Die Verwandlungs­künstlerin

In den 1920er Jahren zog es Pamela Wedekind auf die Bühnen der Weimarer Republik, wo sie als Schauspielerin und Sängerin brillierte. Ihre spätere übersetzerische Tätigkeit geriet jedoch in Vergessenheit. Von

Übersetzerin Pamela Wedekind (ganz rechts) mit den Geschwistern Erika und Klaus Mann. Bild: akg-images

Am 13. Sep­tem­ber 2001 stirbt der aus Thea­ter, Film und Fern­se­hen bekann­te Schau­spie­ler Charles Regnier im Alter von 87 Jah­ren. Nach­ru­fe loben sei­nen Stil, sei­ne Aus­strah­lung sowie sei­ne Leis­tun­gen als Über­set­zer aus dem Fran­zö­si­schen: Zahl­rei­che Wer­ke habe er „in die deut­sche Spra­che her­über­ge­holt.“ Erwähnt wird bei die­ser Gele­gen­heit auch sei­ne ers­te Ehe­frau, mit der Regnier von 1940 bis zu ihrem Tod im Jah­re 1986 das Leben teil­te: Pame­la Wede­kind, Toch­ter des Skan­dal­dich­ters Frank Wede­kind, Schau­spie­le­rin wie ihr Mann. Dies ist jedoch nicht alles. Auch Pame­la Wede­kind hat aus dem Fran­zö­si­schen über­setzt, das deutsch­spra­chi­ge Publi­kum ver­dankt ihr vor allem das „Her­über­ho­len“ der Kind­heits­er­in­ne­run­gen Mar­cel Pagnols. Doch nur sel­ten und neben­bei wird ihre Über­set­zungs­tä­tig­keit heut­zu­ta­ge erwähnt, wenig beach­tet die Öffent­lich­keit die­se Rol­le Pame­la Wedekinds.

Schau­en wir doch ein­mal genau­er hin und rücken an einer facet­ten­rei­chen Per­sön­lich­keit eine Sei­te ins Ram­pen­licht, die meist im Dun­keln bleibt. Möch­te man Pame­la Wede­kinds Leben nach­zeich­nen, kommt man an ihren Eltern nicht vor­bei: Frank Wede­kind (1864–1918), spät vom Erfolg belohn­ter Ver­fas­ser als anstö­ßig gel­ten­der Thea­ter­stü­cke, der in eige­nen Rol­len sowie gele­gent­lich als Inter­pret eige­ner Bän­kel­lie­der auf der Büh­ne stand, und Til­ly Wede­kind geb. Newes (1886–1970), Schauspielerin.

Ihre Arbeit führt die bei­den zusam­men, 1905 wird gehei­ra­tet, fort­an tritt Til­ly bis zum Tod ihres Man­nes nur noch in des­sen Stü­cken auf. Opfert sie sich für ihn, bringt er sie groß her­aus? Sei­ner Kar­rie­re scheint das gemein­sa­me Auf­tre­ten mit der Ehe­frau durch­aus för­der­lich zu sein, zumal er pri­va­te Kon­flik­te gern als Stoff für sei­ne Wer­ke nutzt. Nach einem Selbst­mord­ver­such Til­lys und Schei­dungs­plä­nen des Paars stirbt Frank an der Darm­er­kran­kung, unter der er seit Jah­ren leidet.

Anna Pame­la, gebo­ren 1906, wächst als älte­re von zwei aus der Ver­bin­dung her­vor­ge­gan­ge­nen Töch­tern in Mün­chen auf. Ihrem Vater, der sie und ihre Schwes­ter Kadid­ja musi­ka­lisch unter­weist und höf­lich wie Erwach­se­ne behan­delt, fühlt sie sich auch nach des­sen Tod ver­bun­den und ver­pflich­tet. Mit fünf­zehn Jah­ren ver­lässt sie die Schu­le und beginnt ihre Aus­bil­dung als Schau­spie­le­rin, weil ihr „ja doch nichts ande­res übrig bleibt“.

