lütteken von der Zentralbibliothek Zürich: Sie diagnostiziert eine veritable „Vorlass-Euphorie“ (Lütteken, 65), und meint damit natürlich den Markt, in dem für begehrte Ware mitunter stattliche Summen die Hand wechseln. In diesem Spannungsfeld agieren die Literaturarchive: Sie müssen quantitative und qualitative Selektionen vornehmen, ihre Prioritäten immer wieder überprüfen und wollen dabei nichts verpassen.
Das Thema „Übersetzung und Archiv“ ist am Puls der Zeit. Es scheint sogar fast en vogue: Im Herbst 2019 fanden parallel gleich drei Fachtagungen dazu statt, im Deutschen Literaturarchiv in Marbach, Caen und Paris, in Zusammenarbeit mit dem IMEC (Institut Mémoires de l’édition contemporaine). Das Thema: „Übersetzernachlässe in Globalen Archiven/Fonds de traducteurs dans les archives globales“. Im Ankündigungstext hieß es:
„Weltliteratur als übersetzte Literatur“: Das mag der Grundsatz einer transnationalen und globalen Perspektive auf Literatur sein, in der die Figur des Übersetzers als Nomade der Mehrsprachigkeit eine zentrale Rolle für die Literaturvermittlung spielt. Neben anderen Akteuren wie Autorinnen und Autoren, Lektorinnen und Lektoren und Verlagen sind es aus dieser Perspektive zweifellos die Übersetzerinnen und Übersetzer, die letztendlich sprachlich die Literaturen der Welt in Bewegung setzen. Geht man davon aus, dass das Übersetzen selbst eine Art konstante Produktion und Revision von Wissen ist, können Übersetzernachlässe als Quelle betrachtet werden, in der sich das neue und immer wieder infrage gestellte Wissen in einem eigenen epistemologischen Status strukturiert.
Wenn traditionelle Archive sich selbst „globale Archive“ nennen und Weltliteratur mit Übersetzung gleichgesetzt wird, bedeutet das in erster Linie eine Verschiebung in der Wahrnehmung: Die schon bestehende Mehrsprachigkeit rückt ins Gesichtsfeld, und die Übersetzerinnen und Übersetzer, die diese prototypisch verkörpern, werden vermehrt wahrgenommen. Sie betreten die Szene selbstbewusster, rollenbewusster und aktiver, und sie pochen darauf, berücksichtigt zu werden. Aber noch ist es zu früh, in Jubel auszubrechen. Interessanter ist es, nach den Gründen für diese offenen Türen zu suchen. Warum soll das nächste Gebiet, das die Übersetzerzunft für sich erobert, ausgerechnet das Literaturarchiv sein? Welche Konstellationen ermöglichen eine solche Öffnung und Wahrnehmungsverschiebung? Ich habe dazu verschiedenen Fachleuten die folgenden Fragen gestellt: Welches Plus bringen Nachlässe von Übersetzerinnen in Literaturarchiven (im Kontrast etwa zu „normalen“ Autorennachlässen)? Welche Erkenntnisse können Forschende dereinst aus systematisch gesammelten Übersetzernachlässen gewinnen oder zu welchen neuartigen Fragestellungen könnten diese führen? Dazu ein Statement von Marie Luise Knott, Vorstandsmitglied des Deutschen Übersetzerfonds und zusammen mit Andreas Tretner Kuratorin der Ausstellung Urbans Orbit im Literarischen Colloquium Berlin, 2017, zum Nachlass des Übersetzers Peter Urban:
Der Reichtum unserer Sprache und Literatur ist ohne den Austausch mit den Literaturen der Welt nicht denkbar. Doch wissen wir immer noch zu wenig vom übersetzerischen Tun, das sich ja nicht in fertigen Manuskripten und Verlagskorrespondenzen erschöpft – eine Leerstelle in unserem kulturellen Bewusstsein. Übersetzer sind Kulturvermittler jenseits der einzelnen konkreten Projekte und jeder Übersetzer unternimmt eigene Erkundungsgänge in stilistische Eigenheiten der fremden wie der eigenen Sprache. Seine Arbeitsmaterialien wie seine zahllosen Korrespondenzen geben wertvolle Hinweise darüber, wie sie aus der Fremde in unserer Sprache sprachschöpfen. (Per E‑Mail am 31.10.2019)
Irene Weber Henking vom Centre de traduction littéraire de Lausanne identifiziert gleich mehrere neue Erkenntnishorizonte:
Die Aufnahme von Übersetzernachlässen in den Archiven ist die einzige Möglichkeit, damit sich die Forschung ein komplettes Bild der Literaturlandschaft eines Landes schaffen kann. Der Anteil der Übersetzungen auf dem Buchmarkt beträgt je nach Land und Textgattung zwischen 20% und 70%. Die systematische Erfassung von Übersetzernachlässen würde zum Beispiel Studien zur Entstehung eines nationalen Literaturkanons ermöglichen, der nicht nur aus dem „Eigenen“ gewachsen ist, sondern nur aufgrund der „fremden“ Einflüsse und insbesondere auf dem Umweg über die Übersetzungen entstehen konnte. Dies zeigen etwa verschiedene historische Studien zur Entstehung der Nationalliteraturen im Mittelalter.
Auch Textgattungen wurden und werden über das Übersetzen eingeführt, etwa das Sonett oder die Graphic Novel. Einige wichtige Autoren der Gegenwartsliteratur haben ihre Poetik via die Auseinandersetzung mit und Übersetzungen von fremden Literaturen geschaffen, zum Beispiel Philippe Jaccottet, Fabio Pusterla oder Zsuzsanna Gahse. (Per E‑Mail am 3.11.2019)
Übersetzungsgeschichte ist also Literaturgeschichte, oder im Umkehrschluss zugespitzt: keine Literaturgeschichte ohne Übersetzungsgeschichte.
