Wie haben Sie Urdu gelernt?
Als ich mich 1971 an der Humboldt-Universität in Berlin für ein Studium der Indologie einschrieb, wurde neben Sanskrit-Unterricht eine intensive Ausbildung in Hindi angeboten. Im zweiten Studienjahr begann dann ein Urdu-Kurs für Studierende mit Hindi-Vorkenntnissen. Da mich die ästhetisch sehr reizvolle, vom arabischen Alphabet abgeleitete Schrift des Urdu sofort faszinierte, wechselte ich vom Hindi- in den Urdu-Kurs und war schnell von der Eleganz der Sprache beeindruckt. Urdu, eine neuindoarische Sprache, hat ein bunt zusammengewürfeltes Vokabular – eine sprachliche Basis, die es mit dem Hindi teilt, daneben aber weitaus mehr persische und arabische Lehnwörter als das Hindi. Dieser Umstand erklärt sich dadurch, dass die Herausbildung der neuindoarischen Sprachen nach der Jahrtausendwende zeitlich mit der Etablierung muslimischer Dynastien von Nordindien bis in den Dekkhan und dem Vordringen des Islam in Südasien zusammenfiel. Das Persische mit seinen zahlreichen arabischen Lehnwörtern wurde zur dominierenden Sprache von Verwaltung und Gelehrsamkeit in weiten Teilen Indiens und persische Dichtung zum Modell für die klassische Urdu-Dichtung. Mit dem Islam verbreitete sich auch die religiöse arabische Terminologie. Bis heute bilden Persisch und Arabisch die Quellen für sprachliche Neubildungen im Urdu, während das Hindi dafür auf das Sanskrit zurückgreift. So erklären sich die Unterschiede in allen Bereichen der Terminologie, wohingegen in der Alltagssprache Hindi und Urdu nach wie vor gegenseitig verständlich sind.
Dem Hindi und Urdu gemeinsam sind die zahlreichen englischen Entlehnungen, die zum Teil als solche gar nicht mehr zu erkennen sind – so wurde z. B. aus report das Wort rapat, aus lantern wurde lalten und aus towel das Wort tauliya. Ein Wort wie taim ist aus dem Alltagsvokabular selbst von Menschen ohne jegliche Schulbildung nicht mehr hinwegzudenken. In den letzten Jahrzehnten hat daneben die Verwendung lautlich nicht so stark veränderter englischer Wörter rasant zugenommen. Insgesamt ergibt das eine klangvolle, überaus nuancenreiche Mischung, die besonders in der Lyrik große Wirkung entfaltet.
Wie sieht die indische bzw. pakistanische Literaturszene aus?
So vielfältig, dass man sie nicht in wenigen Worten zusammenfassen kann. Das Urdu entstand in der Nordhälfte des heutigen Indien, entwickelte aber bereits im 16.–17. Jahrhundert literarische Zentren auf dem Dekkhan, das heißt im Gebiet der heutigen Bundesstaaten Karnataka, Telengana und Andhra Pradesh. Im 19. Jahrhundert bildete sich dann aber auch Lahore im heutigen Pakistan als ein Zentrum der Urdu-Literatur heraus. Das Urdu war immer eine Sprache urbaner Zentren und ist deshalb als eine überregionale Sprache zu verstehen. Vom 19. bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war das Urdu eine der wichtigsten Verwaltungs- und Literatursprachen Nordindiens. Nach der Unabhängigkeit und der Teilung Britisch-Indiens 1947 ging die Bedeutung des Urdu als funktionaler Sprache in Indien stetig zurück, während es in Pakistan zur Nationalsprache erklärt wurde. Dort ist es zwar nur die Muttersprache einer Minderheit, aber dennoch die bedeutendste Literatursprache und wichtigste überregionale Umgangssprache. In Indien ist das Publikum für Urdu-Prosa stark zurückgegangen. Ungebrochener und seit einiger Zeit sogar wachsender Popularität erfreut sich allerdings die Urdu-Lyrik, da sie auch ohne Kenntnis der Schrift in der immer noch lebendigen oralen Tradition genossen werden kann. Urdu-Dichterlesungen können Massenveranstaltungen mit tausenden Zuhörern sein, und das seit einigen Jahren regelmäßig in Delhi stattfindende Urdu-Festival des Rekhta-Vereins zieht Zehntausende an, Tendenz steigend.