Eini­ge Jah­re spä­ter fin­det sie sich von allen Sei­ten umschwärmt und damit in einem Loya­li­täts­kon­flikt wie­der: Eri­ka Mann, eben­falls Toch­ter eines berühm­ten Vaters, ist ihr ver­fal­len, ihr Bru­der Klaus, den ihr „erschüt­tern­der Ernst“ und ihre „exak­te, gleich­sam eisi­ge Anmut“ beim Vor­trag der Lie­der ihres Vaters begeis­tern, möch­te sie hei­ra­ten und der 28 Jah­re älte­re von der Syphi­lis gezeich­ne­te Dich­ter Carl Stern­heim braucht sie. Die Mann-Geschwis­ter und Pame­la sind eine Zeit lang unzer­trenn­lich und tre­ten gemein­sam in Klaus‘ Stü­cken Anja und Esther und Revue zu Vie­ren auf. Doch die gemein­sa­men Jah­re kön­nen nicht ewig dau­ern, Pame­la bekennt sich öffent­lich zu Stern­heim, der sich in der Ver­gan­gen­heit nega­tiv über die Fami­lie Mann geäu­ßert hat, hei­ra­tet ihn 1930 und zieht mit ihm nach Brüssel.

Die Ehe wird 1934 geschie­den. Da ist Hit­ler bereits an der Macht und Eri­ka mit ihrem Kaba­rett „Die Pfef­fer­müh­le“ in der Schweiz. Pame­la könn­te sich ihr anschlie­ßen, ent­schei­det sich jedoch, wei­ter­hin in Deutsch­land zu leben und auf­zu­tre­ten, was den Gra­ben zwi­schen ihr und den alten Freun­den noch ver­tieft. Da sie zunächst nicht weiß, wo sie unter­kom­men soll, wen­det sich ihre Mut­ter Til­ly an ihre Kol­le­gin Emmy Son­ne­mann, die Freun­din Her­mann Görings. Mit ihrer Unter­stüt­zung wird sie Ensem­ble­mit­glied des Preu­ßi­schen Staats­thea­ters Berlin.

Neben der rich­ti­gen Pro­tek­ti­on kommt ihr Talent ihr zugu­te: Bereits in den 20er-Jah­ren haben Kri­ti­ker ihre Auf­trit­te gelobt, sie als „ernst­haf­te Künst­le­rin, kei­ne Sen­sa­ti­ons­num­mer“ bezeich­net und die Deut­lich­keit ihrer Spra­che her­vor­ge­ho­ben. Sin­gen kann sie als Toch­ter ihres Vaters auch. Zu dem Zeit­punkt, als sie den acht Jah­re jün­ge­ren Charles Regnier ken­nen­lernt, der ihr zwei­ter Ehe­mann und Vater ihrer drei Kin­der wer­den wird, ist sie wesent­lich pro­mi­nen­ter als er.

Charles spielt in der Pro­vinz, am Stadt­thea­ter Greifs­wald, Pame­la för­dert sein Talent und sorgt dafür, dass er an den Münch­ner Kam­mer­spie­len unter­kommt. Der in Frei­burg gebo­re­ne jun­ge Mann heißt eigent­lich Karl Fried­rich und beherrscht das Fran­zö­si­sche fast eben­so gut wie das Deut­sche, da er in Mon­treux die Schu­le besucht hat. Er über­setzt aus dem Fran­zö­si­schen und streut in sei­ne Lie­bes­brie­fe an Pame­la fran­zö­si­sche Halb­sät­ze ein. Das Ehe­paar lebt zunächst in St. Hein­rich und spä­ter in Ambach am Starn­ber­ger See.

Charles steht bis kurz vor sei­nem Tod auf der Büh­ne, Pame­la nach zahl­rei­chen Auf­trit­ten als Schau­spie­le­rin und Chan­son­sän­ge­rin bereits 1969 das letz­te Mal – sie ist an Par­kin­son erkrankt. Den­noch hat sie es im Leben bes­ser getrof­fen als ihre jün­ge­re Schwes­ter, die sich stets zurück­ge­setzt fühlt. Die bei­den bre­chen schließ­lich mit­ein­an­der, Kadid­ja stirbt 1994. Ihren ers­ten Mann Carl Stern­heim sowie Eri­ka und Klaus Mann über­lebt Pame­la um Jah­re, zum Teil Jahr­zehn­te und urteilt im Alter posi­tiv über die Men­schen, die ihr einst so nahe gestan­den haben. Für die Für­sor­ge ihres Man­nes ist sie in ihren letz­ten Jah­ren dank­bar. Von allen Mit­glie­dern der Fami­lie Wede­kind ist sie wohl am glück­lichs­ten gewesen.

