Auch beim Cover scheint man sich abgesprochen zu haben. Rot und blau sind Orwells Farben.
Auch 72 Jahre nach Erscheinen heißt es immer wieder: kein Buch sei heuteaktueller, kein Buch fange unsere moderne Realität eher ein als George Orwells 1984. Bevor das Jahr 1984 tatsächlich eintrat, zeigte der Roman eine Welt, die erst noch kommen würde. Jetzt lesen wir das Buch vor dem Hintergrund, dass viele Elemente aus Orwells dystopischem Klassiker bereits Teil unseres Alltags sind – die Kameras, die riesigen Bildschirme, die Überwachung. Und auch die politischen Schlagworte sind heute andere als noch vor fünfzig Jahren: Las man das Buch damals als eindeutige Kritik an der Sowjetunion, geht es in heutigen Besprechungen des Romans vor allem um China, Russland oder Trump, der dem Buch mit seinem Amtsantritt zurück auf die amerikanischen Bestsellerlisten verhalf.
Während noch vor Jahren die permanente Überwachung und die Beschreibungen modernster Technik für Aufsehen sorgten (technisch sind wir inzwischen bereits viel weiter), ist es nun die Manipulation von gängigen Tatsachen, die in Zeiten von Fake News und Cancel Culture bei der Lektüre am meisten verstören. Winston Smith, der Held in Orwells Dystopie, arbeitet im Ministerium der Wahrheit, wo er Texte von unbequemen Fakten bereinigt und so die Geschichte im Sinne der Partei anpasst. Smith selbst aber ist ein Wahrheitssuchender, der an der Realität zweifelt: Befindet er sich überhaupt im Jahr 1984? Wie ist der Staat Ozeanien, zu dem das ehemalige Großbritannien zählt, entstanden? Und gibt es tatsächlich eine Gruppe, die Widerstand leistet?
Im vergangenen Jahr war der 70. Todestag George Orwells, der seinen letzten Roman schwerkrank fertigstellte und 1949 veröffentlichte. Mit dem Jubiläum erloschen hierzulande die Übersetzungsrechte an 1984, die bis dato beim Ullstein Verlag lagen. Dieser verlegte zunächst eine Übersetzung von Kurt Wagenseil von 1950 und ließ das Buch dann passenderweise im Jahr 1984 von Michael Walter neu übersetzen. Bis vor Kurzem war dies also die gängige Übersetzung, die auf dem deutschen Markt kursierte.
Da man sich im deutschsprachigen Raum wohl absolut sicher ist, dass 1984 auch in den kommenden Jahren auf den Bestsellerlisten erscheinen wird, haben viele Verlage das Buch neu übersetzen lassen, um eine eigene Ausgabe herauszubringen. Mit „viele“ sind jedoch nicht nur zwei, drei Verlage gemeint: Nein, tatsächlich haben alle mehr oder weniger wichtigen Verlage das Buch im Programm. Angefangen bei Suhrkamp, Fischer, Rowohlt und dem dtv, bis hin zu Manesse, Anaconda (beide Teil der Random House Verlagsgruppe) und Reclam. Und jeder trumpft mit einer eigenen Übersetzung auf. Fans haben also seit Ende Januar die Wahl, ob sie 1984 lieber auf Frank Heibert, Eike Schönfeld oder Simone Fischer lesen wollen. Aber welche Übersetzung empfiehlt sich denn? Und macht es wirklich einen Unterschied, ob ich die Übersetzung von Gisbert Haefs, Karsten Singelmann oder Jan Strümpel lese?
Um zu verstehen, warum diese Übersetzungen so geworden sind, wie sie sind, müssen wir einen kurzen Exkurs ins Original vornehmen. Beim erstmaligen Lesen kann man schnell übersehen, welche Rolle Sprache hier spielt, weil der Plot sich in den Vordergrund drängt. Doch mit jeder Lektüre des Romans wird deutlich, dass die Sprache trotz der technischen und gewaltsamen Methoden wohl das effizienteste Mittel der Partei ist, um ihre Mitglieder fügsam zu machen. Schon 1946 hielt Orwell in einem Essay über „Politik und die englische Sprache“ fest:„Sofern Gedanken Sprache manipulieren, kann Sprache auch Gedanken manipulieren“ („If thought corrupts language, language can also corrupt thought“).
In 1984 setzte Orwell diese Erkenntnis radikal um und erfand „Newspeak“ (in der Regel als „Neusprech“ übersetzt), die fiktive Sprache der Partei, für die es am Ende des Romans eine kurze Erklärung gibt. Viele Begriffe aus Neusprech sind längst Teil der englischen Sprache geworden, angefangen bei „Big Brother“ („großer Bruder“), Namensgeber einer fragwürdigen Fernsehshow, bis hin zu Wörtern wie „Doublethink“ („Doppelsprech“) oder „Thoughtcrime“ („Gedankenverbrechen“). In Orwells Welt eliminiert die Partei nicht nur Begriffe aus dem alltäglichen Sprachgebrauch, sondern vereinfacht auch grammatikalische Strukturen und entschlackt Begriffe von wenig wünschenswerten Bedeutungen. Den Parteimitgliedern soll Neusprech „ein passendes Ausdrucksmedium für ihre Weltanschauung“ bieten und gleichzeitig „alle anderen Denkweisen unmöglich machen“. „Thoughtcrimes“ – Gedanken, die nicht im Sinne der Partei sind (Unzucht, Ehebruch, Homosexualität zum Beispiel) – sollen gänzlich verhindert werden, indem das entsprechende Vokabular für solch „abwegige“ Gedanken gar nicht mehr zur Verfügung steht:
Das Wort frei existierte auf Neusprech immer noch, konnte aber nur noch verwendet werden in Aussagen wie „Dieser Hund ist frei von Läusen“ oder „Dieses Feld ist frei von Unkraut“. Es konnte nicht mehr in seinem alten Sinn „politisch frei“ oder „intellektuell frei“ benutzt werden, da politische und intellektuelle Freiheit nicht einmal mehr als Begriffe existierten und daher zwangsläufig unbenannt waren.
[Übersetzung: Gisbert Haefs, Manesse]
Die Neustrukturierung der englischen Sprache ist in 1984 ein Großprojekt, das innerhalb der Romanwelt 2050 vollständig abgeschlossen werden soll. Winston Smith spricht noch kein „Neusprech“, kennt aber die Begriffe und Slogans. Zudem arbeiten im Roman ganze Abteilungen daran, Literatur wie auch Nachrichtenartikel, beispielsweise aus der Times, zu überarbeiten und an Neusprech anzupassen. Die Partei lässt also die wichtigsten Texte ins Neusprech übersetzen. Als Kontrast zu Neusprech ist die restliche Prosa in Orwells Original sehr schlicht gehalten – mit Absicht. Denn Orwell war überzeugt, dass das zu seiner Zeit geschriebene Englisch „voller schlechter Angewohnheiten“ („full of bad habits“) sei. Er schimpfte über die „mangelnde Präzision“ („lack of precision“) und „prätentiöse Ausdrucksweise“ („pretentious diction“), und resümierte: „Die moderne Prosa wird immer unkonkreter“ („The whole tendency of modern prose is away from concreteness“). Orwell schreibt diesen Tendenzen entgegen: Seine Prosa ist schlicht und schnörkellos, fast schon unspektakulär. Ein gelungener Kontrast zum brisanten Inhalt, aber eben auch keine besondere Sprachakrobatik.