Sowohl in Indien als auch in Pakistan gibt es eine Fülle regionaler Sprachen und Literaturen, die leider außerhalb des Subkontinents weit weniger wahrgenommen werden als die englischsprachige Literatur, wie man an der Anzahl der Übersetzungen sehen kann. Englisch ist in beiden Ländern die Sprache der Eliten und der aufstrebenden Mittelklasse, deren Angehörige englischsprachige Schulen besuchen und teilweise sogar stolz darauf sind, keine einheimische Sprache zu beherrschen. Englischsprachige Literatur hat Zugang zum internationalen Markt und kann sich im Inland auf eine zahlungskräftigere Nachfrage verlassen.
Publikationen in den südasiatischen Sprachen erscheinen meist in geringeren Auflagen und werden vor allem in den literarischen Milieus rezipiert. Allerdings gibt es im Urdu genau wie im Hindi einen stabilen Markt für Unterhaltungsliteratur. In Pakistan sind vor allem die Digests von großer Bedeutung, die in hohen Auflagen produziert und in der Familie oder im Freundeskreis auch vorgelesen und weitergegeben werden, also wirklich ein Massenpublikum erreichen. Sie bedienen mit ihrer thematischen Spezialisierung – Thriller, Horrorgeschichten, religiöse Erbauungs- und Ratgeberliteratur sowie islamisch-historische Narrative – jeweils bestimmte Segmente des Marktes. Mehrere Digests sind speziell auf ein weibliches Publikum zugeschnitten. Sie enthalten neben Liebesgeschichten, zum Teil durchaus mit sozialkritischen Elementen, Artikel zu religiösen und Zeitfragen, Haushalts-und Gesundheitstipps und natürlich Gedichte.
Was sollte man unbedingt gelesen haben?
Da die Auswahl an Übersetzungen aus dem Urdu nicht sehr groß ist, nenne ich hier so gut wie alle Titel, die zur Zeit verfügbar sind, einige davon nur noch antiquarisch. Chronologisch beginnt man am besten mit dem Roman Die Kurtisane von Lakhnau von Mirza Muhammad Hadi Ruswa (1858–1931), wunderbar übersetzt von Ursula Rothen-Dubs (Manesse 1971). Darauf folgen die Erzählerin Ismat Chughtai (1915–1991) mit dem Auswahlband Das Brautkleid (2017) sowie der Autor Saadat Hasan Manto (1912–1955) mit den Prosatexten Schwarze Notizen (2006). An jüngerer Literatur empfehle ich den Bombay-Roman von Rahman Abbas (geb. 1972) Die Stadt, das Meer, die Liebe (2018), übersetzt von Almuth Degener. Wer sich einen Überblick über Urdu-Autoren und Texte aus vier Jahrhunderten verschaffen möchte, findet eine gute Auswahl in dem von Ursula Rothen-Dubs übersetzten und herausgegebenen Urdu-Lesebuch Allahs indischer Garten (Waldgut 1989).
Im Bereich der Lyrik gibt es einige Nachdichtungen formal strenger, bildreicher, klassischer Gedichte Mirza Asadullah Khan Ghalibs (1797–1869) von Annemarie Schimmel, die sehr frei mit den Texten umging, um eine gereimte deutsche Fassung zu erreichen: Woge der Rose, Woge des Weins (Arche 1971) sowie Texte des in Pakistan als Nationaldichter verehrten Muhammad Iqbal (1877–1938): Steppe im Staubkorn. Texte aus der Urdu-Dichtung Muhammad Iqbals, übersetzt von Johann Christoph Bürgel (Universitätsverlag Freiburg im Üechtland 1982). Als Beispiel für moderne Dichtung liegt in deutscher Übersetzung der Auswahlband Jan Muhammad Khan und andere Gedichte des Dichters Saqi Faruqi (1936–218) vor (Draupadi 2008).
Was ist noch nicht übersetzt?
Fast alles! Es gibt großartige Romane, die in ihrer literarischen Qualität etliche eher mediokre aus dem Englischen übersetzte Romane übertreffen und einen nicht von vornherein auch für ein westliches Publikum gedachten Zugriff auf südasiatische Realitäten bieten. Neben sozialkritischen realistischen Werken findet sich alles, was moderne postmoderne Literatur zu bieten hat: ein breites Spektrum experimenteller Literatur, magischer Realismus, Surrealismus, Symbolismus, Montagetechniken usw. Auch aus dem Bereich der anspruchsvollen Unterhaltungsliteratur wären noch zahlreiche Schätze zu heben, wenn sich denn unsere größeren Verlage auf das unternehmerische Risiko einließen und nicht erst auf einen kommerziellen Erfolg englischer Übersetzungen warteten.
