2020 war aufgrund der Coronapandemie in jeder Hinsicht ein außergewöhnliches Jahr. Welche Rolle spielte die Literatur?
Katrin Eckert (Literaturhaus Basel): Die Literatur ist eine extrem wichtige Stimme, ein wichtiger Resonanz- und Reflexionsraum. Und so bitter das Wegfallen der Veranstaltungen für die Autorinnen und Autoren und auch für uns war und ist – es wird immer noch gelesen. Die Reaktion, dass Literatur als wichtig wahrgenommen wird, war beruhigend. Wir haben aber deutlich gespürt, wie wichtig den Menschen nicht nur das Lesen, sondern auch die Begegnung mit Autorinnen und Autoren ist und wie sehr das vermisst wird.
Robert Huez (Literaturhaus Wien): Wir haben aber auch feststellen müssen, dass alle Literaturhäuser und Kultureinrichtungen – zumindest in Österreich – dem Gesetz nach Freizeiteinrichtungen sind. Das muss man erstmal verdauen. Wir bemühen uns, Kultur zu schaffen, Literatur zu vermitteln, Autorinnen und Autoren zu betreuen und das läuft laut Gesetz als Freizeitaktivität. Das ist eine der kleinen aber bitteren Erkenntnisse in diesem tragischen und katastrophalen Jahr.
Florian Höllerer (Literarisches Colloquium Berlin): Literatur war ausgerechnet da sehr präsent, wo sie die Frage ihrer Systemrelevanz unterlief und Schieflagen im System berührte, die in Pandemiezeiten noch schiefer wurden. Auch gerade die verstärkte Hinwendung zu historischen Zusammenhängen eröffnete eigenwillige Blicke auf unsere Gesellschaft und die Sprache der Gegenwart.
Wie haben Sie auf den Lockdown reagiert? Welche konkreten Auswirkungen hat die Pandemie auf die Arbeit der Literaturhäuser?
Eckert: Wir haben als erste Reaktion auf den Lockdown Textaufträge und Schreibaufträge verteilt, weil durch die Coronakrise schnell deutlich wurde, wie prekär die Lebensbedingungen von vielen Autorinnen und Autoren und Übersetzerinnen und Übersetzern sind, auch in normalen Zeiten. Deshalb wollten wir das verfügbare Geld direkt investieren.
Höllerer: Das allzu radikale Umstellen auf digital zu Beginn der Pandemie hat gezeigt, wie sehr die literarische Veranstaltung von der physischen Begegnung lebt und nicht einfach zu ersetzen ist. Das ist eine Einsicht, die man sehr ernst nehmen muss. Gleichzeitig hat sich in den vergangenen Monaten auch das enorme Potenzial gezeigt, das in digitalen Veranstaltungen steckt – wenn man sich auf sie einlässt und nicht einfach versucht, wie immer weiterzumachen. Hybrid wurde allerorten das Wort der Stunde. Neuen Lese- und Sehgewohnheiten wurden wir am besten gerecht, indem wir digitale Formate mit analogen Angeboten verschränkten. So wurden Stipendienaufenthalte mit Web-Residenzen kombiniert, Kooperationen eingegangen, etwa mit dem Kulturradio des RBB und dem Verlag Mikrotext, sowie Materialräume wie die Toledo-Übersetzerjournale geschaffen. Ich merke selbst, wieviel lieber ich einem Stream folge, wenn ich parallel etwas zu lesen, zu betrachten, zu kombinieren habe.
Huez: Wir hatten im Frühjahr eine Ausstellung mit dem Titel KEINE | ANGST vor der Angst. Diese Ausstellung haben wir online gestellt und erweitern können, das war eine der wenigen Möglichkeiten, zumindest ansatzweise Präsenz zu zeigen. Und ich kann nur zustimmen: Das Online-Angebot ersetzt keine Veranstaltung mit physischen Kontaktmöglichkeiten. Im Herbst wurde zudem deutlich, dass es eine Überfülle an Online-Angeboten gibt. Das hat sich auch in den Zugriffszahlen niedergeschlagen. Das Onlineformat funktioniert einfach anders als eine klassische Lesung. Wir müssen weiterhin neue Möglichkeiten ausprobieren und neue Formate entwickeln.
Wie sind die digitalen Angebote bei dem Publikum angekommen? Bei vielen Menschen hat sich ja inzwischen eine gewisse Zoom-Müdigkeit eingestellt.
Höllerer: Ja, besser man variiert und wird erfinderisch. Dass sich das Publikum Mal um Mal einen zweistündigen Stream anschaut, ist unrealistisch. Ist aber auch kein Problem, wenn man die Veranstaltungen vorher schon so konzipiert, dass das Publikum – was wir uns schon lange gewünscht haben – selbstbestimmter agieren und auswählen kann. Die hybriden Formate funktionieren besonders gut, wenn man sie als eine kollektive Erfahrung wahrnimmt und nicht mit dem Bildschirm allein gelassen wird. Die Literaturveranstaltung wird sich auf längere Sicht stark verändern, aber durchaus auch in eine Richtung, die uns attraktiv erscheint. Den Drang des Publikums, eine aktivere Rolle einzunehmen, spüren wir seit längerem. Vielfach hat sich erwiesen, dass die Literaturveranstaltung durchaus in der Lage ist, solchen Drang zu befriedigen.