Die Neu-Übersetzerinnen und Übersetzer sind im Fall von „Neusprech“ stellenweise zu unterschiedlichen Übertragungen gekommen, wirklich gravierende Unterschiede lassen sich allerdings nicht finden. Viele Neusprechwörter werden einfach wortwörtlich übersetzt: „Big Brother“ als „Großer Bruder“, „Doublethink“ als „Doppeldenk“ (mit Ausnahme von Simone Fischer, die sich an Kurt Wagenseils alter Übersetzung „Zwiedenken“ orientiert), „thinkpol“ als “Gedankenpolizei“ (Frank Heibert weicht hier mit „Denkpol“ ab) oder „goodthink“ als „Gutdenk“. Die Vorarbeit hatten hier natürlich schon Kurt Wagenseil und Michael Walter geleistet. Bei Wagenseil hieß „Newspeak“ noch „Neusprache“, das Michael Walter in „Neusprech“ verwandelte. Ebenso machte Walter aus „Zwiedenken“ das Wort „Doppeldenk“ und befreite 1984 von einigen anderen veralteten Begriffen (bei Wagenseil führt Smith nicht Tagebuch, sondern ein „Diarium”). In den Neuübersetzungen erfindet niemand „Neusprech“ komplett neu oder ist auch nur versucht, der Sprache eine individuelle Note zu verpassen. Grund dafür ist sicher, dass das Neusprech eben nicht nur das englische Vokabular infiltriert hat, sondern auch das deutsche (obgleich in geringerem Maße): Zu „Big Brother“ wird auch hierzulande einigen etwas einfallen. Zudem war 1984 nach Erscheinen auch in Deutschland ein Bestseller, sodass ganze Generationen von den Ullstein-Übersetzungen geprägt wurden.
Aber werfen wir mal einen vergleichenden Blick auf die Übersetzungen und schauen uns die Eingangsszene genauer an:
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It was a bright cold day in April, and the clocks were striking thirteen. Winston Smith, his chin nuzzled into his breast in an effort to escape the vile wind, slipped quickly through the glass doors of Victory Mansions, though not quickly enough to prevent a swirl of gritty dust from entering along with him. The hallway smelt of boiled cabbage and old rag mats. At one end of it a coloured poster, too large for indoor display, had been tacked to the wall. It depicted simply an enormous face, more than a metre wide: the face of a man of about forty-five, with a heavy black moustache and ruggedly handsome features. Winston made for the stairs. It was no use trying the lift. Even at the best of times it was seldom working, and at present the electric current was cut off during daylight hours. It was part of the economy drive in preparation for Hate Week. The flat was seven flights up, and Winston, who was thirty-nine and had a varicose ulcer above his right ankle, went slowly, resting several times on the way. On each landing, opposite the lift-shaft, the poster with the enormous face gazed from the wall. It was one of those pictures which are so contrived that the eyes follow you about when you move. BIG BROTHER IS WATCHING YOU, the caption beneath it ran.
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Es war ein strahlend-kalter Apriltag, und die Uhren schlugen dreizehn. Winston Smith, das Kinn an die Brust gezogen, um dem scheußlichen Wind zu entgehen, schlüpfte rasch durch die Glastüren der Victory Mietskaserne, doch nicht rasch genug, um zu verhindern, daß mit ihm auch ein grießiger Staubwirbel hereinwehte. Der Flur roch nach Kohlsuppe und Flickenteppichen. An einem Ende hatte man ein Farbplakat an die Wand gepinnt, das für drinnen eigentlich zu groß war. Es zeigte nichts weiter als ein riesiges, über einen Meter breites Gesicht: das Gesicht eines etwa fünfundvierzigjährigen Mannes mit wuchtigem schwarzem Schnurrbart und kernigansprechenden Zügen. Winston steuerte auf die Treppe zu. Es mit dem Lift zu probieren war zwecklos. Selbst zu günstigen Zeiten funktionierte er selten, und momentan wurde der Strom tagsüber abgestellt. Dies war Teil der Sparsamkeitskampagne zur Vorbereitung der Haßwoche. Die Wohnung lag im siebenten Stock, und Winston, der neununddreißig war und über dem rechten Fußknöchel ein Krampfadergeschwür hatte, ging langsam und verschnaufte unterwegs mehrmals. Auf jedem Treppenabsatz starrte dem Liftschacht gegenüber das Plakat mit dem riesigen Gesicht von der Wand. Es war eines jener Bilder, die einem mit dem Blick überallhin zu folgen scheinen. DER GROSSE BRUDER SIEHT DICH, lautete die Textzeile darunter.
[Übersetzung: Michael Walter, Ullstein]
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Es war ein strahlend kalter Tag im April, und die Uhren schlugen dreizehn. Winston Smith, sein Kinn an die Brust gedrückt, um dem scheußlichen Wind zu entkommen, schlüpfte schnell durch die Glastüren des Victory-Wohnblocks, wenn auch nicht schnell genug, um zu verhindern, dass ein sandiger Staubwirbel mit ihm hereinkam. Der Flur roch nach gekochtem Kohl und alten Flickenteppichen. An einem Ende war ein farbiges Plakat an die Wand geheftet worden, das für drinnen eigentlich zu groß war. Es zeigte lediglich ein riesiges, mehr als einen Meter breites Gesicht: das Gesicht eines Mannes von etwa fünfundvierzig Jahren, mit einem kräftigen schwarzen Schnurrbart und kernigen, jedoch gut aussehenden Gesichtszügen. Winston ging zur Treppe. Es war zwecklos, es mit dem Aufzug zu versuchen. Selbst zu den besten Zeiten funktionierte er nur selten, und gegenwärtig war der Strom tagsüber abgestellt. Dies war Teil der Sparmaßnahmen in Vorbereitung auf die Hasswoche. Die Wohnung lag im siebten Stock, und Winston, der neununddreißig Jahre alt war und ein Krampfadergeschwür über dem rechten Knöchel hatte, ging langsam und ruhte sich unterwegs mehrmals aus. der Wand gegenüber dem Liftschacht das Plakat mit dem riesigen Gesicht an. Es war eines dieser Bilder, die so entworfen sind, dass die Augen einem bei jeder Bewegung folgen. DER GROSSE BRUDER SIEHT DICH lautete die Beschriftung darunter.
[Übersetzung: Simone Fischer, Nikol]
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Es war ein klarer, kalter Tag im April, und die Uhren schlugen dreizehn. Winston Smith drückte das Kinn auf die Brust, um dem beißenden Wind zu entgehen, und schlüpfte schnell durch die Glastüren der Victory Mansions, aber nicht schnell genug, um zu verhindern, dass ein Wirbel grobkörnigen Staubs mit ihm hineingelangte. Im Hausflur roch es nach gekochtem Kohl und alten Fußmatten. An einem Ende hatte man ein buntes Plakat, für Innenräume eigentlich zu groß, an die Wand geheftet. Es zeigte nichts als ein riesiges Gesicht, über einen Meter breit: das Gesicht eines etwa fünfundvierzigjährigen Mannes mit dichtem schwarzem Schnurrbart und markigen, ansehnlichen Zügen. Winston ging zur Treppe. Es mit dem Aufzug zu versuchen war sinnlos. Selbst zu den besten Zeiten funktionierte er selten, und im Moment war der Strom tagsüber abgeschaltet. Das gehörte zu den Sparmaßnahmen in Vorbereitung der Hass-Woche. Die Wohnung lag im siebten Stock, und Winston, neununddreißig Jahre alt und mit einem Krampfadergeschwür über dem rechten Knöchel, ging langsam hinauf und legte mehrere Pausen ein. Auf jedem Absatz starrte gegenüber vom Aufzugsschacht das Plakat mit dem riesigen Gesicht von der Wand. Es war eines jener Bilder, die so angelegt sind, dass einem die Augen bei jeder Bewegung folgen. DER GROSSE BRUDER BEOBACHTET DICH, stand darunter.