Lange haben wir uns an der ersten Station unserer Reise aufgehalten. Bei der nächsten verweilen wir nur ganz kurz.
2. Station: Ableben
Der Tod ist ein dramatischer Moment. Und einer, der Dramen hervorrufen kann, die man gar mit allen Mitteln vermeiden wollte. Es geht hier insbesondere um den letzten Willen und um den entscheidenden Einfluss rechtlicher Fragen in wichtigen Lebenslagen. Wussten Sie zum Beispiel, dass ein Testament komplett handschriftlich abgefasst sein muss, dass rechtlich zwischen Erbeinsetzung und Legat unterschieden wird? Dass beim Umgang mit Nachlässen sowohl das Urheberrecht wie auch das Persönlichkeitsrecht ins Spiel kommt, und dass diese beiden Rechte mitunter miteinander in Konflikt geraten? Es wird klar: Ratsam ist, zu Lebzeiten und bei guter geistiger Gesundheit Rat bei Fachleuten zu suchen, damit der letzte Wille unanfechtbar ist. Und schon geht es weiter zur letzten Station unserer Reise.
3. Station: (Arbeits-)Leben
Wir kommen im Hier und Jetzt an. Sollten Sie sich beim Lesen gefragt haben: „Und was geht mich das an?“, dann ist jetzt der Moment, wieder ins Boot zu steigen.
Alle Literaturübersetzerinnen und Literaturübersetzer sollten Fachpersonen sein, was eigene persönliche Daten und Dokumente angeht. Bei diesem Thema blicken viele in die Luft oder betreten zu Boden: Was ist nun genau mit meinen Fotos? Warum ist diese zehn Jahre alte PDF-Datei nicht mehr lesbar? Wie war das noch mit der Synchronisierung von Daten in der Cloud? Und die Sicherheit? Denn nur wer sachgerecht mit seinen Dokumenten umgeht, kann darauf hoffen, sie in einigen Jahren noch zur Verfügung zu haben oder sie gar dereinst der Nachwelt zur Verfügung zu stellen.
Seien wir realistisch: Nur einige wenige von uns werden ihre persönlichen Archive entweder zu Lebzeiten als Vorlass verkaufen oder nach dem Ableben als Nachlass einem Literaturarchiv übergeben lassen. Unser Ziel ist es deshalb auch nicht, alle auf „Nachlassbewusstsein“ zu trimmen oder zur „Vorlasseuphorie“ anzustacheln. Andreas Tretner hat bei einem Telefonat die interessante Frage gestellt: „Wie macht man seinen Nachlass wertvoll?“ Mit Wert meinte er wahrscheinlich nicht nur den Marktwert, sondern auch einen Mehrwert für das eigene Schaffen und für die Vermittlung der Übersetzertätigkeit.
Ein Beispiel für eine solche „Wertschöpfung“ sind die seit 2017 auf der Website des Programms TOLEDO des Deutschen Übersetzerfonds publizierten, von Aurélie Maurin kuratierten TOLEDO-Journale. Es sind Arbeitsjournale von Übersetzerinnen und Übersetzern in ganz unterschiedlichen Formaten. Sie dokumentieren den Entstehungsprozess einer Übersetzung, sie bringen Ordnung in die Wirrnis verschiedener Fassungen, präsentieren Glossare, visuelles Recherchematerial oder gar multimediale Collagen. Wenn sie für die Publikation aufbereitet werden, sind sie damit auch eine Art öffentliches Archiv. Ihr Mehrwert besteht darin, dass sie kreative Prozesse dokumentieren und das literarische Übersetzen attraktiv vermitteln. Sie haben also eine Außenwirkung.
Genauso wichtig ist aber der mehrfach bezeugte Nutzen für die Verfasserinnen und Verfasser selbst, jenseits einer Publikation. Ein Journal hilft Denkprozesse zu strukturieren, Gedanken in bewusstere Bahnen zu lenken und Assoziationsketten in Worte zu fassen. Es ist Gedächtnisstütze und fordert heraus zu einer verbindlichen Haltung gegenüber dem Text sowie zu einer ständigen, die kreative Arbeit begleitenden Reflexion.
Abschließend lässt sich sagen: Die kulturelle Großwetterlage scheint aktuell günstig zu sein, um Verborgenes ans Licht zu holen. Übersetzerinnen und Übersetzer werden zunehmend als Autorinnen und Autoren anerkannt. Und zwar als solche mit einer eigenen künstlerischen Biografie und mit einer eigenen Poetik. Wenn diese beiden Tendenzen sinnvoll miteinander verbunden werden, schaut ein großer Gewinn für alle heraus: Es warten Entdeckungen und Wiederentdeckungen auf uns, die unser Verständnis von Sprache und Literatur erweitern werden. Über die Übersetzung nachzudenken bedingt eine Öffnung des Nachdenkens über Literatur. Die Zeit dafür ist überreif. Denn im Wesen der Übersetzung ist eingeschrieben, was viele suchen: die Wahrnehmung und ein strategischer Umgang mit den Grenzen von Sprache, Kultur und Identität sowie das Nachdenken für die blinden Flecken des eigenen Selbstverständnisses. Vielleicht war der Zeitpunkt nie günstiger als heute für die Eroberung der Literaturarchive durch die Übersetzerinnen und Übersetzer.
Literaturhinweise:
Lütteken, Anett: „Das Literaturarchiv – Vorgeschichte eines Spätlings“, in: Stefan Maurer et al., Archive für Literatur, De Gruyter 2018, S. 63–88.