I.
Bücher, Texte, Gedichte – all das lese ich, als sei die Weltliteratur durch unsichtbare Fäden miteinander verbunden, die Motive und Themen über die Kontinente und Zeiten hinweg mehr oder minder lose vernetzt; als verwiesen die Poet*innen unentwegt aufeinander. All das – ein großer umfassender Text, an dem alle nicht aufhören wollen zu schreiben. Ein Langpoem, in dem sich kunstvoll und fein gearbeitet die Metaphern wiederholen und in Bögen Verweise schaffen. Referenzen schaffen. Die Welt als Buch, ja, die Lesbarkeit der Welt, um mit Friedrich Schlegel zu sprechen: das absolute Buch.
II.
Als im Oktober 2020 bekannt gegeben wurde, dass die US-Amerikanerin Louise Glück den Literaturnobelpreis erhält, überraschte das viele, auch mich. Die Lektüre ihres Bandes Wilde Iris verblüffte mich, sah ich immer wieder die Gedichte von Hilda Doolitte, die unter ihren Initialen H.D. berühmt wurde, hervorblicken – und ich realisierte, dass Ulrike Draesner von beiden Lyrikerinnen Gedichtbände übersetzt hatte. Ein Zufall? Draesner selbst ist Lyrikerin, Romanautorin und eine hervorragende Essayistin, in all diesen Rollen schätze ich sie seit Jahren – als Übersetzerin entdeckte ich sie für mich spät, doch dann umso mehr.
III.
Es gibt viele hervorragende Lyriker*innnen, die gleichzeitig sehr gute Übersetzer*innen sind. Ich denke an Mirko Bonné, Norbert Hummelt, Dagmara Kraus, Jan Wagner oder Uljana Wolf – um nur einige zu nennen. Und doch gilt: „Kaum etwas ist vertrackter als das Übersetzen von Gedichten“, wissen Jan Wagner und Jo Lendle in ihrer Akzente-Ausgabe „Nachdichten“ . Auch Ulrike Draesner ist in dieser Ausgabe vertreten. Ihre Arbeit als Übersetzerin beschreibt sie so:
Ich muss – verwandeln. Hier sind Übersetzen und Eigenegedichteschreiben einander verwandt. Eben dies ist Gedichteschreiben: Sprachdenken. Verbindungen erfinden, um die Ecke hören, in die Tiefe der Faltungen des Sprachkopfes und des Sprachgefühls tauchen.
IV.
Eine Übersetzerin ist immer auch gleich eine Entdeckerin, eine Vermittlerin in Sachen Literatur. Jemand, ohne die man den Texten in einer fremden Sprache gar nicht nicht erst begegnet wäre – und, je nach Sprache und Sprachvermögen, die Texte nicht oder schwerer hätte verstehen können. Und wenn ich eine Übersetzerin schätze, schaue ich auch sehr gezielt danach, wem sie sich noch angenommen hat – weil man die Art der Literatur schätzt, die sie auswählt oder die sie von den Verlagen angetragen bekommt – oder aber die Art, wie sie als Übersetzerin arbeitet, ihren Umgang mit Sprache.
V.
Schaut man sich die Gedichtbände Wilde Iris von Louise Glück und die beiden Bücher Sea Garden (übersetzt von Günter Plessow) und Hermetic Definition / Heimliche Deutung (übersetzt von Ulrike Draesner) von Hilda Dolittle an, so ergeben sich überraschende Verbindungslinien: Gedichte, die wie Gewächse aneinander hochwachsen, sich bedecken, sich aber nie gegenseitig das Licht nehmen. Es sind aber vor allem auch die Blumen, die sich durch beide Bände ziehen: die Rose, natürlich, aber auch die Waldlilie, das Leberblümchen, die Narzisse, die Kampferblume oder der Weißdorn. Ein ganzer Blumenstrauß.
VI.
Hilda Doolittle ist eine Autorin, die mich schon eine Weile fasziniert. Allgemein interessieren mich Lyrikerinnen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschrieben und publiziert haben: ihr Umgang mit der Avantgarde, ihr Bewegen innerhalb dieser Zirkel – lebensweltlich, aber eben auch die Antworten in ihren Texten auf die radikalen Brüche der Moderne. Mich interessieren die Möglichkeiten, wie sie sich als Autorinnen bewiesen haben und wie sie ihren Lebensunterhalt verdienten. H.D. hatte so ein bewegtes Leben: Sie wurde 1886 in den USA geboren, kam 1911 nach Europa. Für damalige Verhältnisse lebte sie in außergewöhnlichen Liebes- und Lebenspartnerschaften, ging zur Psychoanalyse bei Sigmund Freud nach Österreich und lebte lange in der Schweiz, wo sie 1961 starb. Louise Glück kam 1943 ebenfalls in den USA zur Welt. Ihre Geburtsjahre und die Lebensumstände trennen sie, was sie aber eint, ist ihre Auseinandersetzung mit antiker Literatur – und die eigene psychische Verfasstheit als Gegenstand ihrer Poesie.