[Übersetzung: Gisbert Haefs, Manesse]
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Es war ein klarer, kalter Tag im April, und die Uhren schlugen dreizehn. Winston Smith hatte das Kinn an die Brust gedrückt, um dem hässlichen Wind zu entgehen, und schlüpfte rasch durch die Glastüren des Victory-Wohnblocks, aber nicht rasch genug, um zu verhindern, dass ein Wirbel körnigen Staubs mit hereinwehte. Im Hausflur roch es nach gekochtem Kohl und alten Fußmatten. An einem Ende des Flurs hatte man ein farbiges Plakat an die Wand geheftet, das für innen eigentlich zu groß war. Darauf war nichts weiter als ein riesiges, mehr als einen Meter breites Gesicht zu sehen: das Gesicht eines Mannes von etwa fünfundvierzig Jahren mit dichtem schwarzem Schnurrbart und ansprechenden, wenn auch schroffen Zügen. Winston steuerte auf die Treppe zu. Es war zwecklos, es mit dem Aufzug zu versuchen. Selbst in seinen besten Zeiten funktionierte er oft nicht, und im Moment wurde der Strom während des Tages abgestellt Das gehörte zu dem Sparprogramm, das der Hasswoche vorausging. Die Wohnung lag im siebten Stock, und Winston, der neununddreißig war und über dem rechten Sprunggelenk ein Krampfadergeschwür hatte, ging langsam und musste auf dem Weg mehrmals verschnaufen. Auf jedem Treppenabsatz, an der Wand gegenüber vom Aufzugschacht, starrte einen das Plakat mit dem riesigen Gesicht an. Es war eines jener Bilder, die so gestaltet sind,dass die Augen einem überall hin zu folgen scheinen. DER GROSSE BRUDER SIEHT DICH, stand in der Textzeile darunter.
[Übersetzung: Holger Hanowell, Reclam]
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Es ist ein strahlendkalter Apriltag, und gerade schlägt’s dreizehn. Winston Smith schlüpft, das Kinn auf die Brust gedrückt, um dem fiesen Wind zu entgehen, rasch durch die Glastür in die Victory Mansions, aber nicht schnell genug, um den hereinwirbelnden körnigen Staub draußen zu halten. Im Flur riecht es nach gekochtem Kohl und alten Fußabtretern. Am einen Ende ist ein Farbplakat an die Wand getackert. Zu groß für Innenräume. Es zeigt ein riesiges Gesicht, über einen Meter breit, sonst nichts: ein Mann um die fünfundvierzig, kantig-attraktiv mit vollem schwarzem Schnurrbart. Winston geht zur Treppe. Zwecklos, es mit dem Fahrstuhl zu probieren. Auch an guten Tagen funktioniert er meist nicht, und derzeit gibt es nur bei Dunkelheit Strom. Das gehört zum Sparkurs, zur Vorbereitung auf Eine Woche Hass. Seine Wohnung liegt im 6. Stock, und da er neununddreißig ist und über dem rechten Knöchel ein Krampfadergeschwür hat, geht er es langsam an und macht unterwegs mehrmals Pause. Auf jedem Treppenabsatz starrt gegenüber vom Fahrstuhlschacht das Plakat mit dem riesigen Gesicht von der Wand. Es ist eines von den Bildern, die so raffiniert gemacht sind, dass einem der Blick überallhin folgt, wenn man sich bewegt. Darunter steht DER GROSSE BRUDER SIEHT DICH.
[Übersetzung: Frank Heibert, Fischer]
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Es war ein heller, kalter Apriltag, und die Uhren schlugen dreizehn. Winston Smith, das Kinn an die Brust gedrückt, um dem scheußlichen Wind zu entrinnen, schlüpfte rasch durch die Glastüren der Victory Mansions, wenn auch nicht rasch genug, um zu verhindern, dass ein sandiger Staubwirbel mit ihm hineingelangte. Im Flur roch es nach gekochtem Kohl und alten Lumpenmatten. An einem Ende war ein farbiges Plakat, für drinnen eigentlich zu groß, an die Wand geheftet. Es zeigte lediglich ein riesiges, über einen Meter breites Gesicht: das eines Mannes von ungefähr fünfundvierzig mit dickem, schwarzem Schnauzbart und groben, aber stattlichen Zügen. Winston ging zur Treppe. Sinnlos, es mit dem Aufzug zu versuchen. Selbst zu normalen Zeiten fuhr er nur selten, und zurzeit war der Strom tagsüber abgeschaltet. Das war Teil der Sparkampagne zur Vorbereitung auf die Hasswoche. Die Wohnung lag im siebten Stock, und Winston, der neununddreißig war und überm rechten Knöchel ein offenes Bein hatte, ging langsam und blieb sogar mehrmals stehen. Auf jedem Treppenabsatz, gegenüber dem Aufzugschacht, starrte das riesige Gesicht von dem Plakat an der Wand. Es war eines jener Bilder, die so gestaltet sind, dass einem die Augen überallhin folgten. DER GROSSE BRUDER HAT DICH IM BLICK stand darunter.
[Übersetzung: Eike Schönfeld, Suhrkamp]
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Es war ein kalter, klarer Apriltag, die Uhren schlugen dreizehn. Das Kinn zum Schutz vor dem ekligen Wind an die Brust gedrückt, schlüpfte Winston Smith schnell durch die Glastüren des Wohngebäudes «Victory Mansions», doch nicht schnell genug, um zu verhindern, dass Schwaden von körnigem Staub mit ihm ins Innere fegten. Im Flur roch es nach gekochtem Kohl und alten Teppichläufern. Ein farbiges Plakat, eigentlich viel zu groß für Innenräume, war mit Reißzwecken an der Wand befestigt. Es zeigte nichts weiter als ein riesiges Gesicht, über einen Meter breit: die kernigen, attraktiven Züge eines Mannes von etwa fünfundvierzig, mit einem mächtigen, schwarzen Schnurrbart. Winston steuerte auf die Treppe zu. Den Fahrstuhl zu nehmen war zwecklos. Selbst in besten Zeiten funktionierte er nur selten, und momentan war tagsüber sowieso der Strom abgestellt. Diese Maßnahme lief unter dem Motto Sparsamkeit, zur Vorbereitung auf die anstehende Hasswoche. Seine Wohnung lag im siebten Stock, und Winston, der neununddreißig war und ein Krampfadergeschwür über dem rechten Knöchel hatte, nahm sich Zeit für den Aufstieg, gönnte sich zwischendurch mehrere Ruhepausen. Auf jedem Treppenabsatz, an der Wand gegenüber dem Fahrstuhlschacht, blickte ihm das Plakat mit dem riesigen Gesicht entgegen. Es war eine von diesen Abbildungen, deren Augen einem überallhin zu folgen scheinen. BIG BROTHER IS WATCHING YOU verkündete die Bildunterschrift.
[Übersetzung: Karsten Singelmann, Rowohlt]
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Es war ein klarer, kalter Apriltag, die Uhren schlugen dreizehn. Winston Smith hielt das Kinn auf die Brust gedrückt zum Schutz vor dem strengen Wind, als er rasch durch die Glastür des Victory-Wohnblocks trat, wenn auch nicht rasch genug, um einen Schwall Staub davon abhalten zu können, mit hineinzuwirbeln. Im Flur roch es nach gekochtem Kohl und alten Lumpen. Ganz hinten an der Wand war ein farbiges Plakat befestigt, das für innen eigentlich zu groß war. Es zeigte nichts als ein riesiges Gesicht, mehr als einen Meter breit: das Gesicht eines etwa 45-jährigen Mannes mit großem schwarzem Schnurrbart und markant-attraktiven Zügen. Winston ging Richtung Treppe. Mit dem Aufzug brauchte man nicht zu rechnen. Selbst in den günstigsten Momenten funktionierte er nur selten, und derzeit wurde der Strom abgestellt, solange es hell war. Das gehörte zu den Sparmaßnahmen im Vorfeld der Hasswoche. Die Wohnung befand sich in der siebten Etage; Winston, der 39 Jahre alt war und oberhalb des rechten Fußknöchels ein Geschwür hatte, ging langsam und machte unterwegs mehrmals Pause. Auf jedem Treppenabsatz starrte ihn von der Wand gegenüber dem Aufzug das Plakat mit dem riesigen Gesicht an. Es war in der Art gestaltet, dass die Augen dir überall hin folgten. Darunter stand: DER GROSSE BRUDER WACHT ÜBER DICH.
