Wo und wie haben Sie Jiddisch gelernt?
Im Frühjahr 1980 wurde ich von Max Majer Sprecher, einem Überlebenden von Sachsenhausen, Auschwitz und Dachau, in die Sprache eingeführt. Er bot an der Universität Heidelberg einen Jiddisch-Kurs für Germanisten an. Herr Sprecher starb im Juni und ich ließ den Faden wieder fallen.
Im Herbst 1982 studierte ich jiddische Lyrik bei Milton Hindus an der Brandeis University. Doch erst 1987, an der Harvard University, traf ich in der jüdischen Studentenorganisation Hillel auf eine Gruppe junger Leute, deren Eltern zu Hause Jiddisch gesprochen hatten. Sie selbst hatten sich meist den Zwängen der kulturellen Anpassung gebeugt und Englisch vorgezogen. Sie trafen sich nun einmal in der Woche, um jiddische Literatur zu lesen und darüber zu sprechen. Es waren immer auch jiddische Muttersprachler anwesend. Der Kreis wurde vom Studenten-Rabbiner Ben-Zion Gold geleitet, der im Ghetto von Radom interniert gewesen war. Er schenkte mir, weil ich deutsche Dokumente für ihn ins Englische übersetzte, komplette Ausgaben der jiddischen Erzähler Scholem Alejchem und Isaak Leib Perez. Ich habe dann sehr viel gelesen, zuerst mit Wörterbuch. Als im Internet immer mehr Videos in jiddischer Sprache zugänglich wurden, habe ich auch viel gehört: akademische Vorträge, Interviews, Predigten, Talmud-Interpretationen. Während der COVID-19-Pandemie hatte ich über Zoom endlich die Möglichkeit, beim besten Jiddisch-Lehrer der Welt, Yitskhok Niborski, in Paris zu studieren. Da Jiddisch so ungemein vielfältig ist und das Vokabular sehr stark von der kulturellen Nische bestimmt wird, in der ein Lehrer, Schriftsteller, Rabbi oder Aktivist lebt, lerne ich ständig hinzu.
Was ist Jiddisch?
Jiddisch war die Sprache der aschkenasischen Juden. Aschkenas war seit dem 11. Jahrhundert die rabbinische Bezeichnung für Deutschland. Der Sprachwissenschaftler Max Weinreich vertrat die These, Jiddisch sei im Rhein-Mosel-Gebiet entstanden und mit den Juden stetig Richtung Osten gewandert. Heute sieht man die Anfänge des Jiddischen eher im bairisch-böhmischen Raum. Die Grundstrukturen des Jiddischen sind dem Deutschen nah verwandt; doch gibt es grammatische Elemente aus slawischen Sprachen und dem Hebräischen. Wie das Englische und Deutsche absorbierte auch das Jiddische unzählige Wörter aus anderen Sprachen. Da Juden schon im 10. Jahrhundert in ganz Europa, von Metz bis Kiew, als Händler aktiv waren und im Mittelalter gerade um Bischofssitze wie Speyer, Worms, Mainz, Köln und schließlich Augsburg, Regensburg und Prag jüdische Gemeinden entstanden, kann man sich durchaus vorstellen, dass Varianten des Deutschen über große Distanzen hinweg als lingua franca dienten. Entscheidend ist das 18. Jahrhundert, in dem die westjiddische Variante nahezu völlig verschwand, weil die Juden, wie Moses Mendelssohn ihnen ans Herz legte, zum Deutschen wechselten, während die ostjiddische Variante erblühte, weil die Juden in Polen und im Russischen Reich politisch isoliert in ihrer eigenen kulturellen Enklave leben mussten.
Vor dem Ersten Weltkrieg gab es etwa elf Millionen Jiddisch-Sprecher; im Jahr 1996 wurde die Zahl auf zwei Millionen geschätzt. Im Jahr 2020 sind es etwa eine Million. Die größten Sprechergruppen sind die Chassidim und Ultraorthodoxen, die sich aus traditionellen Gründen einer Variante des Jiddischen bedienen. In Nordamerika und Israel (aber zum Beispiel auch in Buenos Aires) gibt es außerdem eine aktive Kulturszene für junge Leute (Theater, Film, Ferienlager, Musik).
Wie sieht die jiddische Literaturszene aus?