VII.
Blumen lösen Kitschverdacht aus, als verlöre man sich in ihrer Idylle, ihrer reinen Anmut und Schönheit. Dabei lohnt ein Blick auf ihre Kulturgeschichte, ihre Bedeutungszusammenhänge – auch die in der Mythologie. In den Gedichten von H.D. und Louise Glück sind sie Teil eines Selbstverständnisses, eines Selbstausdrucks, ja, einer Selbstbehauptung. Denn diese Blumen agieren selbst – und sind mehr als Pflanzen, die gepflückt werden.
VIII.
Ulrike Draesner schreibt mir per Mail:
Glück gibt den Pflanzen in Wilde Iris Stimme. Sie braucht sie als Sprechende in einem Multilog zwischen einer göttlichen Instanz, den Menschen und der grünen Welt. Verhandelt werden Fragen des Werdens und Vergehens, der Weltlichkeit. In HDs Hermetic Definition stellen die Pflanzen eine Art Subtext im Liebesdiskurs da. Er wird in den Gedichten deutlich, aber allgemein und mit Referenzen auf Mythen geführt. Im ‚Leben‘ der Dichterin gab es aber, wenn den Quellen zu trauen ist, eine Verliebtheit in einen jungen Mann. Er stammte aus Australien. Und alle Pflanzen im Text stammen ebenfalls aus Australien. Das war teilweise sehr schwierig beim Übersetzen, weil es zwar englische, nicht aber deutsche Namen gibt. Die Pflanzen sind Teil der ‚hermetischen‘ Schrift, eine Kryptobotschaft.
IX.
Anfang des letzten Jahrhunderts war es die Autorin und Gerichtsreporterin Gabriele Tergit, die ihre Kulturgeschichte der Blumen schreibt: „Blumen werden zu allen freudigen und allen traurigen Ereignissen des Menschenlebens gebracht, an den Sarg, an das Kindbett, an das Krankenlager.“ Da aber sind die Blumen gepflückte Darbietungen, Geschenk, Ehrerbietung oder Liebesbeweis. Die Blume im Garten oder in der wilden Natur ist jedoch keine Schnittblume, ist dem Menschen noch nicht untertan. Dort wirkt sie wild, unerschrocken, im Landschaftsbild wie eine überraschende Geste und Gabe.
X.
Im Gedichtband Hermetic Definition von H.D. ist der Ausgangspunkt die Rose: „Ich bin alt (ich war alt, bis du kamst); die roteste Rose entfaltet sich“. Die Rose zieht sich durch diesen Band ganz klassisch als Blume der Liebe und als Metapher für ein Blühen, für ein Erblühen (durch eine späte Liebe) oder auch ein befürchtetes Verblühen des eigenen Körpers. Aber die Rose ist auch ein Ausgangspunkt für einen theoretischen Überbau: „Rosen galten einer Abstraktion; nun mit gleichem Feuer, mit Fieber, biete ich sie einer Wirklichkeit an“.
XI.
Die Rose ist in der experimentellen Literatur Anfang des 20. Jahrhunderts berühmt geworden – durch Gertrude Stein und ihren berühmten Vers: „A rose is a rose is a rose“ (aus ihrem Gedicht „Heilige Emily“, 1913). Barbara Köhler schreibt in ihrem Nachwort zu dem Band tender buttons von Gertrude Stein, den sie übersetzt hat, über den Zusammenhang vom Blühen, der Knospe und der Rose:
Eine art aufblühen vielleicht, das entfalten einer blüte, die aus vielen blättern besteht, die sich gleichen, um eine (später fruchtende) mitte herum zu wiederholen scheinen, jedoch in unterschiedlichster richtung und größe; die eine farbigkeit variieren, einen duft, ein aroma entfalten. Auf einem holzigen stiel mit dornen. Wörter, die bedeuten, ohne je eindeutig zu sein; sinn ergeben sie nur im plural: sinne. // Rosen.
XII.
Die Rose mit ihren Dornen gibt es. Aber welche Blumen entspringen der reinen Phantasie der Dichterinnen? Ulrike Draesner schreibt per Mail:
Bei HD musste ich manche Pflanzennamen erfinden, da es nur den botanischen, also lateinischen Begriff gab – und der hätte in keiner Weise in die Gedichte gepasst. Ich habe nach Aussehen oder anderen sinnlichen Aspekten erfunden – oder die englische Metaphorik nachgeahmt. Bei ‘the red poppy’ in Glücks Averno fällt auf, dass dem Pflanzennamen ‚red‘ beigegeben wird. Das wäre nicht nötig und unterbleibt bei anderen Namen. Ich habe das Wort mit ‚blutrot‘ übersetzt, um eine Bedeutungsebene zu stärken, die im Original mitschwingt. Hört man ‚red poppy‘, denkt man (auch) an die Mohnblüten aus Papier, die im englischsprachigen Raum im Herbst verkauft werden und ans Revers gesteckt. Man unterstützt mit ihnen ‚the armed forces‘. Zurückgeht der Mohn auf die Schlachtfelder von Verdun im 1. Weltkrieg. Dieser kulturelle Hintergrund gibt dem Gedicht eine spezifische Wendung und reicht in die Übersetzung einzelner Wörter, wie etwa des Endes, hinein.