Sie alle sind Teil des Netzwerks der Literaturhäuser. War der Austausch unter den deutschsprachigen Literaturhäusern in diesem Jahr intensiver?
Höllerer: Der Austausch findet immer statt, hat sich aber gerade in diesen Zeiten sehr bewährt. Oft ging es in diesem Jahr um ganz praktische Fragen: Soll man für Streams bezahlen? Wo gibt es Fördermöglichkeiten? Wie kann man gemeinsam versuchen, Autorinnen und Autoren Arbeitsaufträge zu geben, die auch das Publikum erreichen? Und auch was neue Formate angeht, haben wir uns an dem orientiert, was andere Häuser ausprobiert haben – und im Gegenzug unsere Erfahrungen weitergetragen.
Huez: Es hat trotz der Pandemie auch gemeinsame Projekte gegeben, bei denen das Netzwerk eine wichtige Rolle gespielt hat, zum Beispiel Zweiter Frühling – Bücher währen länger. Bücher erscheinen zwar immer in bestimmten Saisonen, die Titel des Frühjahrs sind aber im Herbst noch genauso spannend und lesenswert. Darauf wollten wir aufmerksam machen. Die Aktion war für unser Netzwerk sehr wichtig und wurde auch gemeinsam organisiert. Die Treffen bei den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt haben allerdings gefehlt. Für uns sind das zentrale Orte der Begegnung.
Höllerer: Unter dem Titel Mit Sprache handeln hatte das Netzwerk für Juni ein Festival im Verbund europäischer Literaturhäuser geplant, das verschoben werden musste, weil es nicht ansatzweise umsetzbar war. Die verstärkte europäische Vernetzung bleibt natürlich auf der Agenda und ist wichtiger denn je.
Die Kulturbranche hat im Sommer umfangreiche Hygienekonzepte entwickelt, damit Veranstaltungen wieder stattfinden konnten. Wie groß war die Enttäuschung, als die Literaturhäuser trotz aller getroffenen Vorkehrungen im Herbst erneut schließen mussten?
Eckert: Für uns war das sehr frustrierend, da ja schon im Sommer absehbar war, dass eine zweite Welle kommen würde. In der Schweiz wurde das auf die leichte Schulter genommen. Der Druck von Seiten der Wirtschaft ist zudem wahnsinnig groß. Trotz der katastrophalen Zahlen sind in Zürich die Restaurants und die Läden geöffnet, auch die Skigebiete sollen offen bleiben. Kulturelle Veranstaltungen werden hingegen verboten. Wir hatten für das Literaturhaus umfangreiche Hygienemaßnahmen vorbereitet. Dass mit ungleichen Ellen gemessen wird, ist für uns also sehr ärgerlich. Es herrscht ein totales Ungleichgewicht.
Huez: Ja, der Frust ist einfach enorm. Es gibt in Österreich keine einzige kulturelle Veranstaltung, wo auch nur eine Clusterbildung bekannt geworden wäre. Alle haben sich an die Auflagen gehalten, alle haben sich vorbereitet. Das Literaturhaus Wien hat die Teilnehmerzahl auf 50 Personen beschränkt. Zwei Monate lang hat das alles auch wunderbar funktioniert, die Leute haben sich angemeldet und Abstand gehalten. Es war ein sicherer Ort für Veranstaltungen und dann muss man feststellen: Es nützt alles nichts.
Höllerer: Die Sehnsucht des Publikums nach öffentlichen Räumen war sehr spürbar. Auch die digitalen Formate funktionierten besser, wenn sie das Haus, selbst wo es durch den Hygieneplan eingeschränkt war, mitbespielten. Der Charakter eines Abends hängt sehr davon ab, ob das Podium zu einem physisch anwesenden Publikum spricht oder in die Kamera. Fasziniert waren wir von der über die Welt verstreute Menge an Personen jenseits von Berlin, die sich für unser Programm interessieren. Für ein Haus wie das LCB, das sich an der Schnittstelle von hiesiger Literatur und internationalem Austausch bewegt, wird das auch über Corona hinaus eine wichtige Herausforderung bleiben. Entscheidend ist hier die Einbeziehung der internationalen Szenen in den Planungsprozess der Veranstaltungen. Besonders gut hat das jüngst bei einer Kooperation mit der Casa del Lago in Mexiko-Stadt funktioniert: Wie nie zuvor wurden die regen Diskussionen in den verschiedenen Chatrooms zum integralen Bestandteil des Projekts. Casa del Lago und LCB waren in einer computerspielartigen Animation zu einem Haus verschmolzen und frei zugänglich für gesprächsfreudige Avatare. Die übermütige Souveränität unserer mexikanischen Partner im Umgang mit digitalen Formaten war ansteckend und macht Lust auf mehr.
In allen drei Ländern gibt es Hilfspakete für die Kulturbranche. Reicht diese Unterstützung aus?
