Wie haben Sie Hindi gelernt?
Heinz Werner Wessler: Ich habe Hindi zunächst im Selbstunterricht und an der Volkshochschule gelernt und bin dann in das zweite Semester an der Universität Bonn eingestiegen. Wobei die Kurse an der Uni damals nicht sonderlich pädagogisch waren und wir kaum praktische Sprachbeherrschung erlernt haben: zwei Semester Grammatik, Vokabular und schriftliche Übersetzungsübungen, im dritten Semester direkt Einstieg in die Literaturübersetzung. Nach einigen Semestern habe ich in einem Sommerkurs in Kiel erste systematische Versuche im gesprochenen Hindi gemacht und war dann acht Monate in einem Sprachinstitut in Delhi. Der Unterricht dort war zwar ebenfalls nur teilweise erfreulich, doch diese Zeit war für mich der Durchbruch, sowohl im gesprochenen als auch im schriftlichen Hindi.
Reinhold Schein: Ich war als DAAD-Lektor in Pune und Varanasi. Dort habe ich ein bisschen Hindi zum Haus- und Straßengebrauch aufgeschnappt, aber nicht systematisch gelernt. Erst nach Ende meiner ziemlich langen Lektorenzeit, wieder als Lehrer im deutschen Schuldienst und schon über fünfzig, habe ich an der Uni Bonn Hindi-Kurse belegt. Der Dozent war literaturbegeistert und gab uns Kurzgeschichten als Übungsaufgaben. Später beteiligte er mich an zwei gemeinschaftlichen Übersetzungsprojekten. Ich würde mich eigentlich nicht als Profi bezeichnen, sondern als Dilettant im ursprünglichen Sinn des Wortes. Hauptberufliche Übersetzerinnen und Übersetzer aus dem Hindi und anderen indischen Sprachen gibt es meines Wissens auch gar nicht. Dafür ist der Markt im deutschen Sprachraum viel zu klein.
Wie sieht die indische Literaturszene aus?
RS: Die indische Literaturszene ist enorm breit gefächert. Außer den meistgesprochenen Sprachen Hindi, Urdu und Bengali gibt es mindestens vier weitere indoeuropäische und vier südindische (drawidische) Sprachen, die alle eine Fülle von Literatur hervorgebracht haben. Hinzu kommen etliche weitere Sprachen mit weniger Sprecherinnen und Sprechern und kleinerem literarischen Gesamtvolumen. Hindi als eine einzige Sprache anzusehen, ist übrigens eher national-politisches Wunschdenken als Wirklichkeit. Bedeutende literarische Werke früherer Jahrhunderte, teils auch noch der Gegenwart, wurden in Sprachen verfasst, die heute als regionale Spielarten des Hindi bezeichnet werden. Und nicht zu vergessen: Englisch ist auch eine wichtige Amts- und Literatursprache des Subkontinents, die zugleich die verschiedenen Regionen Indiens und seiner Nachbarländer untereinander und mit dem Rest der Welt verbindet.
HWW: Es gibt in Indien viele Leute, die schreiben, aber nur ganz wenige können davon mehr oder weniger leben. Meistens machen sie das in Kombination mit einem Job an der Uni oder in den Medien. Es ist leicht, Autorinnen und Autoren kennenzulernen, daraus entwickeln sich schnell dauerhafte Freundschaften. Es gibt viel Frustration über schlechte Bezahlung, unzuverlässige Verleger und Redaktionen. Ein kleines Beispiel, welche schönen Erfahrungen man machen kann: Anfang der 2000er Jahre besuchte ich den Dalit-Autor Mohandas Naimishray, er hatte mich zu sich nach Hause eingeladen, obwohl wir uns noch nie zuvor gesehen hatten. Es war ziemlich heiß, doch ich holte nach kurzem Gespräch gleich mein Aufnahmegerät heraus und wollte das verabredete Interview machen. Er meinte daraufhin, ich solle doch erst mal duschen und etwas ruhen, dann könnten wir doch in einer halben Stunde weiterreden. Sowas erlebt man nur in Indien!
Was sollte man unbedingt gelesen haben?
HWW: Allgemein Literatur in indischen Sprachen, notfalls in Übersetzung. Die gibt es durchaus, zum Beispiel beim Draupadi-Verlag, der uns Freunden der indischen Literatur sehr am Herzen liegt.
RS: Zu den großen Hindi-Autoren des 20. Jahrhunderts zählen Premchand, dessen berühmter Roman Godan („Die Kuhgabe“) unter dem Titel Godan oder die Opfergabe 1979 im Manesse Verlag erschien; Nirmal Verma, von dem im Lotos Verlag zwei Erzählungen unter dem Titel Traumwelten sowie drei weitere Bände mit Erzählungen erschienen; Bhisham Sahni, von dem auf Deutsch ein Band mit Erzählungen vorliegt (Der Preis eines Huhns, 2017), und Krishna Baldev Vaid, dessen Tagebuch eines Dienstmädchens 2012 erschien. Sehr lesenswert finde ich auch Sara Rai, die übrigens 2019 für ihre Erzählungen Im Labyrinth mit dem Coburger Rückert-Preis ausgezeichnet wurde und anschließend auf Lesereise durch Deutschland ging, sowie Uday Prakash, dessen Roman Mohandas sowie zwei weitere Romane und zwei Bände mit Erzählungen im Draupadi Verlag erschienen, und Geetanjali Shree, unter anderem der Roman Mai („Mutter“) und der Erzählband Weißer Hibiskus. Mittlerweile sind mehrere dieser Bücher auch im Unionsverlag erschienen. Eine bemerkenswerte, noch sehr junge Lyrikerin ist Jacinta Kerketta. Sie ist Angehörige der Adivasi, das heißt der indigenen Ethnien Indiens. In ihren zweisprachig auf Hindi/Deutsch im Draupadi Verlag erschienenen Gedichtbänden Glut und Tiefe Wurzeln beklagt sie die Verdrängung ihrer Volksgruppen aus den angestammten Siedlungsgebieten durch Bergbaukonzerne, auch die damit zusammenhängenden Umweltsünden und die bereits weit fortgeschrittene Überlagerung ihres kulturellen Erbes durch die dominante Mainstream-Unterhaltungsindustrie.
