Ein Meisterwerk der Übersetzungskunst ist für mich ganz klar Die Reise in den Westen / 西游记 (Xi youji) von Wu Cheng’en 吴承恩 aus dem 16. Jahrhundert, übersetzt von Eva Lüdi Kong. Es ist ein legendäres Werk, das neben dem Roman Der Traum der roten Kammer 红楼梦 aus dem 18. Jahrhundert zu den vier klassischen Romanen der antiken chinesischen Literatur gehört. Sein Autor – ein Dichter und Gelehrter, der zeitlebens zurückgezogen als Eremit lebte – ist Vertreter des Genres „Shenmo / 神魔小说“ (Götter- und Geisterroman), einer populären literarischen Gattung, die vor allem in der Epoche der Ming-Dynastie florierte. Damals spielte die daoistische und buddhistische Religion im Alltag und am Hof des chinesischen Kaisers eine große Rolle. Mit zauberhaften Charakteren aus der Mythologie wie Drachen, Tiergeistern, Buddhas und einem Affenkönig als Hauptprotagonist, der mit Leichtigkeit zwischen Himmel und Erde hin und her fliegt, würde Die Reise in den Westen heutzutage wohl als Fantasyroman durchgehen.
Der Roman wurde bereits mehrfach ins Deutsche übersetzt, so auch von Richard Wilhelm, der für die Übersetzung des I‑Ging („Das Buch der Wandlungen“) bekannt ist: ein über 4000 Jahre altes Orakel, welches auf wundersame Weise mit seinen 64 Hexagrammen alle Erscheinungen der Welt interpretieren und voraussagen kann. Die Schweizer Sinologin und Kulturmittlerin Eva Lüdi Kong ist allerdings die Einzige, die Die Reise in den Westen in seiner Vollständigkeit übersetzt hat.
In Shanghai geboren und im Ruhrgebiet aufgewachsen, wandere ich wie die Übersetzerin gerne zwischen verschiedenen Kulturen und Sprachen, wobei mein Medium mehr das (Schrift-)Bild ist. Da ich im Grundschulalter nach Deutschland kam, bin ich des klassischen Chinesisch aus dem 16. Jahrhundert, das extrem verdichtet und hochpoetisch ist, leider nicht mächtig. Umso dankbarer bin ich Eva Lüdi Kong dafür, dass sie dieses wertvolle Kulturgut aus meiner Heimat in den deutschen Sprachraum gebracht hat. Ich selbst kenne Eva Lüdi Kong nur indirekt. Wir waren beide an Bord des Design-Forschungsprojekts „Koexistenz der Zeichen“ vom design2context Institut Zürich, in dem es um das Ausloten multilingualer Typografie, und in diesem speziellen Fall um das Nebeneinander von chinesischen und lateinischen Schriftzeichen und Grafiken ging. Frau Lüdi Kong übernahm als Expertin für klassische chinesische Literatur einen wichtigen Part.
Die Reise in den Westen ist aber keineswegs nur für China-Kenner oder Sinologen interessant, sondern stellt ein Stück Weltliteratur dar. Es handelt sich bei dem Text um eine klassische Odyssee: Der Mönch 唐僧 Tang Seng, auch 三藏 Triptitaka genannt, macht sich auf den Weg, die heiligen Sutren des Buddhismus aus dem Westen zu holen – dem heutigen Indien (von China aus gesehen). Begleitet wird er von drei mythischen Wesen: dem Eber Zhu Bajie 猪八戒, dem Wasserdämon Sha Wujing 沙悟淨 und dem bekannten Affenkönig Sun Wukong 孙悟空. Das Motiv der Reise bietet diesem ungewöhnlichen Quartett viele Entwicklungsmöglichkeiten: Gemeinsam wachsen sie auf der Suche nach Unsterblichkeit und Wahrheit an ihren Abenteuern.
Das Buch ist fantastische Unterhaltung für Groß und Klein. Star der Reise ist der Affenkönig Sun Wukong: als Zauberkünstler fliegt er durch die Lüfte und überwindet Zeit und Raum. Er kann sich grenzenlos verwandeln und stellt am Anfang der Geschichte allerlei Unfug an: So treibt er sein Unwesen im Himmel und verärgert die dortigen Götter. Zur Strafe wird er unter einem Berg festgehalten, bis ihn der Mönch Tang Seng nach 500 Jahren befreit. Danach stellt Wukong seine Zauberkäfte und Tricks der Mission zur Verfügung und wird zum treuen Gehilfen Tang Sengs. Er und seine Kumpanen beschützen den Mönch auf dem Weg nach Indien vor Angriffen durch Ungeheuer, Dämonen und Tiergeister.