Eckert: Für das Literaturhaus Basel ist die Unterstützung ausreichend. Wir werden ja nicht nur staatlich unterstützt, sondern erhalten auch Geld aus anderen Töpfen. Ich denke aber, dass es für die Kulturbranche im Allgemeinen nicht reicht. Es hat sehr lange gedauert, bis Fördermittel überhaupt geflossen sind. Außerdem hat man völlig unterschätzt, was es für die Künstlerinnen und Künstler bedeutet, wenn alle Auftritte abgesagt werden. Zurzeit fließt Geld für alle möglichen Branchen. Im Kulturbereich muss da aber noch mehr passieren.
Huez: Das Literaturhaus Wien hat ein fixes Jahresbudget, insofern sind wir ebenfalls ganz gut durch diese Zeit gekommen. Für Autorinnen und Autoren war die Situation im Frühjahr aber kritisch. Die Bürokratie war nicht vorbereitet auf eine solche Situation. Das hat sich mittlerweile gebessert. Zurzeit bemühen sich in Österreich viele Instanzen darum, dass Künstlerinnen und Künstler halbwegs gut durch diese Zeit kommen
Höllerer: In Deutschland war der Wille der Politik, die Kultur nicht im Stich zu lassen, sehr spürbar, das war schon wirklich bemerkenswert. Aber ja, was glänzte, war dennoch nicht immer Gold. So konnten einige der neuen oder aufgestockten Förderfonds der Größe des Bedarfs nicht gerecht werden. Für diejenigen, die viel Mühe in ihre Anträge gesteckt haben, ist es natürlich nicht befriedigend, wenn nur gut 10% zum Zuge kommen.
Denken Sie, dass sich noch Spätfolgen einstellen werden? Viele Übersetzer und Übersetzerinnen haben zum Beispiel Angst davor, dass die Verlage im nächsten Jahr deutlich weniger neue Aufträge vergeben werden. Das betrifft auch Autoren und Autorinnen.
Höllerer: Es ist natürlich sinnvoll, die Hilfen so einzusetzen, dass sie den Betrieb nicht aus den Angeln heben, sondern ihn auf Dauer stärken. Es macht wenig Sinn, die Probleme nur für den Moment notzulöschen. Man muss weiterdenken und überlegen, wie die Literaturbranche mit all ihren Arbeitsexistenzen langfristig gestärkt werden kann.
Eckert: In den letzten Monaten ist vielen bewusst geworden, wie prekär die Lage wirklich ist. Einige Schweizer Verlage kommen ganz gut durch die Krise, vor allem wenn sie gerade ein, zwei Bestseller veröffentlicht haben. Auch die Buchhandlungen stehen in der Schweiz nicht schlecht da. Was mir eher Sorgen macht, sind beispielsweise die Zeitungen. Der Platz für Buchbesprechungen ist extrem geschrumpft.
Huez: Die Gefahr ist natürlich groß, dass gerade kleinere Verlage mittelfristig keine Existenzmöglichkeiten mehr haben. Das betrifft dann natürlich besonders die Übersetzerbranche, weil kleinere Verlage eher bereit sind, neue Wege zu gehen und andere Literatur zu präsentieren. Wenn das wegfällt, wird sich viel in der Literaturbranche verändern.
Welche Lehren ziehen Sie aus diesem Jahr? Und wie geht es 2021 weiter?
Höllerer: Man lernt, dass man sich Frust und panische Reaktionen erspart, wenn man sich beim Planen nicht allein auf eine Strategie verlässt. Im nächsten Jahr werden wir flexibler reagieren können, weil wir besser ausgestattet sind und der Aufwand, hybride Veranstaltungen durchzuführen, mit jedem Mal geringer wird. In jedem Fall ist es keine schlechte Idee, davon loszukommen, Programme fix zu machen, um danach darauf zu warten, dass ein Publikum sich dafür interessiert. Das Publikum von morgen wird mehr und mehr Teil des Prozesses der Veranstaltungsvorbereitung, sei es durch Kooperationspartner, langfristige Prozesse mit bestimmten Szenen, internationale Netzwerkbildung oder soziale Medien.
Huez: Von einem Tag auf den anderen kann sich alles ändern, unsere Tätigkeit, unsere Branche, unser Veranstaltungsbetrieb. Das war eine große Lehre für mich. Nach den Erfahrungen in diesem Jahr ist zudem klar: Digital ist nicht die Konkurrenz zu analog, sondern eine wunderbare Ergänzung, die unbedingt weiter ausgebaut werden muss und unglaublich viele Möglichkeiten bietet. Trotzdem ersetzt das Digitale nicht die klassische Wasserglaslesung. Dieser Gedanke ist sowohl tröstlich als auch spannend und macht mich neugierig auf das, was kommt.
Eckert: Ich gehe davon aus, dass wir bis zur Sommerpause primär digital arbeiten werden. Ich hoffe aber sehr, dass ab Herbst die Säle wieder brechend voll sind und wir wieder Leute aus dem Ausland einladen können. Das Zusammenkommen in der Gemeinschaft ist eine große Sehnsucht.