Es gibt noch immer jiddische Schriftsteller. Zu den interessantesten gehört der 1951 in der Ukraine geborene Michael Felsenbaum, der in Israel lebt. Doch die letzte große Phase der jiddischen Literatur, das silberne Zeitalter der Erinnerung und Restauration nach 1945, ging 2010 mit dem Tod des noch im Wilnaer Ghetto inhaftierten großen Dichters Abraham Sutzkever zu Ende. Die jiddische Literaturszene ist also im Wesentlichen ein Phänomen der Vergangenheit. Erstmals gedruckt wurde Jiddisch im 16. Jahrhundert (in Prag 1526, in Isny 1541, in Augsburg 1543, in Venedig 1545). Zwischen 1865 und 1941 entstanden tausende von Werken und es begann auch ihre literaturwissenschaftliche Erfassung. Der Holocaust und Stalins Verfolgung der Juden und die Unterdrückung ihrer Kultur machten all das zunichte.
Wir stehen noch heute vor einem riesigen Scherbenhaufen, aus dem Literaturwissenschaftler und Übersetzer hier und da einzelne Werke und Autoren herausziehen. Doch einen Überblick über das gesamte literarische Schaffen, wie er uns für andere europäische Literaturen in Literaturgeschichten vorliegt, haben wir uns noch nicht erarbeitet. Es gibt keine Werk- und Klassiker-Ausgaben, Briefausgaben, Biographien, umfassende Anthologien und dergleichen, die die Literatur bündeln und zugänglich machten. Auch das ist eine Spätfolge der Auslöschung der europäischen Juden, unter denen eben auch die jüdischen Literaturwissenschaftler waren. Trotzdem kann man anfangen zu lesen, denn es liegen einige Übersetzungen ins Deutsche vor (zum Teil noch aus der Zeit der Weimarer Republik) und wer Jiddisch lesen kann, dem stehen in der digitalen Bibliothek des Yiddish Book Center in Amherst, Massachusetts fast zwölftausend Titel zur Verfügung.
Was sollte man unbedingt gelesen haben?
Natürlich die Klassiker: Scholem Jankew Abramowitsch (das Pseudonym von Mendele Moicher Sforim), Die Reisen Benjamins des Dritten; Scholem Alejchem, Eisenbahngeschichten; Der Nister, Die Familie Maschber; Israel Joshua Singer, Die Brüder Aschkenasi; Chaim Grade, Von Frauen und Rabbinern; Isaac Bashevis Singer, Die Familie Moschkat und Schatten über dem Hudson; Mordechai Strigler, Majdanek; Abraham Sutzkevers Lyrik und sein Buch Wilner Ghetto, 1941–1944; die Tagebücher von Herman Kruk über sein Leben im Ghetto von Wilna, die bislang leider nur in einer englischen Übersetzung vorliegen.
Was ist noch nicht übersetzt?
Nur etwa 5% der jiddischen Literatur sind bisher in irgendeine andere Sprache übersetzt worden. Zu den dringendsten Desiderata gehören: Leib Kvitkos episches Gedicht 1919; Jacob Glasteins Lyrik und seine Romane Ven yash iz geforn und Ven yash iz gekumen (über seine Reise nach Deutschland und Polen, 1938 und 1940); Hillel Seidmans Togbukh fun varshever geto (1947), Leib Rochmans, Der mabl (Die Flut: Erzählungen, 1978), Chaim Grades umfangreicher Roman Die Jeschiwa (1967/68) und die lapidar-brutalen Erzählungen des genialen, unsteten, aufgewühlten Lamed Shapiro, der 1948 als Quasi-Obdachloser in einer Garage in Los Angeles starb. Mit den Übersetzungen von Grade und Shapiro habe ich inzwischen angefangen, weil die beiden Autoren auf sehr gegensätzliche Weise vorführen, was moderne jiddische Literatur hätte sein können.
Was sind die größten Schwierigkeiten beim Übersetzen aus dem Jiddischen?
Jeder Autor präsentiert Schwierigkeiten besonderer Art. Bei Isaac Bashevis Singer ist es das raffinierte polnisch-jiddische Vokabular, das man in keinem Wörterbuch nachschlagen kann. Oft sind es vulgäre Ausdrücke aus der Umgangssprache, die er in exquisite Sätze einbaut. Autoren wie Abramowitsch, dessen Werke in der Mitte des 19. Jahrhunderts angesiedelt sind, beschreiben die Lebenswelt der traditionellen Juden, die einem heute fremd ist. Ich konnte mir lange nicht vorstellen, was ein Tscholentbrett war. In solchen Fällen muss man überall herumfragen. Für Übersetzer aus dem Jiddischen ist es wichtig, sehr viele Leute zu kennen. Ein Freund, dessen orthodoxe Eltern die Konzentrationslager überlebten, sagte mir schließlich, seine Mutter hätte ein Tscholentbrett gehabt. Mit einem großen Holzbrett deckte sie an Schabbat den Eintopf (Tscholent) zu und stellte auf das Brett noch einen weiteren Topf, damit er von der Wärme etwas abbekomme.