HWW: Neben den Hindi-Autoren gibt es auch sehr gute Übersetzungen aus anderen Sprachen. Ich finde zum Beispiel die Bengali-Autorin Mahashweta Devi sehr beeindruckend, oder den noch relativ jungen Rahman Abbas in Urdu. Es gibt auch viel Gutes in Englisch, aber vieles ist sozusagen für den internationalen Markt produziert.
Was ist noch nicht übersetzt?
RS: Fast alles – schwer zu sagen, welche Namen und Werke hier zuerst zu nennen wären. Aber einen Namen möchte ich doch besonders hervorheben: Die Erzählerin Neelakshi Singh (geb. 1978), die bisher sechs Bände mit Kurzgeschichten verfasst und auch einige Preise dafür bekommen hat. Auf Deutsch ist davon bisher nur die Kurzgeschichte Rauch! Wo denn? in Mauern und Fenster. Neue Erzählungen aus Indien (2006) erschienen, die Appetit auf mehr macht.
HWW: Dass so vieles noch nicht übersetzt ist, liegt auch daran, dass es an einer guten Atmosphäre für Übersetzerinnen und Übersetzer ins Deutsche fehlt – leider ist literarisches Übersetzen aus indischen Sprachen ins Deutsche mehr oder weniger brotlose Kunst. Es müsste mehr Übersetzerseminare, mehr Interesse der Großverlage, überhaupt mehr Foren geben!
Was sind die größten Schwierigkeiten beim Übersetzen aus dem Hindi? Wie gehen Sie damit um?
HWW: Alles ist übersetzbar, wichtig ist, dass wir von den philologischen Übersetzungen wegkommen und unsere Fähigkeiten beim Eindeutschen verbessern. Also Sinn übersetzen statt Sprache. Ein erfolgreiches Umsetzen der andersartigen Syntax ins Deutsche setzt natürlich die Fähigkeit voraus, sich vom Hindi-Text loszumachen.
RS: Wer übersetzt, muss Wege finden, die Unterschiede im Denken und Fühlen und in der Alltagskultur von Ausgangs- und Zielland zu überbrücken. Je größer diese Unterschiede sind, desto schwieriger wird es. Um den Ausgangstext richtig zu verstehen, muss man eine ganze Menge über das Leben in diesem Land wissen. Durch meinen zwölfjährigen Aufenthalt in Indien bin ich in dieser Hinsicht ganz gut gerüstet. Und dennoch: Meine Erfahrungen habe ich hauptsächlich in der städtischen Mittelschicht gemacht, vom Leben auf dem Land und in der Arbeiterklasse weiß ich wenig. Daher braucht man auf jeden Fall muttersprachliche Bekannte, die man konsultieren kann, wenn Textstellen nebelhaft bleiben. Auch die Autoren Geetanjali Shree und Uday Prakash haben mir persönlich weitergeholfen.
Was kann Hindi, was Deutsch nicht kann?
RS: Hindi hat außer „Du“ und „Sie“ noch eine dritte Anredeform, wodurch sich die Skala von familiärer Vertrautheit zu formellem Respekt weiter differenziert. Auch werden Personen, die man neu kennenlernt, gern in ein Verwandtschaftsgeflecht eingeordnet, man redet sie also als jüngerer/älterer Bruder bzw. jüngere/ältere Schwester, als Mutter, Vater, Großeltern, Sohn, Tochter, Onkel/Tante mütter- oder väterlicherseits usw. an. Mit jeder dieser Verwandtschaftsbezeichnungen ist eine gewisse Art von Beziehung und Kommunikation vorgegeben.
HWW: Und es gibt ein ausgeklügeltes Hilfsverbsystem, das sehr differenziert Aktionsarten, die mit Emotionen zu tun haben, zum Ausdruck bringt. Hier kann Hindi komplexer sein als das Deutsche. Ein Beispiel: „paṛh lenā“ („für sich lesen“) und „paṛh denā“ („vorlesen“), beides sind Varianten von „paṛhnā“ („lesen“).
Reinhold Schein hat den größten Teil seines beruflichen Lebens als Deutschlehrer auf dem zweiten Bildungsweg verbracht. Seit 2012 engagiert er sich im Vorstand des Literaturforums Indien e.V. dafür, zeitgenössische Literatur vom indischen Subkontinent in deutscher Übersetzung bekannter zu machen, u. a. durch vierteljährliche Newsletter. Aus dem Hindi hat er den Roman Mai („Mutter“) von Geetanjali Shree übersetzt und an der Übersetzung des Dramas Agra Basar von Habib Tanvir und des Romans Das Mädchen mit dem gelben Schirm von Uday Prakash mitgewirkt.
Heinz Werner Wessler lehrt Indologie an der Universität Uppsala. Übersetzungen aus Hindi und Urdu, darunter Uday Prakashs Roman Das Mädchen mit dem gelben Schirm (in Zusammenarbeit mit Ines Fornell und Reinhold Schein), die Kurzgeschichten Die Tätowierung von Ajay Navariya und Die Quarantäne von Rajinder Singh Bedi, das Drama Agra Basar von Habib Tanvir (zusammen mit Reinhold Schein) sowie Gedichte von Kunvar Narain und Nirmala Putul.