Was sind die größten Schwierigkeiten beim Übersetzen aus dem Urdu? Wie gehen Sie damit um?
Das Hauptproblem ist der andere kulturelle Kontext. Viele Begriffe, Alltagsgegenstände, soziale und religiöse Praktiken usw. sind einem deutschen Lesepublikum unbekannt. Die Entscheidung, wieviel Fremdes ohne Erläuterung belassen werden kann, und wie eventuell notwendige Erklärungen eingebracht werden können, ohne die Literarizität des Textes zu beeinträchtigen, muss immer wieder neu getroffen werden und bleibt letztlich ein Kompromiss. Auch die Verwendung verschiedener Sprachen oder Dialekte im Originaltext geht in der deutschen Übersetzung teilweise verloren. Gegenwärtig arbeite ich an der Übersetzung eines pakistanischen Romans von 2008, der zahlreiche englische Ausdrücke enthält. Selbst wenn ich dies in der Übersetzung beibehalte, erzeugt es nicht unbedingt dieselbe, oft ironische, Wirkung wie im Original. Auch für die zahlreichen Wortspiele lassen sich nur schwer adäquate Entsprechungen finden, teilweise bleibt nur die Wahl, sie wegzulassen. Es geht also insgesamt nicht ohne Einbußen ab. Andererseits wäre es ein viel größerer Verlust, den Text einer deutschsprachigen Leserschaft völlig vorzuenthalten.
Am problematischsten sind Übersetzungen lyrischer Texte. Nicht nur der Rhythmus und der Klang gehen verloren, bei Übersetzungen klassischer Lyrik besteht auch die Gefahr, nach unserem heutigen Empfinden in die Nähe des Kitsches zu gelangen. Leichter zu übersetzen sind Gedichte in freien Rhythmen, die im 20. Jahrhundert ihren Aufschwung nahmen.
Was kann Urdu, was Deutsch nicht kann?
Eine Besonderheit des Urdu ist die bis ins Kleinste gehende und dennoch kurze und prägnante Ausdifferenzierung von Tätigkeiten durch bestimmte Verbkonstruktionen. In dieser Hinsicht ist die deutsche Sprache ärmer. Manches fällt in der Übersetzung unter den Tisch, manches kann mit anderen sprachlichen Mitteln wie Adverbien, Vorsilben oder Nebensätzen annähernd wiedergegeben werden. Da der Urdu-Wortschatz aus mehreren Quellen schöpfte, ist die Sprache auch sehr reich an Quasi-Synonymen, was eine feinere Nuancierung und einen abwechslungsreichen Stil ermöglicht. Andererseits sind Wortwiederholungen im Urdu nicht so verpönt wie im Deutschen, auch können beliebig viele Sätze hintereinander mit „und“ eingeleitet werden. In solchen Fällen sind dann Streichungen angebracht.
Der größte Unterschied zum Deutschen liegt aber sicher im Gebrauch von Lyrik. Die Urdu-Kultur verfügt noch über einen sehr lebendigen Umgang mit Dichtung vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Dichterlesungen sind sowohl im öffentlichen Raum als auch in privaten Zirkeln sehr beliebt, Verse werden auswendig gelernt und im Gespräch oder auch in offiziellen Reden zitiert. Im Internet findet sich eine überwältigende Fülle an Mitschnitten von Rezitationen und Gesangsdarbietungen von Urdu-Dichtung. Urdu-Gedichte, häufig vertont, waren und sind auch ein wichtiges Mittel des politischen Protestes, der Satire und der Agitation, so wie das in Deutschland nur in früherer Zeit in ähnlichem Maße der Fall war. Diese allgegenwärtige Präsenz lyrischer Sprache hat das Deutsche mittlerweile nicht mehr zu bieten.
Christina Oesterheld schloss 1975 ihren Magister in Indologie (mit Urdu als Erstsprache, Hindi und Sanskrit) an der Humboldt-Universität Berlin ab, wo sie 1986 in Urdu-Literatur promovierte. Von 1990 bis 2018 war sie Urdu-Lektorin an der Universität Heidelberg, mit den Forschungsschwerpunkten: Urdu-Prosa vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, muslimische Reformbewegungen des 19. Jahrhundert und literarische Gestaltung muslimischer Identitäten in Südasien. Sie übersetzt insbesondere Kurzgeschichten und Lyrik aus dem Urdu.