Bei Chaim Grade ist die größte Schwierigkeit, dass er erzählt, als stäke er in seinen Charakteren. Darum stehen lange Passagen in indirekter Rede, was im Deutschen tödlich ist. Der amerikanische Übersetzer hat direkte Rede daraus gemacht. Aber das verfälscht Grades subtile Charakterzeichnung, denn er zeigt mithilfe der indirekten Rede sowohl, wie einer seine Rede dreht, um eine bestimmte Wirkung zu erreichen, als auch, wie diese Rede aufgefasst wird. Es geht Grade nicht um die Fakten des Gesagten, sondern um das psychologische Machtspiel, das fast jedem Gespräch unterliegt.
Wie gehen Sie mit diesen Schwierigkeiten um?
Im Fall der indirekten Rede bei Grade muss man halt sehr präzise arbeiten. Das gilt auch für die komplexe Erzählperspektive in den Romanen und Erzählungen David Bergelsons, des subtilsten der modernen jiddischen Erzähler. Doch die klassische Schwierigkeit beim Übersetzen aus dem Jiddischen sind die vielen Hebraismen, das kulturspezifische Vokabular und die vielen, oft witzig verdrehten Zitate aus Bibel und Talmud, deren Original früher jeder kannte. Soll man das alles eindeutschen? Also statt Beit Midrasch Lehrhaus, statt Amida Achtzehnbitten-Gebet, statt Kaschrut Speisevorschriften, statt Hawdala Unterscheidungszeremonie (zwischen Schabbat und Wochentag), statt Jeschiwe-Bocher Talmudstudent, statt Challah Zopf oder Schaubrot? Wenn ein aramäischer Satz aus der Gemara zitiert wird, folgt gewöhnlich die kommentierende Übersetzung ins Jiddische, die oft auf das Gegenteil des zitierten Satzes hinausläuft. Man kommt nicht umhin, den Lesern ein Glossar zu bieten und oft auch Anmerkungen mit den im Text zitierten Quellen.
Bei Abramowitsch kommt noch hinzu, dass seine Charaktere mit ukrainischen Bauern, die sie fürchten, in einem wahnsinnig komischen jiddisierten Ukrainisch sprechen. Ich bin sonst immer dafür, alles zu übersetzen, aber in meiner Übersetzung der Reisen Benjamins des Dritten habe ich den Versuch der beiden Protagonisten Benjamin und Senderl, sich mit den Bauern zu verständigen, nur als Transkription im Text stehen lassen und die Übersetzung in einer Fußnote angeboten, weil man Abramowitschs geniale Sprachvermischung im Deutschen nicht wiedergeben kann.
Was kann Jiddisch, was Deutsch nicht kann?
Jiddisch kann durch ganz natürlich wirkende Zitate aus Bibel und Talmud die antike Welt in die Gegenwart der literarischen Helden holen und sie, die modernen Helden, moralisch in Frage stellten. Jiddisch hat ein ungemein reiches Vokabular für alle Varianten von kochender Wut, rauchendem Zorn, giftigem Verdruss. Es verfügt über eine große Bandbreite von Verwünschungen aus dem Küchenmilieu. Es kann Frauen die Macht monologischer Rede geben, die absolut natürlich klingt und doch genial konstruiert ist, wie etwa in Scholem Aleichems kurzem Werk, Dos tepl (Der Topf). Es kann auf herzzerreißende und dabei ganz unpathetische Weise Trauer und Liebe ausdrücken. Und es kann den Wind im Laub der Bäumen rauschen lassen, so dass man ihn in den Worten hört.
Susanne Klingenstein, geboren in Baden-Baden, studierte Germanistik, Geschichte und Anglistik an den Universitäten Mannheim, Heidelberg, Brandeis und Harvard und wurde 1991 in Amerikanistik promoviert. Sie lehrte Literatur in Harvard, Schreiben am Massachusetts Institute of Technology und humanistisches Denken an der Harvard Medical School. Seit 2015 ist sie freischaffende Literaturhistorikerin, schreibt für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, übersetzt literarische Werke aus dem Jiddischen und arbeitet an einer Kulturgeschichte der jiddischen Literatur (Suhrkamp).