Pame­las Sohn Ana­tol Regnier hat über sei­ne Groß­mutter Til­ly und ihre Töch­ter eine Fami­li­en­bio­gra­phie ver­fasst und gedenkt sei­ner Mut­ter auch in einem zwei­ten Buch, das von sei­nem eige­nen Leben sowie dem ande­rer Kin­der berühm­ter Eltern berich­tet. Was sei­nen Vater betrifft, erzählt er (man höre auch hier ab 9′23″), dass die­ser in fran­zö­si­schen Komö­di­en auf­trat, die er selbst über­setzt hat­te, was häu­fig im Tour­bus statt­fand. Die Über­set­zungs­tä­tig­keit sei­ner Mut­ter hat er offen­bar eben­so wie die übri­ge Nach­welt stets als weni­ger wich­tig betrach­tet, dem­zu­fol­ge erfah­ren wir von ihm nur wenig darüber.

Den­je­ni­gen, die mehr wis­sen möch­ten, stellt sich zunächst die Fra­ge: Woher konn­te Pame­la Wede­kind so gut Fran­zö­sisch? In der Schu­le wird sie es wohl nicht gelernt haben, da sie zwar als Kind gute Zeug­nis­se hat­te, als Jugend­li­che aber nur wider­wil­lig zur Schu­le ging und sie früh abbrach. Mit ihrem ers­ten Ehe­mann hat sie Süd­frank­reich bereist und für eini­ge Zeit in Brüs­sel gelebt, doch in der zwei­spra­chi­gen bel­gi­schen Haupt­stadt soll sie wenig Kon­takt zur Bevöl­ke­rung gehabt haben. Ein Ein­fluss ihres zwei­ten Ehe­man­nes ist wahr­schein­lich, sie kann Charles Regniers Bei­spiel gefolgt sein und mög­li­cher­wei­se hat sie mit ihm auch ihre Sprach­kennt­nis­se verbessert.

Ihre hohe mut­ter­sprach­li­che Kom­pe­tenz, ihr gutes Gedächt­nis und ihre Musi­ka­li­tät waren eine gute Grund­la­ge für ihre Kar­rie­re als Schau­spie­le­rin, sind jedoch auch für eine Über­set­ze­rin vor­teil­haft. Leicht reiz­bar und häu­fig zer­streut soll sei­ne Mut­ter in sei­ner Kind­heit gewe­sen sein, berich­tet Ana­tol Regnier, doch war sie offen­bar auch sehr dis­zi­pli­niert, gepflegt auch noch als auf Hil­fe ange­wie­se­ne Par­kin­son-Pati­en­tin und täg­lich ein fest­ge­leg­tes Pen­sum hat sie über­setzt, solan­ge sie gesund­heit­lich dazu in der Lage war.

Was die von ihr ins Deut­sche über­tra­ge­nen Wer­ke betrifft, erwähnt Ana­tol „fran­zö­si­sche Bücher und Thea­ter­stü­cke“, geht aber nicht wei­ter ins Detail. Recher­chen erge­ben eine Lis­te von sie­ben Roma­nen, einem Sach­buch und vier Thea­ter­stü­cken bzw. Fern­seh­spie­len. Gleich die ers­te Roman­über­set­zung lässt Pame­la Wede­kind in eher zwei­fel­haf­tem Licht daste­hen: Ihre deut­sche Fas­sung von Stend­hals Le Rouge et le Noir aus dem Jahr 1948 über­nimmt nach der ers­ten Sei­te den Text einer älte­ren Über­set­zung. Pla­gi­at aus Geld­not kurz nach dem Zwei­ten Welt­krieg? Man kann nicht viel mehr tun als spe­ku­lie­ren. Als ein­zi­ge von Wede­kinds Pro­sa-Über­set­zun­gen wur­de die­se zu kei­nem spä­te­ren Zeit­punkt neu aufgelegt.