[Übersetzung: Jan Strümpel, Anaconda]
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Es war ein heller, kalter Apriltag. Die Uhren schlugen dreizehnmal. Winston Smith drückte sein Kinn auf die Brust, um dem scheußlichen Wind zu entgehen. Eilig schlüpfte er durch die Glastür der Victory-Mansions, aber nicht schnell genug, um zu verhindern, dass eine rußige Staubwolke mit ihm hereinwirbelte. Im Hausflur roch es nach gekochtem Kohl und alten Fußabtretern. Am anderen Ende hing ein farbiges Plakat an der Wand, das eigentlich zu groß für einen Innenraum war. Es zeigte ein massiges, über einen Meter breites Gesicht: das Gesicht eines Mannes von ungefähr fünfundvierzig mit einem schwarzen Schnauzbart und angenehm kräftigen Zügen. Winston steuerte auf die Treppe zu. Es mit dem Lift zu versuchen, war sinnlos. Auch in den besten Zeiten funktionierte er selten, und gegenwärtig wurde in den Tageslichtstunden der Strom abgestellt. Das war Teil der Sparmaßnahmen im Vorfeld der HassWoche. Die Wohnung war oben im siebten Stock, und Winston, der mit neununddreißig schon Krampfadern am rechten Knöchel hatte, stieg langsam hinauf und ruhte sich unterwegs mehrmals aus. Auf jedem Treppenabsatz starrte gegenüber dem Aufzugschacht das Plakat mit dem überdimensionalen Gesicht von der Wand. Es war eins dieser Bilder, die so angelegt sind, dass einen die Augen überallhin zu verfolgen scheinen. Die Bildunterschrift lautete: BIG BROTHER IS WATCHING YOU.
[Übersetzung: Lutz‑W. Wolff, dtv]
Zwei Neusprech-Wörter fallen hier auf. Es gibt die „Hate Week“, die überall fast gleich, nur in anderen Schreibweisen, übersetzt wird und zeigt, wie ähnlich sich diese Übersetzungen sind. Dann findet sich noch der berüchtigte „Big Brother“ mit dem Spruch „Big Brother is watching you“, der tatsächlich leicht unterschiedlich übersetzt wird. „Is watching“ ist eine Verlaufsform der Gegenwart, die suggeriert, dass jemand genau in dem Moment etwas tut. Sie lässt sich nicht eins zu eins ins Deutsche übertragen. Der Großteil bleibt beim schlichten „sieht dich“, das auch in der vorherigen Übersetzung von Michael Walter vorkam. Mit „Der grosse Bruder hat dich im Blick“ und „Der grosse Bruder wacht über dich“ haben sich Eike Schönfeld und Jan Strümpel in neues Terrain vorgewagt. Leider ist die erste Übersetzung zu lang, um wirklich einprägsam zu sein und die zweite schlicht zu nett klingend. Man könnte bei der Übersetzung „Der grosse Bruder wacht über dich“ denken, dass Big Brother wie ein beschützender großer Bruder über die Parteimitglieder wacht. Gisbert Haefs fängt mit „Der grosse Bruder beobachtet dich“ am ehesten die unheimlichen Untertöne des Originals ein. „Beobachten“ mag im ersten Moment zu wortwörtlich übersetzt klingen, hat aber genau wie das englische „to watch someone“ die Konnotation von Überwachung und Kontrolle, die „sieht dich“ nicht unbedingt suggeriert.
Karsten Singelmann und Lutz‑W. Wolff sind offenbar davon ausgegangen, dass „Big Brother is watching you“ schon längst im deutschen Sprachgebrauch angekommen sind und haben den Spruch gar nicht erst übersetzt. Grundsätzlich stellt sich in der Übersetzung von 1984 die Frage, wie viel Englisch man seiner Leserschaft insgesamt zutraut. Um den Spruch ansatzweise zu verstehen, braucht es keine besonders umfangreichen Englischkenntnisse. Trotzdem sollte eine Übersetzung aber im Sinne der Leserinnen und Leser sein, die eine Übersetzung aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse lesen. Daher sind die unübersetzten Stellen so gering wie möglich zu halten, was bei diesen Neuübersetzungen nicht immer der Fall ist. Lutz‑W. Wolff scheint beispielsweise die Mission gehabt zu haben, so wenig wie möglich zu übersetzen – mit insgesamt fatalem Effekt. Denn wer unübersetzte Stellen wie die folgende versteht, kann gleich das englische Original lesen und braucht nicht erst zu einer deutschen Übersetzung zu greifen:
They sye that time ’eals all things, They sye you can always forget; But the smiles an’ the tears across the years They twist my ’eart-strings yet!
[unübersetzte Stelle: Lutz‑W. Wolff, dtv]
Man sagt, dass die Zeit heilt alle Wunden, Das Vergessen tritt ein nach manchen Stunden. Doch auch nach Jahren fühl ich den Schmerz, Tief drinnen in meinem gebrochenen Herz.
[Übersetzung: Simone Fischer, Nikol]
Warum dies nicht einmal ansatzweise übersetzt wurde, hätte Wolff in seinem seitenlangen Nachwort selbst beantworten können, doch da kommt das Wort „Übersetzung“ noch nicht mal vor. Alle anderen Übersetzer halten den Anteil an unübersetzten Stellen gering, auch wenn sie immer mal wieder auftreten. (Der Spruch „Oranges and lemons, say the bells of St. Clement’s!“, der sich durch den gesamten Roman zieht, bleibt in vielen Übersetzungen ebenfalls auf Englisch stehen.) Im besten Fall können sie ignoriert werden, im schlimmsten Fall reißen sie die Leserinnen und Leser kurz aus der Romanwelt.
Auffallend ist bei dem direkten Vergleich noch etwas: Die Übersetzung von Frank Heibert sticht schon beim ersten Satz heraus: Denn bei ihm „schlägt’s gerade dreizehn“ und „Winston schlüpft“ just in diesem Augenblick aus dem Haus. Heibert hat den gesamten Roman ins Präsens gesetzt und ihm eine Unmittelbarkeit verschafft, von der die anderen Übersetzungen nur träumen können. Und noch eine Taktik wendet er an, die schon in den ersten Zeilen erkennbar ist. Er trennt den Einschub „zu groß für Innenräume“ vom restlichen Satz und lässt ihn Teil von Winstons interner Fokalisierung werden. Dies verleiht dem Ganzen nicht nur Schwung, sondern verstärkt auf geschickte Weise die Empathie mit Winston Smith, der für Leserinnen und Leser im 21. Jahrhundert eine problematischere Identifikationsfigur darstellt als noch vor fünfzig Jahren (man denke an seine Vergewaltigungsfantasien).