Der Text ist lebendig und packend geschrieben. Beim Lesen kommen bei mir Erinnerungen an die Kultfernsehserie „Journey to the West“ aus den 80er Jahren hoch, die meine Kindheit in Shanghai prägte. Die mit unheimlich kitschigen Special-Effects durchzogene Fernsehserie orientiert sich an der Originalhandlung des Buches. Die Abenteuer des Quartetts bieten seit Jahrhunderten bildgewaltigen Stoff und sind ein wichtiger Bestandteil der Popkultur. Alle sind auf den Affen gekommen: Von der traditionellen Peking Oper über Mangaserien wie Dragonball, Computerspiele bis hin zum Legospiel „Monkie Kid“. Ein großartiger Zeichentrickfilm aus den 60er Jahren ist „Der König der Affen 大闹天空“ vom legendären Shanghai Animation Film Studio. In China konnte der Film erst nach der Kulturrevolution rezipiert werden, mittlerweile feiert er Kultstatus. Der Stil und die Musik des Films sind von der opulenten Ästhetik der Peking-Oper mit ihren bunten Masken und Gewändern geprägt. Weil ich Die Reise in den Westen in erster Linie aus nostalgischen Adaptionen kenne, tut es gut, nun die Originalfassung, die seit Jahrhunderten eine Inspirationsquelle für audiovisuelle Künstler*innen ist, auf Deutsch zu lesen.
Was ist das Erfolgsgeheimnis dieses uralten Stoffes? Auf philosophisch-spiritueller Ebene wird die Reise durch buddhistische und daoistische Belehrungen in Form von Gedichten begleitet, die Lüdi Kong mit Bravour zum Reimen bringt. Ein bekannte Weisheit in Gedichtform stammt von Meister Subhuti, einem daoistisch-buddhistischen Lehrer. Als der Affenkönig ihn fragt, wie man Unsterblichkeit erlangt, erhält er die folgende Antwort:
都来总是精气神,
谨固牢藏休漏泄。
休漏泄,
体中藏,
汝受吾传道自昌。Worauf es ankommt, ist letztendlich
Nur die Essenz, die Energie, der Geist,
Behüt sie gut, verbirg sie gründlich,
Siehe zu, dass nichts davon zerfließt
(…)
Präge den geheimen Spruch dir ein,
Denn er wird viel Nutzen bringen;
Halte dich von den Begierden fern,
Klare Ruhe wirst Du so gewinnen,
Zieht klare Ruhe ein,
Leuchtet das Licht rein!
Dann begebe dich zum Elixierpodest,
Wo den Vollmond du erblicken wirst.
Hilfreich sind bei der Lektüre die vielen Fußnoten, die die entscheidenden Begriffe als Hanzi (chinesische Zeichen) übersetzen. Die Wortbedeutungen entfalten ihre wahre Kraft erst durch die bildhaften Zeichen. Beim Lesen des deutschen Textes freue ich mich immer wieder, an den entscheidenden Stellen auf die passenden chinesischen Zeichen und Begriffe zu treffen, die mir als kleine kulturelle Anker Vertrautheit geben, und die visuelle Poesie der archaischen Symbolwelt widerspiegeln. Die Begriffe aus der 2. Zeile des Gedichts – Essenz 精 (jing), Energie 气 (Qi) und Geist 神 (Sheng) gehören beispielsweise zu den „wichtigen Zeichen“. Sie stellen fundamentale Grundkonzepte menschlicher Existenz und geistiger Fähigkeiten dar und sind so vielleicht vergleichbar mit dem Dreifaltigkeitsbegriff aus dem Christentum. Das Zeichen für Qi 气, auch bekannt aus dem Wort Qi-Gong, bestand in seiner ursprünglichen Form aus drei gewellten Strichen, was passenderweise mit aufsteigender Luft assoziiert werden kann.
Das Zeichen für Geist – Sheng 神 hingegen besteht auf seiner linken Seite aus dem Teilelement (auch Radikal genannt) für Ritual und auf der rechten Seite aus dem Symbol für Blitz. Da denke ich direkt an das Wort „Geistesblitz“ im Deutschen. Manchmal sind sich die Kulturen und (Bild-)Sprachen doch näher als man denkt. Ein anderes wichtiges Zeichen, welches im Gedicht in der Fußnote dechiffriert wird, ist der Vollmond 明月 (Ming Yue). Das erste Zeichen Ming 明 bedeutet Klarheit und es besteht aus den Elementen Sonne 日 (Ri) auf der linken Seite und Mond (Yue) 月 auf der rechten Seite. Gleichzeitig steht es für die daoistische Vervollkommnung von der Vereinigung von Yin- (symbolisiert durch den Mond) und Yang-Element (durch die Sonne).