Das über­set­ze­ri­sche Spät­werk umfasst in der Haupt­sa­che die erwähn­ten Stü­cke für die Büh­ne oder das Fern­se­hen – zwei der deut­schen Fas­sun­gen ent­stan­den um 1970, als die Schau­spie­le­rin bereits nicht mehr selbst auf­tre­ten konn­te, eine davon in Zusam­men­ar­beit mit ihrem Ehemann.
Das Herz­stück von Pame­la Wede­kinds Schaf­fen als Über­set­ze­rin bil­den jedoch die auto­bio­gra­phi­schen Tex­te des Schrift­stel­lers, Dra­ma­ti­kers und Regis­seurs Mar­cel Pagnol (1895–1974), in denen er sei­ne Kind­heit in Süd­frank­reich wie­der­auf­er­ste­hen lässt. Ana­tol Regnier erwähnt „unter ande­rem Mar­cel Pagnols mehr­bän­di­ge, auch in Deutsch­land äußerst erfolg­rei­che Jugend­er­in­ne­run­gen ‚Eine Kind­heit in der Pro­vence‘, was ihr Kri­ti­ker­lob, begeis­ter­te Leser und einen Dank­brief des berühm­ten Fran­zo­sen einbringt.“

Die Über­set­zun­gen erschei­nen in den 60er-Jah­ren (bis auf Die Zeit der Lie­be, des­sen fran­zö­si­sche Vor­la­ge selbst erst 1977 post­hum ver­öf­fent­licht wird) jeweils nicht wesent­lich spä­ter als das Ori­gi­nal. Pame­la Wede­kind ist in die­ser Pha­se ihres Lebens auch als Schau­spie­le­rin, Sän­ge­rin und Dozen­tin viel­be­schäf­tigt und wid­met sich dem Über­set­zen sicher­lich nicht aus Man­gel an Alter­na­ti­ven. Wie­der kann man nur Ver­mu­tun­gen anstel­len: Ist sie auf Pagnols Werk auf­merk­sam gewor­den und hat den Wunsch ver­spürt, es in Deutsch­land bekann­ter zu machen? Hat der Lan­gen-Mül­ler Ver­lag, für den sie 1958 bereits einen Roman des fran­zö­si­schen Autors Gus über­setz­te, ihr die­se Auf­ga­be ange­bo­ten? Die gesam­ten Erin­ne­run­gen Pagnols sowie ein wei­te­rer Roman und ein Sach­buch des glei­chen Autors wer­den von Wede­kind ins Deut­sche gebracht in die­sem Ver­lag erscheinen.

Neh­men wir doch die ers­ten bei­den Tei­le der Erin­ne­run­gen, auf Deutsch ver­öf­fent­licht in einem Band unter dem Titel Mar­cel – Eine Kind­heit in der Pro­vence, ein wenig unter die Lupe und schau­en uns an, wie die Über­set­ze­rin mit den beson­de­ren Her­aus­for­de­run­gen umgeht, die die­sem Text inne­woh­nen. Grund­sätz­lich las­sen sich eini­ge Ein­schü­be und Ände­run­gen fest­stel­len, die dem deut­schen Publi­kum den Zugang zum Werk erleich­tern sol­len. So wird z. B. im Zusam­men­hang mit dem Abscheu vor Alko­hol, der ange­hen­den Leh­rern (dar­un­ter Mar­cels Vater) im aus­ge­hen­den 19. Jahr­hun­dert ein­ge­impft wird, im Ori­gi­nal „l’As­so­moir“ erwähnt, in der Über­set­zung der „ ‚Tot­schlä­ger‘ von Zola“.  Zur Abschre­ckung hän­gen Bil­der von der Trin­ker­le­ber in den Klas­sen­räu­men; im Ori­gi­nal lesen wir von „étran­gle­ments vio­la­cés qui leur don­naient la for­me d’un topin­am­bour“, im Deut­schen heißt es: „dank ihrer […] lila Ver­schnü­run­gen glich sie einer in Fäul­nis über­ge­gan­ge­nen Kartoffel.“

Ganz abge­se­hen davon, dass im Fran­zö­si­schen von Fäul­nis nicht die Rede ist (die in das Schau­er­bild jedoch per­fekt passt), ist die Topin­am­bur kei­ne Kar­tof­fel. Der deut­schen Leser­schaft wird eine ihr wesent­lich ver­trau­te­re Knol­le ser­viert. Vor­ent­hal­ten wird ihr im glei­chen Abschnitt ein gan­zer Satz über Hal­lu­zi­na­tio­nen und sons­ti­ge Fol­gen des Alko­hol­kon­sums, der durch die Innen­stadt spa­zie­ren­de Giraf­fen und von Cock­tails durch­tränk­tes Rücken­mark ent­hält – wur­de er vom Ver­lag als zu anstö­ßig empfunden?