Frank Heibert hat zu unserer Freude ein höchst aufschlussreiches Nachwort hinterlassen (das man sich für all die anderen Ausgaben auch wünschen würde) und seine übersetzerische Mission eindeutig formuliert: Er möchte „den Ton, im Geiste Orwells, einem heutigen ‚normalen‘ literarischen Stil annähern“. Dafür setzt er den Roman nicht nur ins Präsens, sondern übersetzt beispielsweise das englische „you“ nicht zwangsläufig als „Sie“, sondern an bestimmten Stellen als „Du“ (siehe Zitat weiter unten). Heibert versteht es als seinen Auftrag, dass Original von seinen wenigen Altersflecken zu befreien und dafür zu sorgen, dass der Roman auch in den nächsten Jahren gelesen wird. Dass es im Sinne des Originals ist, der Übersetzung eine eigene Interpretation mitzugeben, ist für ihn selbstverständlich. Außer Frank Heibert scheint sich bei diesen Neuübersetzungen aber niemand sonst getraut zu haben, auch nur ansatzweise eine eigene Interpretation von 1984 zu liefern.
Wie zurückhaltend teilweise andere Übersetzer und Übersetzerinnen ins Deutsche übertragen, zeigt sich an folgendem Beispiel:
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‚Would you say from what you can remember, that life in 1925 was better than it is now, or worse? If you could choose, would you prefer to live then or now?‘ […]
‚I know what you expect me to say,‘ he said. ‚You expect me to say as I’d sooner be young again. Most people’d say they’d sooner be young, if you arst ‚em. You got your ‚ealth and strength when you’re young. When you get to my time of life you ain’t never well. I suffer something wicked from my feet, and my bladder’s jest terrible. Six and seven times a night it ‚as me out of bed. On the other ‚and, there’s great advantages in being a old man. You ain’t got the same worries. No truck with women, and that’s a great thing. I ain’t ‚ad a woman for near on thirty year, if you’d credit it. Nor wanted to, what’s more.‘
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„Wenn Sie sich jetzt zurückerinnern, würden Sie dann sagen, daß das Leben 1925 besser oder schlechter war als heute? Wenn Sie wählen könnten, möchten Sie dann lieber damals oder lieber heute leben?“ […]
„Ich weiß, was Sie jetzt von mir erwarten“, sagte er. „Sie wolln von mir hören, daß ich lieber wieder jung wär’. Die meisten Leute würden sagen, daß sie lieber wieder jung wärn, wenn man sie fragen tät. Wenn man jung is, is man kräftig un gesund. Wenn man in mein Alter kommt, is man nie so ganz auf’m Damm. Ich hab’s an den Füßen, un meine Blase is die reine Katastrophe. Sechs‑, siebenmal muß ich nachts raus. Andrerseits hat’s auch Riesenvorteile, ’n alter Mann zu sein. Man hat nich mehr die gleichen Maleschen. Man hat nichts mehr mit Frauen am Hut, und das is schon prima. Ich hab’ seit fast dreißig Jahrn keine Frau mehr gehabt, kaum zu glauben, was? War mir ganz einfach nich nach, das is das Tolle dran.“
[Übersetzung: Michael Walter, Ullstein]
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„Wenn Sie sich jetzt zurückerinnern, würden Sie sagen, dass das Leben im Jahr 1925 besser war als jetzt oder schlechter? Wenn Sie wählen könnten, würden Sie lieber damals oder heute leben?“ […]
„Ich weiß, wat Sie von mir erwarten“, sagte er. „Sie wolln von mir hörn, dat ich lieber wieder jung wär. Die meisten Leute würden sagen, dat se lieber wieder jung wärn, wenn man se fracht. Ma is gesund unn stark, wenn ma jung is. Wenn ma in mein Alter kommt, is dat alles net mehr so schön. Ich habbet an den Füßen, unn meine Blase macht, wat se will. Sechs‑, siebenmal die Nacht muss ich raus. Et hat aba auch so seine Vorteile, wenn man en alter Mann is. Ma hat nich mehr de selben Problemchen. Keinen Ärger mehr mit den Weibern, dat is schon wat. Ich hab seit bestimmt dreißich Jahrn keine Frau mehr gehabt, könn’ Se sich dat vorstellen? Unn dat beste is, ich wollt och kene mehr.“
[Übersetzung: Simone Fischer, Nikol]
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„Würden Sie nach allem, woran Sie sich erinnern, sagen, dass das Leben 1925 besser oder schlechter war als heute? Wenn Sie es sich aussuchen könnten, würden Sie lieber damals oder jetzt leben?“ […]
„Ich weiß, was Sie von mir hören wollen“, sagte er. „Sie erwarten, dass ich sage, ich wäre lieber wieder jung. Die meisten Leute würden, wenn Sie sie fragen, sagen, sie wären lieber wieder jung. Wenn man so alt wird wie ich, geht’s einem nie wirklich gut. Die Füße tun mir manchmal scheußlich weh, und mit meiner Blase ist es einfach nur furchtbar. Sechs oder siebenmal in der Nacht jagt sie mich aus dem Bett. Andererseits hat es auch große Vorzüge, ein alter Mann zu sein. Man hat nicht mehr denselben Ärger wie früher. Keinen Ärger mehr mit Frauen, das ist schon was. Ich hab seit fast dreißig Jahren keine Frau mehr gehabt, wenn Sie’s glauben können. Und auch keine mehr gewollt, was noch besser ist.“
[Übersetzung: Gisbert Haefs, Manesse]
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„Würden Sie aus der Erinnerung heraus sagen, dass das Leben 1925 besser war als heute oder schlechter? Wenn Sie sich entscheiden müssten, würden Sie dann lieber damals oder heute leben?“ […]
„Ich weiß, was Sie hörn wollen“, sagte er. „Sie wollen von mir hörn, dass ich lieber wieder jung wär. Die meisten Leute wolln lieber wieder jung sein, wenn man sie fragt. Man ist gesund und kräftig, wenn man jung is. Wenn Sie erstmal so alt wie ich sind, is immer irgendwas. Da is was im Argen mit meinen Füßen, und mit meiner Blase isses schlimm. Sechs oder sieben Mal muss ich nachts raus. Andererseits hat’s auch Vorteile, ’n alter Mann zu sein. Man hat nich mehr die alten Sorgen. Kein Ärger mit den Frauen, und das is ja schon was wert. Hab seit dreißig Jahren keine Frau mehr gehabt, wenn Sie’s genau wissen wollen. Wollt auch keine.“
[Übersetzung: Holger Hanowell, Reclam]
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„Was würden Sie sagen, nach Ihrer Erinnerung: War das Leben 1925 besser als heute oder schlechter? Wenn Sie wählen könnten, würden Sie lieber damals leben oder heute?“ […]
„Ich weiß, wat Sie erwarten“, sagt er. „Sie erwarten, dat ich lieber wieder n junger Mann wär. Dat saren ja die meisten Leute, wenn man se fracht. Als junger Mensch biste gesund und stark. Und wenn de in mein Alter komms, haste immer irngwelche Malessen. Ich hab wat Fieset anne Füße, mit der Blase is ganz schlimm, nachts muss ich sechs bis sieben Ma raus. Es hat aber auch Vorteile, n alter Mann zu sein. Viele Sorng hasse ga nich mehr. Kein Zirkus mit die Frauen, dat is prima. Ob Se’s glaum oder nich, ich hab praktisch dreißig Jahre nix mehr mit ner Frau gehabt. Nich ma Lust dazu.“
[Übersetzung: Frank Heibert, Fischer]
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„Würden Sie anhand Ihrer Erinnerungen sagen, dass das Leben 1925 besser als jetzt war oder schlechter? Wenn Sie es sich aussuchen könnten, wollten Sie lieber damals oder jetzt leben? […]
„Ich weiß, was Sie von mir erwarten“, sagte er. „Sie erwarten, dass ich sag, dass ich lieber wieder jung wär. Die meisten würden sagen, sie wären lieber wieder jung, wenn man sie frägt. Wenn man jung ist, hat man seine Gesundheit und seine Kraft. Wenn man mal meine Lebenszeit hat, geht’s einem nie gut. Meine Füße setzen mir schlimm zu, und meine Blase ist einfach furchtbar. Sechs‑, siebenmal die Nacht jagt sie mich ausm Bett. Andererseits hat man als alter Mann auch viele Vorteile. Man hat nicht mehr die gleichen Sorgen. Keine Last mit Frauen, und das ist was Tolles. Seit fast dreißig Jahren hab ich keine Frau mehr gehabt, ob Sie’s glauben oder nicht. Und hab’s auch nicht gewollt.“