XIII.
Sexuell konnotiert kann man Blumen auch ansehen. Sinnlich sind die Gedichte von H.D.: „ich berühre seinen Kopf und seine Kehle“. A rose is a rose – oder doch: eros is eros? Die Körperlichkeit in der Liebe spüren wir bei H.D. – aber wir spüren auch eine Körperlichkeit des Gedichts: „Ein Schreiben ohne Körper gibt es nicht“, schreibt Swantje Lichtenstein in Bezug auf Gertrude Stein und ihr performatives Schreiben. Und auch Ulrike Draesner definiert ihre Poetologie körperlich: „Als Rhythmus, Bild und Wort ist das Gedicht der Extrakt eines körperlichen Zustandes. Zugestehen lassen, was die Sprache dem Körper zugesteht. Ihm zustellt. Die Post zwischen Sprache und Körper.“ Gedichte sind Weiterwachsungen des Körpers; Liebe wächst, Blumen wachsen – nicht nur im Garten, sie wachsen durch das Gedicht und in einen hinein.
XIV.
Bei Lyrikübersetzungen sind zweisprachige Ausgaben ein Glücksfall – da kann man den publizierenden Verlagen nicht genug danken. Den Übersetzungsprozess als Leserin nachvollziehen zu können, die Anklänge und die Bedeutungsspektren des Originals vor Augen zu haben – das ist gerade in der Lyrik unerlässlich. Natürlich macht das die Ausgabe umfangreicher und damit teurer in der Herstellung. Aber ohne Original wirken die Gedichte auf mich oft einsam, ohne Echo. Es gibt herausragende Ausgaben – beispielsweise Les Murrays Epos Fredy Neptune, übersetzt von Thomas Eichhorn. Und dann gibt es Bücher, wo man das Original schmerzlich vermisst: wie bei Anne Carsons Versepos Rot (Übersetzung: Anja Utler).
XV.
Die Blumen und die Psychoanalyse, das Interesse daran eint Louise Glück und Hilda Doolittle. In Ulrike Draesners Essay „Atem, Puls, Bahn“ aus dem Jahr 2003 kommen im „Lacanschen Blumenbild“ alle Zusammenhänge in eins – ich ende mit diesem langen Zitat:
Man stelle sich einen an einer Seite offenen, hochkant aufgestellten Kasten vor, die offene Seite weggedreht. Auf dem Kasten steht eine Vase; unter das Brett, auf dem sie steht, kann man nicht sehen. Man weiß aber, daß an seiner Unterseite Blumen hängen, kopfüber, mit den Stengeln am Brett festgeklebt. Woher man das weiß, wenn man es nicht sieht, ist eine gute Frage. Die Antwort ist noch besser. Es gibt ein Auge in dieser Experimentkonstellation. Es sieht die Blumen in der Vase stehen, denn tatsächlich ist außer Vase, Kasten, Blumen und Auge auch noch ein Spiegel vorhanden. Er wurde so vor der offenen Seite des Kastens aufgestellt, daß das von schräg oben schauende Auge in die ‚real‘ nach unten hängenden Blumen in die Vase hineingespiegelt sieht. Dieser Spiegel ist, so Lacan, der Kortex des Betrachters. Spiegel und Kasten, also Gehirn und Körper, befinden sich in einer festgelegten Relation zueinander. Ich bin das Auge und sehe das Spiegelbild. Es zeigt mir: Die Blumen stehen in der Vase. Ihre Stengel sehe ich nicht. In Lacans Beispiel heißt dies: Die Konditionierung meines Sehens, die über Sprache vermittelt ist, kann ich nicht verlassen. Der Zustand des Körpers vor dem Sprechen bleibt für mich auf immer unsichtbar. Das Gedicht versucht das Unmögliche: dennoch zu den Stengeln zu schauen.
Als schlösse sich hier ein poetologischer wie floraler Kreis.
XVI.
Überall hängen sie, die Spinnweben, die losen Fäden, in denen ich mich glücklich verfange oder deren Enden ich folge oder ankomme in der Welt als Buch und dem Buch als Welt. Auch Dank der Übersetzungen, die aus dem Spinnennetz ein Sprachenvielfältiges machen können.