Auf psychosozialer Ebene agieren die Dämonen und Geister. Sie können als Monster und böse Kreaturen, die allerdings der reinen Phantasie entspringen, erlebt werden. Tiefenpsychologisch betrachtet sind es die verdrängten, ungeliebten Charaktereigenschaften, die in jedem von uns schlummern und die wir gerne fernhalten wollen oder in anderen verfluchen. Im Buddhismus sind es die weltlichen Anhaftungen, die den klaren Geist trüben und Hindernisse, die es auf dem Weg zur Erleuchtung durch Praxis und Zuwendung zu überwinden gilt.
Der Roman wird am Schluss durch ein Nachwort bereichert, welches den Leserinnen und Lesern einen Überblick über die chinesische Kosmologie verschafft: Hier durchforstet Eva Lüdi Kong die Grundlagen buddhistischer und daoistischer Lehre. Vom I‑Ging über das chinesische Kalendersystem (welches viel komplexer ist als die bekannten 12 Tiere des chinesischen Horoskops), die fünf Elementenlehre, die chinesische Numerologie bis hin zur buddhistischen Symbolik – zwischendurch tauchen immer wieder grafische Abbildungen zur Veranschaulichung auf. Es hat mich nicht gewundert, dass Eva Lüdi Kong in China neben Sinologie auch Grafik und Kalligrafie studiert hat, da der bildhafte Bezug zur chinesischen Sprache sich als Leitmotiv in ihren Texten wiederfindet. Das Buch hat insgesamt 1320 Seiten. Für Eva Lüdi Kong, die insgesamt 17 Jahre (!) für die Übersetzung und Interpretation dieses Werks gebraucht hat, muss dies ihre persönliche „Reise in den Osten“, in die historische und mythologische Vergangenheit Chinas gewesen sein. Kein Wunder, dass diese Mammutaufgabe mit dem Preis der Leipziger Buchmesse für die beste Übersetzung geehrt wurde.
Das dicke gelbe Buch des Reclam-Verlags hat auch bibliophile Qualitäten. Neben dem fein gesetzten Satzspiegel ist es gleichzeitig ein Kunstbuch, denn es enthält Holzschnittdrucke aus dem 19. Jahrhundert, die durch ihren schlichten und minimalistischen Stil der Geschichte lebendigen Ausdruck verleihen und gleichzeitig viel Raum für die Vorstellungskraft lassen. Was mein Buchgestalterinnnenherz höher schlagen lässt, ist das gelbe Buchcover, welches keinen Schmutztitel enthält, sondern eine transparente Banderole mit dem Titel. Natürlich passend bilingual gesetzt. Es ist ein stilvoller gelber Brocken, der mit der Zeit durch das langwierige Schmökern an Patina gewinnt. Daher ist das Buch auch in seiner ästhetischen Dimension ein Meisterwerk.
Ich persönlich hoffe, dass Lüdi Kongs Übersetzung – in einer Zeit, in der die Vorurteile und das Misstrauen gegenüber der angehenden Großmacht China sich häufen und die politischen Fronten sich verdichten – dazu beiträgt, dass sich mehr Menschen aus dem Westen auf eine literarische „Reise in den Osten“ wagen. Vielleicht kann die Zauberkunst Wukongs den „Dämon der gelben Gefahr“, der in Europa mancherorts schlummert, durch seinen Humor und seine Klugheit in den „Geist der Offenheit und Neugierde“ verwandeln?
Geboren in Shanghai, wuchs Yi Meng Wu 吴祎萌 in China und Deutschland auf. Sie studierte Visuelle Kommunikation an der Universität Duisburg-Essen (Folkwang Hochschule), der École nationale supérieure des Arts décoratifs Paris und der Universität der Künste Berlin. In ihrem Berliner Designatelier „Studio Wu 無“ (Wu = die Leere) zeichnet, bastelt, schreibt und denkt sie mit analogen und digitalen Mitteln zum Thema interkulturelle Gestaltung. Von ihr gestaltete und verfasste Buchprojekte wurden vielfach ausgezeichnet: u. a. mit dem German Design Award, den „Schönsten Büchern Deutschlands“ sowie „Most beautiful books of China“. Neben der kreativen Arbeit im Studio gibt sie Workshops an Hochschulen in China und Deutschland zum Thema multilinguale Gestaltung, Illustration und Buchdesign.
Wu Cheng’en/Eva Lüdi Kong: Die Reise in den Westen. (Im chinesischen Original: 西游记 Xiyouji.)
Reclam 2017 ⋅ 1320 Seiten ⋅ 88 Euro
www.reclam.de/detail/978–3‑15–010879‑6/Die_Reise_in_den_Westen
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