Weni­ge Sei­ten spä­ter schreibt Pagnol, er habe als Kind geglaubt, sei­ne Mut­ter sei am glei­chen Tag gebo­ren wie er selbst, und auch die­sen Satz fin­den wir in der deut­schen Über­set­zung nicht. Sein Vater ist im Ori­gi­nal 25, in der Über­set­zung 24 Jah­re älter als er und Zah­len stim­men zwi­schen der fran­zö­si­schen und der deut­schen Ver­si­on häu­fi­ger nicht über­ein – war­um mag man die­se Ände­run­gen vor­ge­nom­men haben? So heißt es z. B. bei Pagnol von Leh­rern in der Pro­vinz, sie wür­den nach dem drit­ten oder vier­ten Kind end­lich in eine grö­ße­re Gemein­de ver­setzt, in der Über­set­zung ist es das vier­te oder fünf­te Kind.

Gro­ße Tei­le der Roma­ne spie­len in der Berg­welt der Pro­vence – Mar­cels Fami­lie ver­bringt die Feri­en in einem abge­schie­de­nen Land­haus in der Umge­bung von Mar­seil­le, der Vater und der Onkel gehen auf die Jagd und Mar­cel selbst freun­det sich mit einem gleich­alt­ri­gen Bau­ern­jun­gen an, der Vögel in Fal­len fängt. Der klei­ne Lili spricht ein mit Pro­ven­za­lis­men durch­setz­tes Fran­zö­sisch und bringt sei­nem Freund aus der Stadt die Pflan­zen- und Tier­welt näher, mit der er auf­ge­wach­sen ist. Den Kin­dern sind die Unter­schie­de zwi­schen den ver­schie­de­nen Sprach­re­gis­tern bewusst, die Über­set­ze­rin voll­zieht sie nicht immer nach.

Als Lili ange­sichts eines toten Vogels in einer Fal­le erklärt: „Les gens de la ville leur disent ‚bec-croi­sé‘. Mais nous on leur dit ‚dar­na­gas‘ par­ce que c’est un oise­au imbé­ci­le“, lesen wir im Deut­schen: „Die Stadt­leu­te nen­nen sie Kreuz­schnä­bel. Wir sagen Dar­na­gas, weil es ein sehr dum­mer Vogel ist.“ Dar­na­gas lei­tet sich laut Lou­is Alberts Wör­ter­buch Okzita­nisch-Fran­zö­sisch vom gal­li­schen dar­nos mit der Bedeu­tung „Stück“ her und hat mit Dumm­heit an sich nichts zu tun. Was Mar­cel bis­her als „lézard“ kann­te, bezeich­net Lili als „lim­bert“, den als „pie“ bekann­ten Vogel nennt er „agas­se“, Wede­kind spricht hier nur von einer Eidech­se bzw. Els­ter und klam­mert die pro­ven­za­li­schen Begrif­fe aus.

In eini­gen Fäl­len irrt sich die Über­set­ze­rin auch: So macht sie bei­spiels­wei­se den „mot­teux“, der eigent­lich ein Stein­schmät­zer ist, zur Bekas­si­ne. Ein Sumpf­vo­gel im Gebir­ge? Man kann sich wun­dern, dass die­ser offen­sicht­li­che Feh­ler dem Lek­to­rat nicht auf­ge­fal­len ist, das ja in den deut­schen Text ganz offen­sicht­lich mit Kür­zun­gen ein­ge­grif­fen hat.

Der Unter­schied zwi­schen der stan­dard­fran­zö­si­schen Spra­che der Städ­ter und der pro­ven­za­lisch gefärb­ten Rede­wei­se der Land­be­völ­ke­rung hät­te nach heu­ti­ger Sicht in der deut­schen Fas­sung stär­ker her­aus­ge­ar­bei­tet wer­den kön­nen. Viel­leicht woll­te man der deut­schen Leser­schaft der 60er-Jah­re dies­be­züg­lich nicht so viel zumu­ten, viel­leicht fehl­te auch der Über­set­ze­rin selbst der Bezug zu die­ser Varie­tät des Okzita­ni­schen. Wenn die Ver­mu­tung stimmt, dass sie über ihren Ehe­mann zum Über­set­zen kam, konn­te er ihr in die­ser Hin­sicht nicht hel­fen, da er das Fran­zö­si­sche ja in der Schweiz erlernt hatte.