[Übersetzung: Eike Schönfeld, Suhrkamp]
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„Würden Sie sagen, aus Ihrer Erinnerung heraus, dass das Leben 1925 besser war als heute oder schlechter? Wenn Sie wählen könnten, würden Sie lieber damals leben oder heute?“ […]
„Ich weiß, was du von mir hören willst“, sagte er. „Du willst hören, dass ich gern wieder jung wär. Die meisten Leute würden sagen, dass sie gern wieder jung wär’n, wenn man sie fragt. Wenn man jung ist, hat man seine Gesundheit, seine Kräfte. Wenn man in mein Alter kommt, da geht’s einem nie richtig gut. Ich hab’s ganz schlimm an den Füßen, und meine Blase is’ ne Katastrophe. Sechs- oder siebenmal muss ich jede Nacht raus. Auf der ander’n Seite hat’s große Vorteile, wenn man alt ist. Musst dir um so manches keinen Kopf mehr machen. Hast nichts mehr mit Frauen zu tun, und das ist schon mal gut. Seit bald dreißig Jahren hatt’ ich keine Frau mehr, glaubste? Wollt’ ich auch gar nich’.“
[Übersetzung: Karsten Singelmann, Rowohlt]
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„Würden Sie von Ihrer Erinnerung her sagen, dass das Leben im Jahr 1925 besser war, als es heute ist, oder war es schlechter? Wenn Sie die Wahl hätten, würden Sie wieder damals leben wollen oder lieber heute?“ […]
„Ich weiß, was Sie von mir hören wollen“, sagte er. „Sie wollen hören, dass ich lieber wieder jung wäre. Die meisten Leute würden auf diese Frage antworten, sie wären lieber wieder jung. Als junger Mensch bist du gesund und stark. Wenn du dann in mein Alter kommst, plagt dich ständig irgendwas. Meine Füße tun mir immer wieder schrecklich weh, und meine Blase ist der reinste Graus. Sie treibt mich jede Nacht sechs, sieben Mal aus dem Bett. Andererseits hat das Altsein auch viele große Vorzüge. Sorgen von früher sind vom Tisch. Du hast nicht mehr das ganze Theater mit den Frauen, und das ist herrlich. Seit fast dreißig Jahren war ich mit keiner Frau mehr zusammen, das können Sie mir glauben. Und, noch besser, ich hab auch nie eine gewollt.“
[Übersetzung: Jan Strümpel, Anaconda]
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„Sie sagen, dass – soweit Sie sich erinnern können – das Leben 1925 besser als heute war oder schlechter? Wenn Sie wählen könnten, würden Sie lieber damals oder heute leben?“ […]
„Ich weiß, was Sie jetzt hören wollen“, sagte er. „Sie erwarten, dass ich Ihnen sage, dass ich gern wieder jung wäre. Die meisten Leute sagen, dass sie lieber wieder jung wären, wenn man sie fragt. Man ist gesund und stark, wenn man jung ist. Wenn man erst so alt ist wie ich, ist man nie ganz gesund. Ich habe scheußlich mit meinen Füßen und mit meiner Blase zu kämpfen. Sechs- oder siebenmal muss ich nachts aus dem Bett. Auf der anderen Seite hat es auch große Vorteile, wenn man ein alter Mann ist. Man hat nicht mehr diese ständigen Sorgen. Kein Zoff mit Frauen, das ist schon mal großartig. Ob Sie’s glauben oder nicht: Ich hab seit dreißig Jahren keine Frau mehr gehabt. Und vor allem: Ich wollte auch keine.“
[Übersetzung: Lutz‑W. Wolff, dtv]
Der im Original so prägnante Londoner Akzent wird hier unterschiedlich ausgeprägt übersetzt. Während Lutz‑W. Wolff und Gisbert Haefs bewusst standardsprachlich übersetzen (oder es gar nicht erst probiert haben), fügen Michael Walter und Eike Schönfeld hier zumindest einen Hauch von Umgangssprachlichkeit hinzu. Dennoch ist die in Frank Heiberts und Simone Fischers Übersetzungen geschaffene urige Kneipenatmosphäre ungleich charmanter und witziger als alle anderen Übersetzungen zusammen. Man könnte argumentieren, dass in London nun niemand mit solch deutschen Akzenten daherkommt. Das mag stimmen, allerdings wird man dort auch auf den Straßen niemanden ohne Akzent antreffen. Und ist es nicht im Sinne des Originals, die verschiedenen sozialen Ebenen und Gefüge auch im Deutschen hervorzuheben? Soll ein alter Mann in einem altmodischen Pub etwa genauso sprechen wie ein tyrannischer Oberbefehlshaber der Partei? Wohl kaum. Mal ganz davon abgesehen, dass gelungene Registerwechsel einem Roman sehr viel interessanter machen.
Schauen wir uns noch ein drittes Beispiel an:
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A Party member lives from birth to death under the eye of the Thought Police. Even when he is alone he can never be sure that he is alone. Wherever he may be, asleep or awake, working or resting, in his bath or in bed, he can be inspected without warning and without knowing that he is being inspected. Nothing that he does is indifferent. His friendships, his relaxations, his behaviour towards his wife and children, the expression of his face when he is alone, the words he mutters in sleep, even the characteristic movements of his body, are all jealously scrutinized. Not only any actual misdemeanour, but any eccentricity, however small, any change of habits, any nervous mannerism that could possibly be the symptom of an inner struggle, is certain to be detected. He has no freedom of choice in any direction whatever.
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Ein Parteimitglied lebt von der Geburt bis zum Tod unter den Augen der Gedankenpolizei. Sogar wenn es allein ist, kann es nicht sicher sein, daß es wirklich allein ist. Wo es auch sein mag, ob es schläft oder wacht, arbeitet oder ausruht, im Bad oder im Bett liegt, es kann ohne Vorwarnung und ohne sein Wissen überwacht werden. Nichts, was es tut, ist gleichgültig. Seine Freundschaften, seine Zerstreuungen, sein Verhalten gegenüber Frau und Kindern, sein Gesichtsausdruck, wenn es allein ist, die Worte, die es im Schlaf murmelt, sogar seine typischen Körperbewegungen, alles wird mißtrauisch geprüft. Nicht nur jedes tatsächliche Vergehen, sondern jede noch so kleine Exzentrizität, jede Änderung der Gewohnheiten, jede nervöse Manieriertheit, die möglicherweise das Symptom eines inneren Kampfes sein könnte, wird unweigerlich entdeckt. Das Parteimitglied besitzt keinerlei Entscheidungsfreiheit.
[Übersetzung: Michael Walter, Ullstein]
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Ein Parteimitglied lebt von der Geburt bis zum Tod unter den Augen der Gedankenpolizei. Selbst wenn es allein ist, kann es nie sicher sein, dass es wirklich allein ist. Wo auch immer es sein mag, schlafend oder wach, arbeitend oder sich ausruhend, im Bad oder im Bett, es kann ohne Vorwarnung und ohne zu wissen, dass es beobachtet wird, überwacht werden. Nichts, was es tut, ist gleichgültig. Seine Freundschaften, seine Freizeitaktivitäten, sein Verhalten gegenüber seiner Frau und seinen Kindern, der Ausdruck seines Gesichts, wenn es allein ist, die Worte, die es im Schlaf murmelt, sogar die charakteristischen Bewegungen seines Körpers werden genauestens unter die Lupe genommen. Nicht nur jedes tatsächliche Vergehen, sondern jede noch so kleine Exzentrizität, jede Änderung der Gewohnheiten, jede nervöse Eigenart, die möglicherweise das Symptom eines inneren Kampfes sein könnte, wird mit garantierter Sicherheit aufgedeckt. Ein Parteimitglied hat in jeglicher Beziehung keinerlei Entscheidungsfreiheit.