Den­noch ist der Erfolg von Pame­la Wede­kinds Über­set­zung (26 Neu­auf­la­gen in fünf ver­schie­de­nen Ver­la­gen!) ver­dient: Sie nimmt die deut­sche Leser­schaft mit auf span­nen­de Jagd­aus­flü­ge, lässt sie die Zika­den hören und den Thy­mi­an rie­chen. In Absät­zen wie dem fol­gen­den zeigt die Über­set­ze­rin ihre poe­ti­sche Begabung:

L’au­be était fraîche. Quel­ques planè­tes apeu­rées clig­no­tai­ent, tou­tes pâles. Sur les bar­res du Plan d’Aigle, le bord de la nuit amin­cie était bro­dé de bru­mes blan­ches et dans la pinè­de du Petit-Œil, une chou­et­te mélan­co­li­que fai­sait ses adieux aux étoiles.
Die Mor­gen­däm­me­rung war kühl. Eini­ge ver­ängs­tig­te Ster­ne blin­zel­ten blaß. Über den Fel­dern der Hoch­ebe­ne von Aigle säum­ten wei­ße Nebel die schwin­den­de Nacht, und im Kie­fern­wäld­chen von Petit-Œil flö­te­te eine melan­cho­li­sche Eule den Ster­nen ihr Lebe­wohl zu.

Die Über­set­zung der gesam­mel­ten Kind­heits­er­in­ne­run­gen von Mar­cel Pagnol ist eine Leis­tung, die vor Jahr­zehn­ten zu Recht von Kri­tik und Öffent­lich­keit gewür­digt wur­de und an die man heu­te ruhig wie­der erin­nern kann. Pame­la Wede­kind wird von der Nach­welt vor allem als Toch­ter ihres Vaters wahr­ge­nom­men, die mit ihrer eige­nen Tätig­keit als Schau­spie­le­rin die Fami­li­en­tra­di­ti­on fort­setz­te. Wird ihre Rol­le als Über­set­ze­rin weni­ger beach­tet, weil sie weni­ger gla­mou­rös war?

In jedem Fal­le hat sich die Toch­ter von Frank und Til­ly mit ihren Über­set­zun­gen ein Stück weit von der Fami­lie eman­zi­piert und etwas Eige­nes geschaf­fen. Selbst wenn Charles‘ Ein­fluss eine Rol­le gespielt hat, hat sie ihm nicht ein­fach nach­ge­ei­fert, den Schwer­punkt nicht auf Thea­ter­stü­cke, son­dern auf Roma­ne gelegt. Wenn wir die­se Roma­ne heu­te auf Deutsch lesen, wis­sen wir zwar nicht viel über die Umstän­de, unter denen die Über­set­zun­gen ent­stan­den sind, doch wir soll­ten sie zu schät­zen wis­sen und Pame­la Wede­kind nicht nur wegen ihrer Leis­tun­gen auf der Büh­ne in Erin­ne­rung behalten.

Mar­cel Pagnol/Pamela Wede­kind: Eine Kind­heit in der Pro­vence (Im fran­zö­si­schen Ori­gi­nal: Sou­ve­nirs d’enfance)

Piper 1999 ⋅ 464 Sei­ten ⋅ 12 Euro

www.piper.de/buecher/eine-kindheit-in-der-provence-isbn-978–3‑492–22808‑4

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    Pamela Wedekind – zum 35. Todestag: „[I]ch habe so viel zu spielen“

    […] Iri­na Brü­ning, die selbst als Über­set­ze­rin tätig ist, hat sich aus­führ­li­cher mit die­ser wenig beach­te­ten Sei­te Pame­la Wede­kinds beschäf­tigt. Wer also mehr über die „Verwandlungs­künstlerin“ erfah­ren möch­te, wie Iri­na Brü­ning sie so tref­fend nennt, kann hier gleich wei­ter­le­sen: https://www.tralalit.de/2020/09/09/die-verwandlungskuenstlerin/ […]

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