[Übersetzung: Simone Fischer, Nikol]
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Ein Parteimitglied lebt von der Geburt bis zum Tod unter den Augen der Gedankenpolizei. Selbst wenn er allein ist, kann er sich nie sicher sein, dass er allein ist. Wo er auch sein mag, ob er schläft oder wacht, arbeitet oder ruht, im Bad oder im Bett, er kann ohne Vorwarnung überprüft werden, und ohne zu wissen, dass er gerade überprüft wird. Nichts, was er tut, ist gleichgültig. Seine Freundschaften, seine Freizeitgestaltung, sein Benehmen gegenüber Frau und Kindern, sein Gesichtsausdruck, wenn er allein ist, die Wörter, die er im Schlaf murmelt, selbst die charakteristischen Körperbewegungen werden alle sorgsam analysiert. Nicht nur jedes tatsächliche Vergehen, sondern jedes exzentrische Benehmen, wie geringfügig auch immer, jede Änderung in den Gewohnheiten, jeder nervöse Manierismus, der vielleicht Symptom eines inneren Kampfs sein könnte, wird unweigerlich entdeckt. Er hat keine Wahlfreiheit in welcher Richtung auch immer.
[Übersetzung: Gisbert Haefs, Manesse]
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Ein Parteimitglied lebt von seiner Geburt bis zum Tod unter den Augen der Gedankenpolizei. Selbst wenn es allein ist, kann es nie sicher sein, dass es auch wirklich allein ist. Wo auch immer es sein mag, schlafend oder wach, arbeitend oder ruhend, in seinem Badezimmer oder seinem Bett, kann es ohne Warnung überwacht werden, ohne dass es überhaupt ahnt, dass es überprüft wird. Nichts von dem, was es tut, ist unbedeutend. Seine Freundschaften, seine Freizeitaktivitäten, sein Verhalten der Ehefrau und den Kindern gegenüber, der Ausdruck auf seinem Gesicht, wenn es allein ist, die Worte, die es im Schlaf murmelt, selbst seine charakteristischen Bewegungen, all das wird peinlich genau unter die Lupe genommen. Nicht nur tatsächliches Fehlverhalten, sondern jede noch so kleine Verschrobenheit, jede Änderung im Verhalten, jede nervöse Eigenheit, die möglicherweise auf einen inneren Konflikt hinweist, wird unweigerlich entdeckt. Ein Parteimitglied hat keinerlei Entscheidungsfreiheit.
[Übersetzung: Holger Hanowell, Reclam]
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Wer Mitglied der Partei ist, lebt von der Geburt bis zum Tod unter der Kontrolle der Denkpol. Auch wenn er allein ist, kann er nie sicher sein, dass er allein ist. Wo immer er sich befindet, schlafend oder wach, bei der Arbeit oder in der Pause, im Bad oder im Bett, er kann ohne Vorwarnung inspiziert werden, auch ohne dass er es weiß. Nichts, was er tut, ist gleichgültig. Seine Freundschaften, seine Erholung, sein Verhalten Frau und Kindern gegenüber, sein Gesichtsausdruck, wenn er allein ist, was er im Schlaf murmelt, selbst die typischen Bewegungen seines Körpers sind sämtlich Gegenstand strengster Überprüfung. Und dieser entgeht nichts, sie bemerkt jegliches Fehlverhalten, jegliche noch so geringe Abweichung, jede Änderung der Gewohnheiten, jeglichen nervösen Tick, der auf innere Kämpfe hindeuten könnte. Es besteht keinerlei Entscheidungsfreiheit, egal in welcher Richtung.
[Übersetzung: Frank Heibert, Fischer]
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Ein Parteimitglied lebt von der Geburt bis zum Tod unter den Augen der Gedankenpolizei. Selbst wenn er allein ist, kann er sich nicht sicher sein, dass er es tatsächlich ist. Wo er auch sei, ob er schläft oder wach ist, arbeitet oder ruht, im Bad oder im Bett, kann er ohne Vorwarnung und ohne es zu wissen beobachtet werden. Nichts, was er tut, ist gleichgültig. Seine Freundschaften, seine Formen der Entspannung, sein Verhalten gegenüber Frau und Kindern, sein Gesichtsausdruck, wenn er allein ist, die Wörter, die er im Schlaf murmelt, selbst die typischen Bewegungen seines Körpers, alles wird argwöhnisch überwacht. Nicht nur jedes tatsächliche Vergehen, sondern auch jede Verschrobenheit, wie klein auch immer, jeder Wechsel der Gewohnheiten, jede nervöse Eigenheit, die möglicherweise das Symptom eines inneren Kampfes sein könnte, wird mit Sicherheit entdeckt. Er hat keinerlei Wahlfreiheit in jeder nur denkbaren Hinsicht.
[Übersetzung: Eike Schönfeld, Suhrkamp]
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Als Parteimitglied lebt man von der Geburt bis zum Tod unter der Aufsicht der Gedankenpolizei. Selbst wenn man allein ist, kann man sich nie sicher sein, dass man wirklich allein ist. Wo man sich auch befindet, ob schlafend oder wachend, ob bei der Arbeit oder in der Freizeit, ob im Bad oder im Bett, man kann jederzeit und ohne Vorwarnung kontrolliert werden, ohne zu wissen, dass man kontrolliert wird. Nichts von dem, was man tut, ist gleichgültig. Alle Freundschaften, alle Beziehungen, das Verhalten gegenüber Frau und Kindern, der Gesichtsausdruck, wenn man allein ist, die im Schlaf gemurmelten Worte, selbst charakteristische Körperbewegungen – alles wird sorgfältigst unter die Lupe genommen. Nicht nur jedes tatsächliche Fehlverhalten, auch jede Verschrobenheit, wie harmlos auch immer, jede Verhaltensänderung, jeder nervöse Tick, der ein Symptom innerer Konflikte sein könnte, wird mit Sicherheit entdeckt. Nicht nur jedes tatsächliche Fehlverhalten, auch jede Verschrobenheit, wie harmlos auch immer, jede Verhaltensänderung, jeder nervöse Tick, der ein Symptom innerer Konflikte sein könnte, wird mit Sicherheit entdeckt. Das Parteimitglied hat keine Wahlfreiheit, in welcher Beziehung auch immer.
[Übersetzung: Karsten Singelmann, Rowohlt]
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Ein Parteimitglied lebt von Geburt an bis zum Tod unter den wachsamen Augen der Gedankenpolizei. Selbst wenn er allein ist, kann er nie wissen, ob er wirklich allein ist. Wo er auch sein mag, ob er schläft oder wach ist, arbeitet oder ruht, sich im Bad oder im Bett befindet, er kann ohne Vorwarnung kontrolliert werden – und ohne zu wissen, dass man ihn kontrolliert. Nichts, was er tut, ist ohne Belang. Seine Freundschaften, seine Vergnügungen, sein Verhalten gegenüber Frau und Kindern, der Ausdruck seines Gesichts, wenn er allein ist, seine im Schlaf gemurmelten Worte, selbst die ihm eigene Art, sich zu bewegen, all dies wird mit Argusaugen untersucht. Nicht nur jedes tatsächliche Fehlverhalten, auch jede noch so kleine Verschrobenheit, jede Veränderung in den Gewohnheiten und jeder nervöse Tick, mögliche Anzeichen für einen inneren Kampf, wird mit Sicherheit entdeckt. Er hat keine Entscheidungsfreiheit, gleich worum es geht.
[Übersetzung: Jan Strümpel, Anaconda]
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Wer Mitglied der Partei ist, lebt vom ersten bis zum letzten Lebenstag unter den Augen der GedankenPolizei. Selbst, wenn er allein ist, kann er sich nie sicher sein, dass er wirklich allein ist. Ganz egal, wo er sich aufhält, am Tag und bei Nacht, bei der Arbeit oder im Schlaf, in der Badewanne oder im Bett, kann er ohne Vorwarnung kontrolliert werden, ohne dass er es weiß. Nichts, was er tut, ist irrelevant. Seine Freundschaften, seine Freizeitbeschäftigungen, sein Verhalten gegenüber Frau und Kindern; sein Gesichtsausdruck, wenn er allein ist; die Worte, die er im Schlaf vor sich hin murmelt; sogar seine typischen Körperbewegungen werden eifersüchtig beobachtet. Nicht nur konkretes Fehlverhalten, sondern jede noch so kleine Eigenheit, jede Veränderung der Gewohnheiten, jeder nervöse Tick, der auf innere Kämpfe hindeuten könnte, wird unweigerlich entdeckt. Wer Mitglied in der Partei ist, hat keinerlei Entscheidungsfreiheit.
[Übersetzung: Lutz‑W. Wolff, dtv]
Gravierende Unterscheidungen finden sich in diesen Übersetzungen nicht. Man könnte sich an Kleinigkeiten festbeißen (Warum werden bei Wolff die Körperbewegungen „eifersüchtig“ beobachtet? Warum verwendet Simone Fischer „es“ für das Parteimitglied, das alleine stehend etwas seltsam klingt?), aber diese gebieten keine besonderen Einblicke noch sagen sie besonders viel über die Gesamtqualität der Übersetzungen aus. Tatsächlich weisen die Übersetzungen mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede auf: Allein der Satz „Nichts, was er tut, ist gleichgültig.“ findet sich fast wortgleich in allen Übersetzungen wieder. Gänzlich überraschend ist das natürlich nicht, die Übersetzer haben das Buch schließlich nicht von Grund auf neu geschrieben oder in eine Transkreation verwandelt (was tatsächlich interessant gewesen wäre). Und wie bereits geschildert, kommt Orwells Englisch ohne jenen Firlefanz daher, der mehr Kreativität von den Übersetzerinnen und Übersetzern gefordert hätte. Trotzdem ist die Gleichförmigkeit dieser Übersetzungen, die größtenteils keine offensichtlichen übersetzerischen Ambitionen aufzeigen, ein Problem.
Im direkten Vergleich ist Michael Walters Übersetzung von 1984 nämlich erstaunlich gut gealtert. Wüsste man nicht, wann die Übersetzung erschienen ist, würde sie in dieser Aufreihung nicht groß und schon gar nicht negativ auffallen. Das spricht für Walters Übersetzung, lässt aber die Frage aufkommen: Warum das Buch überhaupt neu übersetzen? Aus verlegerischer Sicht ist die Antwort eindeutig: Man rechnet offenbar felsenfest mit kommerziellem Erfolg, der die Übersetzungskosten wieder reinholt. Nur so lässt sich erklären, warum so viele Verlage das Buch im Programm haben.
Die meisten dieser Übersetzungen sind solide und lesbare Übertragungen ins Deutsche. Sie unterscheiden sich nicht gravierend: Ja, der eine Übersetzer mag ein Bild eleganter übertragen, ein anderer findet eine adäquatere Bedeutung. Manche basteln lange Sätze und verleihen Dringlichkeit, andere neigen eher zur Kürze. Signifikante Abweichungen, die über Kleinigkeiten hinausgehen, oder gar ein übersetzerisches Programm lassen sich (außer bei Frank Heibert) nicht feststellen. Tatsächlich lesen sich diese Übersetzungen über weite Teile hinweg wie gut gekochter Einheitsbrei. Die Neuübersetzung von 1984 wird sicherlich für so einige Übersetzer nicht mehr als eine bloße Pflichtkür gewesen sein, die ihnen vom Verlag auferlegt wurde.
Sture Fleißarbeit ist aber nicht unbedingt im Sinne des Originals. Denn ihren Leserinnen und Lesern dürften diese Übersetzungen wenig neue Impulse geben, da sie wenig Überraschungen bereithalten und neue Lesarten vermissen lassen. Wie kann ein Buch die Zeit überdauern, wenn es nicht von jeder Generation neu entdeckt und auch tatsächlich neu interpretiert wird? Und sollte man gerade bei Klassikern nicht den Anspruch stellen, mit jeder Übersetzung auch neue Interpretationen aufzuzeigen? Offensichtlich spielten diese Überlegungen bei einem Großteil dieser Neuübersetzungen kaum eine Rolle.
Zudem muss man im Fall von Orwells 1984 hinterfragen, wer hier eigentlich übersetzen durfte. Unlängst haben die Debatten über Diversität mal wieder die Buchbranche erreicht – mit Erfolg könnte man meinen: es gäbe jetzt mehr Vielfalt in den Verlagsprogrammen, hieß es neulich erst im Deutschlandfunk. Gänzlich angekommen scheint das aber nicht zu sein, wirft man einen Blick auf diejenigen, die Orwells Meisterwerk übersetzen durften: Von den acht Neuübersetzungen stammen sieben von Männern und nur eine von einer Frau. Gemessen daran, dass statistisch gesehen deutlich mehr Frauen als Männer als Literaturübersetzer arbeiten, ist das ein besorgniserregender Schnitt. Und es kann wohl niemand behaupten, dass es zu wenig qualifizierte und bekannte Übersetzerinnen aus dem Englischen gibt.
Hinzu kommt, dass sich anscheinend niemand unter vierzig Jahren für diese Neuübersetzung finden ließ. Simone Fischer, Jahrgang 1971, ist hier nicht nur die einzige Frau, sondern auch die jüngste. Dass Eike Schönfeld, Frank Heibert oder Gisbert Haefs gute Übersetzer sind, die seit Jahrzehnten englischsprachige Klassiker ins Deutsche bringen, will niemand abstreiten. Aber die Frage, ob hier nicht interessantere und inspiriertere Übersetzungen, ja sogar gänzlich neue Lesarten von 1984 entstanden wären, wenn man auch bei der Wahl der Übersetzenden auf Vielfalt geachtet hätte, muss dringend gestellt werden. Schließlich arbeiten Übersetzer nicht jenseits von Zeit und Raum, sondern lassen – trotz allen mühevollen Bestrebungen um unerreichbare „Objektivität“ – ihr Wissen, ihre Kultur und ihre ganz eigene Herangehensweise an den Text in die Übersetzung miteinfließen. Wäre dem nicht so, bräuchte es keine Neuübersetzungen.
Welche Neuübersetzung von George Orwells 1984 soll man nun lesen? Die Antwort lautet: Es macht in diesem Fall keinen signifikanten Unterschied. Lesen Sie das Buch einfach (sofern Sie das nicht ohnehin schon getan haben). Wer Michael Walter schon im Regal stehen hat, lässt ihn am besten dort stehen und liest die Ausgabe noch mal. Wer Lust hat, eine Neuausgabe zu kaufen oder gar zu verschenken, wählt am besten nach dem Cover (oder dem Verlag) aus – man hat die Qual der Wahl. Wer im drögen Lockdown-Alltag jedoch Lust auf ein bisschen mehr übersetzerische Action verspürt, sollte zu Frank Heiberts Übersetzung greifen.
Ullstein
1984 Übersetzung: Michael Walter Ullstein 1994
384 Seiten ⋅ 12 Euro
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